Medizinrecht

Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Nichtbeibringung eines ärztlichen Gutachtens, Epilepsie, Entschließungsermessen

Aktenzeichen  11 CS 21.2318

Datum:
17.11.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 36689
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 3, Abs. 5
StVG § 3 Abs. 1 S. 1
FeV § 11 Abs. 2, Abs. 8, 46 Abs. 1 S. 1
FeV Nr. 6.6 Anlage 4 zur

 

Leitsatz

Verfahrensgang

M 6 S 21.1539 2021-08-19 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragssteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 5.000,- EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung seiner am 19. Dezember 1989 bzw. 16. April 1991 erteilten Fahrerlaubnis der Klassen AM, A1 (79.03, 79.04), A (79.03, 79.04), B, BE, C1, C1E und L.
Mit Schreiben vom 18. März 2020 teilte die Stadt Neuburg an der Donau dem Landratsamt Neuburg-Schrobenhausen mit, dass der Antragsteller aufgrund seines ungeklärten gesundheitlichen Zustands bis zur abschließenden Klärung durch die Betriebsärztin ein Fahrverbot für alle städtischen Fahrzeuge erhalten habe.
Auf Anforderung legte der Antragsteller dem Landratsamt am 15. April 2020 ein ärztliches Attest seines Hausarztes Dr. Z. vom 3. April 2020 hervor, wonach er seit Jahren an einem zerebralen Anfallsleiden im Sinne einer Epilepsie leidet. Die Laborwerte sprächen dafür, dass der Antragsteller seine Medikation regelmäßig einnehme. Aus dem neurologischen Befund ergebe sich kein Hinweis auf ein akutes Ereignis. Das EEG sei gut gewesen. Aufgrund des Ereignisses Ende 2019 habe der Antragsteller ein Fahrverbot für ein halbes Jahr erhalten. Anschließend sei eine weitere Vorstellung beim Neurologen geplant. Nach dem beigefügten Arztbrief des Neurologen Dr. B. vom 2. April 2020 ist eine fokal beginnende, sekundäre generalisierende Epilepsie diagnostiziert. Der letzte Anfall habe sich am 20. Dezember 2019 ereignet. Unter der Prämisse, dass die Schwester die regelmäßige Medikamenteneinnahme und die richtige Dosierung sicherstellen könne, und unter der Annahme, dass eine unregelmäßige Medikamenteneinnahme den Anfall verursacht habe, sei eine Begrenzung der Fahrnichteignung auf sechs Monate möglich. Die Wiedervorstellung in ca. sechs Monaten mit Elektroenzephalogramm (EEG) sei obligatorisch zur Aufhebung des Fahrverbots.
Mit Schreiben vom 16. April 2020 forderte das Landratsamt den Antragsteller auf, bis 30. Juli 2020 ein ärztliches Gutachten einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung oder alternativ eines Facharztes mit verkehrsmedizinischer Qualifikation zu den Fragen beizubringen, ob er den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppen 1 und 2 vollständig gerecht werden könne, ob eine ausreichende Compliance, u.a. kein Beigebrauch anderer psychoaktiver Substanzen inklusive Alkohol und eine regelmäßig überwachte Medikamenteneinnahme, vorliege und ob Beschränkungen und/oder Auflagen sowie ob und ggf. in welchen Abständen Nachuntersuchungen erforderlich seien. Die Fahrerlaubnisbehörde habe hier zwischen den persönlichen Belangen des Antragstellers und dem öffentlichen Interesse der Verkehrssicherheit abzuwägen. Aufgrund der festgestellten, nach Nr. 6.6 der Anlage 4 zur FeV die Fahreignung beeinträchtigenden Epilepsie, mit der jeweils eine entsprechende Medikation einhergehe, verstärkten sich die Fahreignungszweifel so erheblich, dass das der Fahrerlaubnisbehörde in § 11 Abs. 2 FeV eingeräumte Ermessen auf Null reduziert sei.
Die mit Schreiben vom 16. Juni 2020 an die vom Antragsteller ausgewählte Begutachtungsstelle für Fahreignung übersandte Akte wurde am 6. August 2020 an das Landratsamt zurückgesandt, ohne dass der Antragsteller in der Folge ein Gutachten vorlegte. Mit Schreiben vom 30. Juli 2020 beantragte sein Bevollmächtigte eine Verlängerung der Beibringungsfrist um zwei Monate, die stillschweigend gewährt wurde.
Im Rahmen der Anhörung zur beabsichtigten Entziehung der Fahrerlaubnis ließ der Antragsteller seinen Bevollmächtigten mit Schreiben vom 20. Oktober 2020 vortragen, nach Aktenlage sei nicht in Erwägung gezogen worden, dass die Fahreignung nach Nr. 6.6 der Anlage 4 zur FeV gegeben sei, wenn kein wesentliches Risiko von Anfallsrezidiven mehr bestehe, und dass Nachuntersuchungen angeordnet werden könnten. Die Gutachtensanordnung sei auch nicht hinreichend bestimmt und aus sich heraus verständlich. Dies gelte insbesondere für Punkt 2 der Fragestellung, nachdem sich der Akte keine Anhaltspunkte für einen „Beigebrauch anderer psychoaktiver Substanzen inklusive Alkohol“ entnehmen ließen.
Mit Bescheid vom 27. Januar 2021 entzog das Landratsamt dem Antragsteller gestützt auf § 11 Abs. 8 FeV die Fahrerlaubnis der Klassen AM, BE und C1E einschließlich Unterklassen und forderte ihn unter Androhung eines Zwangsgelds zur Abgabe seines Führerscheins innerhalb einer Woche ab Zustellung des Bescheids auf. Weiter ordnete es die sofortige Vollziehung dieser Verfügungen an. Am 3. Februar 2021 gab der Antragsteller seinen Führerschein beim Landratsamt ab.
Am 19. Februar 2021 ließ der Antragsteller Klage zum Verwaltungsgericht München erheben, über die noch nicht entschieden ist, und weiter beantragen, die aufschiebende Wirkung der Klage hinsichtlich der Ziffer 1 wiederherzustellen bzw. die Anordnung der sofortigen Vollziehung aufzuheben.
Mit Beschluss vom 19. August 2021 lehnte das Verwaltungsgericht die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes mit der Begründung ab, die Anordnung der sofortigen Vollziehung sei ordnungsgemäß begründet worden. Die Entziehung der Fahrerlaubnis sei rechtmäßig, weil das Landratsamt von fehlender Fahreignung habe ausgehen dürfen. Im maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der Gutachtensanordnung hätten ausreichend Tatsachen vorgelegen, die geeignet gewesen seien, Bedenken gegen die Fahreignung des Antragstellers zu begründen. Zu den Erkrankungen und Mängeln, die die Fahreignung beeinträchtigen könnten, zähle die Epilepsie (Nr. 6.6 der Anlage 4 zur FeV). Anders als etwa Herz- und Gefäßerkrankungen oder Diabetes sei Epilepsie keine Erkrankung, die in einer Mehr- oder Vielzahl der Fälle keine Fahrungeeignetheit begründe. Die Fahreignung sei vielmehr nur ausnahmsweise gegeben, wenn kein wesentliches Risiko von Anfallsrezidiven mehr bestehe. Angesichts der Diagnose und der vorgelegten Unterlagen habe das Landratsamt berechtigt davon ausgehen können, das ihm durch § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV eingeräumte Ermessen nur dahin ausüben zu können, die Beibringung eines fachärztlichen Gutachtens anzuordnen; zumal der Grund für den Anfall am 20. Dezember 2019 nicht hinreichend aufgeklärt und seitdem nicht einmal vier Monate vergangen gewesen seien. Demnach hätten erhebliche Eignungszweifel bestanden. Untätig zu bleiben, wäre bei dieser schwerwiegenden Diagnose und der vom Antragsteller möglicherweise ausgehenden erheblichen Gefährdung des Straßenverkehrs unverantwortlich gewesen. Der Umstand, dass in den Spalten 3 und 4 der Anlage 4 zur FeV „Nachuntersuchungen“ genannt seien, führe entgegen der Ansicht des Antragstellers nicht dazu, dass deshalb eine Begutachtung obsolet werde. Vielmehr sei gerade mit einem Gutachten die Notwendigkeit bzw. das Intervall von Nachbegutachtungen zu klären (so auch die Fragestellungen 3 bis 5 der Gutachtensanordnung). Auch im Übrigen sei die Fragestellung anlassbezogen und verhältnismäßig. Gerade bei einer medikamentösen antiepileptischen Behandlung wie beim Antragsteller sei die Frage nach einer ausreichenden Compliance und Adhärenz sowie ordnungsgemäßen Medikamenteneinnahme nicht zu beanstanden. Die Frage nach einem Beigebrauch psychoaktiver Substanzen inklusive Alkohol unterstelle keinen Missbrauch oder den Konsum illegaler Substanzen, sondern ziele auf die Abklärung möglicher Wechselwirkungen mit der verordneten Medikation oder Grunderkrankung ab. Dies sei auch beim Antragsteller angezeigt gewesen, da der Neurologe Dr. B. den Vorfall vom 20. Dezember 2019 mutmaßlich auf eine wie auch immer geartete fehlerhafte oder unwirksame Medikamenteneinnahme zurückgeführt habe. Auch die bis 30. September 2020 verlängerte Beibringungsfrist habe ausgereicht.
Mit seiner Beschwerde, der der Antragsgegner entgegentritt, macht der Antragsteller geltend, das Verwaltungsgericht gehe unzutreffend davon aus, dass die formellen Anforderungen der Vollzugsanordnung gegeben seien, obwohl weder die Begründung des Beschlusses noch des angefochtenen Bescheids einzelfallbezogen sei. Die Ausführungen seien formelhaft und beschränkten sich darauf, dass der Antragsteller das Gutachten nicht vorgelegt habe. Hierbei handle es sich um ein Tatbestandsmerkmal der herangezogenen Rechtsgrundlagen. Die Voraussetzungen des § 11 Abs. 8 FeV lägen nicht vor. Die Gutachtensanordnung sei insbesondere weder anlassbezogen noch verhältnismäßig. Im Rahmen des § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV sei es zu einem Ermessensausfall gekommen. Der Gutachtensanordnung lasse sich gerade nicht entnehmen, dass das Landratsamt von „erheblichen Eignungszweifeln“ ausgegangen sei. In der Anordnung vom 16. April 2020 sei eine Ermessensausübung weder erkennbar noch erfolgt. Zwar werde ausgeführt, dass das Ermessen auf „Null reduziert“ sei. Die Gründe hierfür ließen sich der Anordnung jedoch nicht entnehmen. Das Verwaltungsgericht verkenne, dass das Landratsamt mit der Verwendung der Formulierung, das Ermessen sei auf Null reduziert, deutlich gemacht habe, dass es nicht von einem Ermessen ausgehe. Die gerichtlichen Ausführungen, der Grund für den nicht einmal vier Monate zurückliegenden Anfall am 20. Dezember 2019 sei nicht hinreichend aufgeklärt, rechtfertigten jedenfalls nicht erhebliche Eignungszweifel. Aus dem hausärztlichen Attest vom 3. April 2020 ergebe sich, dass allenfalls ein Fahrverbot für ein halbes Jahr im Raum gestanden habe. Dies bestätige die neurologische Stellungnahme vom 2. April 2020. Der Entziehungsbescheid sei allerdings mehr als ein Jahr nach dem letzten Anfall ergangen. Die Fragestellung sei darüber hinaus nicht anlassbezogen und auch nicht verhältnismäßig. Entgegen den gerichtlichen Ausführungen sei nicht nachvollziehbar, wieso das Landratsamt mit der Frage nach dem Beigebrauch psychoaktiver Substanzen allein auf eine „Abklärung möglicher Wechselwirkungen mit der verordneten Medikation oder Grunderkrankung“ abgezielt habe. Der Gutachtensanordnung müsse sich zweifelsfrei entnehmen lassen, welche Problematik auf welche Weise geklärt werden solle. Hinsichtlich Punkt 2 sei dies nicht der Fall, da gerade nicht nachvollziehbar dargelegt werde, dass eine Abklärung möglicher Wechselwirkungen beabsichtigt sei. Vielmehr werde ausdrücklich gefragt nach dem Nichtvorliegen eines Beigebrauchs anderer psychoaktiver Substanzen inklusive Alkohol, für den sich aus der Akte keine Anhaltspunkte ergäben.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
Die Beschwerde ist unbegründet.
Aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu ändern oder aufzuheben wäre.
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310), im maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses zuletzt geändert durch Gesetz vom 3. Dezember 2020 (BGBl I S. 2667), und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 13. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), im maßgeblichen Zeitpunkt zuletzt geändert durch die zum Teil am 1. Januar 2021 in Kraft getretene Verordnung vom 11. März 2019 (BGBl I S. 218), hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich ihr Inhaber als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 46 Abs. 3 FeV). Nach § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV kann die Fahrerlaubnisbehörde die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens, unter anderem ein Gutachten eines für die Fragestellung (§ 11 Abs. 6 Satz 1 FeV) zuständigen Facharztes mit verkehrsmedizinischer Qualifikation (§ 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 FeV), anordnen, wenn Tatsachen bekannt werden, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung des Fahrerlaubnisinhabers begründen. Nach Nr. 6.6 der Anlage 4 zur FeV ist die Fahreignung bei bestehender Epilepsie nur ausnahmsweise dann gegeben, wenn kein wesentliches Risiko von Anfallsrezidiven mehr besteht. Bei Fahrzeugen der Gruppe 1 kann nach einem Jahr der Anfallsfreiheit hiervon ausgegangen werden, bei Fahrzeugen der Gruppe 2 erst nach fünf Jahren der Anfallsfreiheit ohne Therapie. Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen, oder bringt er das geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, darf nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV auf die Nichteignung geschlossen werden. Der Schluss auf die Nichteignung ist allerdings nur zulässig, wenn die Anordnung der Begutachtung formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig ist (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – BVerwGE 156, 293 = juris Rn. 19). Dies war hier der Fall.
Im maßgeblichen Zeitpunkt der Beibringungsanordnung am 16. April 2020 (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – BVerwGE 156, 293 = juris Rn. 14; BayVGH, B.v. 3.11.2020 – 11 CS 20.1469 – juris Rn. 21) war fachärztlich bestätigt, dass der Antragsteller seit Jahren an einer Epilepsie leidet, zuletzt am 20. Dezember 2019 einen epileptischen Anfall erlitten hat, Medikamente gegen die Erkrankung benötigt und die Ursache des letzten Anfalls ungeklärt war. Der Antragsteller konnte allenfalls knapp vier Monate anfallsfrei gewesen sein. Im Hinblick darauf waren die an den fachärztlichen Gutachter gerichteten Fragen anlassbezogen und verhältnismäßig.
Epilepsien sind komplexe Erkrankungen des Gehirns mit dem Leitsymptom epileptischer Anfälle. Diese gehen häufig mit Störungen des Bewusstseins und der Motorik einher, treten in aller Regel spontan, plötzlich und unvorhersehbar auf und können willentlich nicht unterdrückt werden (vgl. Nr. 3.9.6 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung vom 27.1.2014 [Verkehrsblatt S. 110] in der Fassung vom 28.10.2019 [Verkehrsblatt S. 775], S. 33). Wer epileptische Anfälle erleidet, ist daher nicht in der Lage, den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen beider Gruppen gerecht zu werden, solange ein wesentliches Risiko von Anfallsrezidiven besteht (Nr. 3.9.6 der Begutachtungsleitlinien, S. 31). Die vom Verordnungsgeber in Nr. 6.6 der Anlage 4 zur FeV vorgesehenen Beobachtungsintervalle sollen im Wesentlichen eingehalten werden; Verkürzungen bedürfen einer ausführlichen Erläuterung (vgl. von Wrede in Schubert/Huetten/Reimann/Graw, Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, Komm., 3. Aufl. 2018, S. 195). Das Landratsamt musste somit sowohl nach der Einschätzung der Ärzte des Antragstellers, die (unter bestimmten weiteren, nicht nachgewiesenen Voraussetzungen) ein halbes Jahr der Anfallsfreiheit für ausreichend hielten, wie auch nach den Vorgaben des Verordnungsgebers (Nr. 6.6 der Anlage 4 zur FeV) bei Erlass der Beibringungsanordnung davon ausgehen, dass ihm jedenfalls bis zum Ablauf von sechs Monaten nach dem letzten epileptischen Anfall die Fahreignung für Fahrzeuge der Gruppe 1 und für Fahrzeuge der Gruppe 2 noch lange fehlen würde, sofern zusätzlich eine Medikation nicht mehr notwendig sein würde. Erst durch die Anordnung des Gutachtenshat der Antragsteller somit in zeitlicher Hinsicht die Gelegenheit erhalten, seine Fahreignung für Fahrzeuge der Gruppe 1 bis zum Ablauf der Beibringungsfrist nachzuweisen. Andernfalls wäre ihm die Fahrerlaubnis nach § 11 Abs. 7 FeV unmittelbar zu entziehen gewesen, mit der Folge, dass er die Wiederherstellung seiner Fahreignung im Neuerteilungsverfahren hätte nachweisen müssen.
Die Voraussetzungen, unter denen die in Nr. 6.6 der Anlage 4 zur FeV geforderte Anfallsfreiheit als Grundlage der Fahreignung entfallen kann, insbesondere persistierende Anfälle ohne zwangsläufige Einschränkung der Kraftfahreignung (an den Schlaf gebundene Anfälle nach mindestens dreijähriger Beobachtungszeit; medizinisch seltene einfach fokale Anfälle ohne Bewusstseinsstörung und ohne motorische, sensorische oder kognitive Behinderung nach mindestens einjähriger Beobachtungszeit) und ein Anfallsrezidiv bei bestehender Fahreignung nach fachneurologischer Abklärung (vgl. Nr. 3.9.6 der Begutachtungsleitlinien, S. 32; von Wrede, in Schubert/Huetten/Reimann/Graw, a.a.O. S. 195), waren beim Antragsteller schon wegen der erforderlichen ärztlichen Beobachtung bzw. Abklärung nicht gegeben. In Betracht kam ein sog. „sporadischer“ Anfall nach langjähriger Anfallsfreiheit, dessen Vorliegen jedoch ungeklärt war. In diesem Fall hätte die Kraftfahreignung ggf. schon nach sechs Monaten wieder bejaht werden können, sofern die neurologische Abklärung keine relevanten Aspekte ergeben hätte. Lassen sich in einer solchen Situation relevante Provokationsfaktoren eruieren, die in Zukunft gemieden oder verhindert werden, so kann die Fahrpause sogar auf drei Monate verkürzt werden (vgl. Nr. 3.9.6 der Begutachtungsleitlinien, S. 32). Nachdem die Ursache des letzten Anfalls lediglich auf einer Vermutung des behandelnden Neurologen beruhte, über frühere Anfälle nichts bekannt war und eine Überwachung der Medikamenteneinnahme nach der neurologischen Stellungnahme vom 2. April 2020 erforderlich erschien, waren entsprechende Fragen einschließlich der Compliance medizinisch klärungsbedürftig, um die Fahreignung mit der Dauer der erforderlichen Fahrpause einschätzen zu können.
Wie bei allen Erkrankungen galt es, Komorbiditäten und Arzneimittelnebenwirkungen im Hinblick auf die Kraftfahreignung mit zu bewerten (von Wrede, in Schubert/Huetten/ Reimann/Graw, S. 197). In diesem Zusammenhang hat das Verwaltungsgericht zu Recht unter Hinweis auf die nicht geklärte Ursache des letzten Anfalls und mögliche Wechselwirkungen zwischen Alkohol und der Medikation bzw. der Epilepsie auch die Frage nach einem Beigebrauch psychoaktiver Substanzen einschließlich Alkohols für klärungsbedürftig erachtet, selbst wenn es beim Antragsteller nach Aktenlage keine Anzeichen für den Missbrauch einer solchen Substanz oder den Konsum illegaler Substanzen gab. Der Konsum derartiger Substanzen, insbesondere von Alkohol, ist in der Bevölkerung weit verbreitet. Nach dem im Internet veröffentlichten Beipackzettel zu dem dem Antragsteller verschriebenen Medikament Levetiracetam kann ein Alkoholbeigebrauch das Reaktionsvermögen beeinträchtigen. Auch bei der Einnahme des ihm verschriebenen Medikaments Valproat natrium ist der Konsum von Alkohol kontraindiziert (vgl. den ebenfalls im Internet veröffentlichten Beipackzettel). Es ist davon auszugehen, dass dies dem Antragsteller oder ggf. seiner Schwester, wenn sie die Medikamenteneinnahme überwacht, auch bekannt war. Aus der vom Antragsteller zitierten Entscheidung des Senats (BayVGH, B.v. 27.11.2012 – 11 ZB 12.1596 – juris Rn. 10) ergibt sich insoweit nichts anderes. Auch der vom Verwaltungsgericht angeführten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (B.v. 5.2.2015 – 3 B 16.14 – DAR 2015, 216 = juris Rn. 8 f.) ist nicht zu entnehmen, dass die Fahrerlaubnisbehörde die medizinischen Hintergründe von Teilfragen oder die Art und Weise, wie der Gutachter zu seinen Feststellungen gelangen soll oder wird, im Detail zu erläutern hat.
Vor dem Hintergrund, dass die Fahreignung des Antragstellers nur teil- und ausnahmsweise sowie nach sorgfältiger fachärztlicher Aufklärung hätte bejaht werden können, war die Begründung, weshalb er ein ärztliches Gutachten beibringen sollte, ausreichend.
Entgegen der Auffassung des Antragstellers hat das Landratsamt durch die Annahme einer Ermessensreduzierung auf Null deutlich gemacht, dass ihm bewusst war, im Rahmen des § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV ein Entschließungsermessen ausüben zu müssen. Verdichten sich die verschiedenen Handlungsmöglichkeiten der Verwaltung auf eine einzige, wird die Ermessensentscheidung im konkreten Einzelfall nicht dogmatisch bzw. methodisch, sondern nur praktisch gesehen im Ergebnis zur gebundenen Entscheidung (vgl. Wolff in Sodan/Ziekow, 5. Aufl. 2018, § 114 Rn. 128; Schönenbroicher in Mann/Sennekamp/Uechtritz, VwVfG, 2. Aufl. 2019, § 40 Rn. 216). Da der Sache nach keine Alternativen mehr bestehen, gibt es – wie bei der gebundenen Entscheidung – nur noch ein richtiges Ergebnis (Wolff, a.a.O.).
Weiter ist nicht zu beanstanden, dass das Landratsamt im Fall des Antragstellers zu dem Ergebnis gelangt ist, eine Beibringungsanordnung sei die einzig richtige Entscheidung. Nachdem davon auszugehen war, dass er nach seinem letzten epileptischen Anfall noch nicht wieder fahrgeeignet war, konnte die Fahrerlaubnisbehörde im Hinblick auf die Gefahren, die von einem ungeeigneten Kraftfahrer für hochrangige Rechtsgüter (Leben und Gesundheit) Dritter sowie des Antragstellers selbst nicht von einer fachärztlichen Aufklärung absehen, ob die Fahreignung (eventuell für Fahrzeuge der Gruppe 1) nach Ablauf der neurologisch für unabdingbar gehaltenen sechs Monate Anfallsfreiheit möglicherweise wieder bestand oder für längere Zeit entfallen war.
Hat sich das Ermessen auf Null reduziert und die Behörde die Rechtsfolge gewählt, die die einzig rechtlich zulässige war, liegt darin kein Ermessensfehler, selbst dann nicht, wenn die Behörde das Vorliegen einer Ermessensnorm, anders als hier, übersehen hätte. Für Ermessenserwägungen besteht in diesem Fall kein Anlass mehr (Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 114 Rn. 32; BVerwG, B.v. 3.10.1988 – 1 B 114.88 – Buchholz 316 § 40 VwVfG Nr. 8; vgl. auch U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – BVerwGE 156, 293 = juris Rn. 39). Fehlen solche, so liegt kein Ermessensnichtgebrauch vor (Rennert, a.a.O.). Ausschlaggebend ist allein die objektive Rechtmäßigkeit (und die Erfüllung der formellen Begründungspflicht des § 39 VwVfG), das Erfordernis der materiellen Begründungspflicht tritt zurück (Wolff, a.a.O. § 114 Rn. 136).
Ferner spielt es keine Rolle, dass das Landratsamt den angefochtenen Entziehungsbescheid mehr als ein Jahr nach dem letzten epileptischen Anfall erlassen hat und der Antragsteller zu diesem Zeitpunkt – nach entsprechender ärztlicher Einschätzung – wieder fahrgeeignet hätte sein können, da für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Beibringungsanordnung in zeitlicher Hinsicht ihr Erlass maßgeblich ist. Die Entziehung der Fahrerlaubnis des Antragstellers beruht nicht auf deren nachgewiesenem Fehlen, sondern auf einer entsprechenden Vermutung. Hierzu war das Landratsamt gemäß § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV wegen seiner fehlender Mitwirkung an der Aufklärung der Fahreignungszweifel berechtigt.
Schließlich genügt auch die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung den Anforderungen der ständigen obergerichtlichen Rechtsprechung, wonach an den Inhalt der schriftlichen Begründung keine zu hohen Anforderungen zu stellen sind und bei Kraftfahrern, denen die erforderliche Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeugs fehlt, das Erlassinteresse regelmäßig mit dem Vollzugsinteresse identisch ist (vgl. BayVGH, B.v. 8.6.2021 – 11 CS 20.2342 – juris Rn. 17 m.w.N.; Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 80 Rn. 55, 46). Bei dieser häufig wiederkehrenden Sachverhaltsgestaltung, der eine typische Interessenlage zugrunde liegt, reicht es aus, diese Interessenlage aufzuzeigen und deutlich zu machen, dass sie nach Auffassung der Fahrerlaubnisbehörde auch im konkreten Fall vorliegt (stRspr, vgl. BayVGH, a.a.O.). Dem hat das Landratsamt genügt, indem es – ausgehend von einer infolge der Nichtbeibringung des angeforderten Gutachtens nach § 11 Abs. 8 FeV anzunehmenden fehlenden Fahreignung – den sofortigen Ausschluss des Antragstellers vom Straßenverkehr im Interesse der Verkehrssicherheit bzw. des Schutzes anderer Verkehrsteilnehmer für erforderlich erklärt hat. Auf die inhaltliche Richtigkeit oder Tragfähigkeit der Begründung kommt es dabei nicht an, da § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO eine formelle und keine materielle Rechtmäßigkeitsvoraussetzung normiert (vgl. Schoch in Schoch/ Schneider, VwGO, Stand Juli 2021, § 80 Rn. 246; Hoppe, a.a.O. Rn. 54 f.; Bostedt in Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 2021, § 80 Rn. 81). Im Übrigen begegnet die behördliche Annahme, dass einem nicht fahrgeeigneten Kraftfahrer im Hinblick auf die damit für die Allgemeinheit verbundenen erheblichen Gefahren die Fahrerlaubnis ungeachtet des Gewichts seines persönlichen Interesses an der Teilnahme am individuellen Straßenverkehr nicht bis zum Eintritt der Bestandskraft des Entziehungsbescheids belassen werden kann, keinen Bedenken (stRspr des Senats, vgl. BayVGH, a.a.O. m.w.N.). Die Gefahren für die Allgemeinheit bestehen unvermindert, solange die Fahreignung fehlt.
Die Beschwerde war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1, 2 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nr. 1.5 Satz 1, Nr. 46.3 und 46.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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