Medizinrecht

Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Nichtbeibringung eines ärztlichen sowie eines augenärztlichen Gutachtens

Aktenzeichen  11 CS 20.1469

Datum:
3.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 30346
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVG § 2 Abs. 8, § 3 Abs. 1 S. 1, S. 3
FeV § 11 Abs. 2, Abs. 8, § 12 Abs. 8, § 46 Abs. 1 S. 1, Abs. 3, Anl. 4 Nr. 5.4, Nr. 5.6, Nr. 6.2, Nr. 10.1, Anl. 6

 

Leitsatz

1. Bei Krankheiten, die wie Diabetes mellitus in einer Mehrzahl oder Vielzahl der Fälle keine Fahrungeeignetheit zur Folge haben und auch in Verbindung mit Folgeerkrankungen nicht stets die sofortige Anordnung eines ärztlichen Gutachtens rechtfertigen, ist für die Frage, ob die der Fahrerlaubnisbehörde im maßgeblichen Zeitpunkt der Gutachtensanordnung vorliegenden Erkentnisse hinreichenden Anlass für die Anordnung eines ärztliches Fahreignungsgutachtens bieten, unter Verhältnismäßigkeitserwägungen zu prüfen, ob eine Vorabklärung hinsichtlich Art und Schwere der Erkrankung etwa durch Nachfragen beim Betroffenen und Auskünfte seiner behandelnden Ärzte geboten ist. (Rn. 21 – 23) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Notwendigkeit einer ärztlichen Begutachtung von Grund- und Folgeerkrankungen kann sich aus möglichen Wechselwirkungen der Erkrankungen, aus ihrer Komplexität und angesichts ihres Fortschreitens auch daraus ergeben, dass über eine Augenblicksaufnahme der fahreignungsrelevanten Beeinträchtigungen hinaus eine prognostische gutachtliche Aussage dazu erforderlich ist, ob bzw. wann eine Nachbegutachtung angezeigt ist.  (Rn. 24 – 32) (redaktioneller Leitsatz)
3. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Anforderung eines ärztlichen bzw. augenärztlichen Gutachtens ist zwar der Zeitpunkt der Anordnung. Davon zu trennen ist jedoch, dass die gesetzte Frist zur Gutachtensvorlage nach allgemeinen Grundsätzen keine Ausschlussfrist ist und weitere Entwicklungen bis zum Abschluss des Behördenverfahrens stets berücksichtigt werden müssen; insbesondere darf keine Ungeeignetheit mehr angenommen werden, wenn der Betroffene die ihm obliegende Mitwirkungshandlung im Widerspruchsverfahren nachholt und die Eignungszweifel somit bei der Entscheidung über den Widerspruch ausgeräumt sind. (Rn. 34 und 35) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 26 S 19.4745 2020-05-29 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der 1950 geborene Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung seiner Fahrerlaubnis für Fahrzeuge der Gruppe 1 (Klassen AM, A1, A2, A, B, BE, L und T).
Der Antragsteller war bis zu einem Verzicht auf die Fahrerlaubnis für Fahrzeuge der Gruppe 2, den er im Zusammenhang mit dem gegenständlichen Verfahren erklärte, Inhaber der Fahrerlaubnis für Fahrzeuge der Gruppen 1 und 2.
Im Jahr 2014 wurde der Fahrerlaubnisbehörde beim Landratsamt München eine Diabetes-Erkrankung des Antragstellers bekannt. Im Rahmen eines Verfahrens zur Verlängerung der Fahrerlaubnis für Fahrzeuge der Gruppe 2 legte dieser dort ein ärztliches Gutachten der A.-GmbH vom 3. Juli 2015 vor. Daraus ergibt sich, dass der Antragsteller seit dem Jahr 1998 an einem nunmehr insulinbehandelten Diabetes mellitus Typ 2 leidet. Das Gutachten kommt zu dem Ergebnis, der Antragsteller sei unter Auflagen in der Lage, Kraftfahrzeuge der Gruppen 1 und 2 sicher zu führen. Zur Sicherung der Medikamenteneinnahme müsse für drei Jahre alle sechs Monate ein Attest des Diabetologen eingereicht werden u.a. mit der Bestätigung, dass der HbA1c-Wert nicht höher sei als 7,5%, keine symptomatischen Hypoglykämien stattfänden sowie über dauerhaft zufriedenstellende Blutzuckerwerte. Hinsichtlich der Gruppe 2 sei nach Nr. 5.4 der Anlage 4 zur FeV in drei Jahren eine Nachuntersuchung erforderlich, für die Gruppe 1 bei Erfüllung der Auflagen nicht.
Mit bestandskräftigem Bescheid des Landratsamts vom 16. Juli 2015 wurde die Fahrerlaubnis des Antragstellers mit entsprechenden Auflagen versehen.
In der Folgezeit legte der Antragsteller zunächst in unregelmäßigen Abständen ärztliche Atteste vor. Danach überstieg der HbA1c-Wert 7,5% anfangs nicht. Ein Attest vom 14. Juni 2017 hingegen berichtet von einem HbA1c-Wert von 8,6% nach einer Blutzuckerentgleisung im Rahmen einer stationären augenärztlichen Behandlung. Ein weiteres Attest des Facharztes für Innere Medizin, Endokrinologie und Diabetologie Dr. S. vom 20. Dezember 2017 nennt u.a. die Diagnosen Diabetes mellitus Typ 2 mit multiplen Komplikationen, periphere Polyneuropathie/Retinoptahie, diabetische Nephropathie im Stadium 2 bei Niereninsuffizienz, diabetisches Fußsyndrom, Maculopathie, Cataracta senilis und Pseudophakie. Der aktuelle HbA1c-Wert habe bei 7,5% gelegen und sich gegenüber den Vorwerten verbessert, die in den Quartalen I, II und III jeweils über 7,5% gelegen hätten.
Nach längerer Korrespondenz forderte das Landratsamt den Antragsteller mit Schreiben vom 28. Mai 2019 auf, bis zum 9. August 2019 ein Gutachten eines Arztes einer anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung zu den Fragen beizubringen, ob er trotz Vorliegens einer Erkrankung an Diabetes mellitus Typ 2 sowie an den Folgeerkrankungen periphere Polyneuropathie und diabetische Nephropathie in der Lage sei, den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppen 1 und 2 vollständig gerecht zu werden, ob eine ausreichende Adhärenz vorliege, ob insoweit Beschränkungen, Auflagen oder eine Nachbegutachtung erforderlich seien und ob aufgrund diabetischer Folgekomplikationen bzw. -erkrankungen Zweifel an der erforderlichen psycho-physischen Leistungsfähigkeit vorlägen, die eine medizinisch-psychologische Begutachtung erforderten. Ferner forderte das Landratsamt den Antragsteller mit gesondertem Schreiben vom selben Tage auf, binnen derselben Frist ein augenärztliches Gutachten vorzulegen zu den Fragen, ob er trotz Vorliegens einer Retinopathie, einer Maculopathie, einer Pseudophakie und eines Kataract senilis geeignet sei, Fahrzeuge der Gruppen 1 und 2 zu führen, und ob insoweit Beschränkungen, Auflagen oder eine Nachbegutachtung erforderlich seien. Die Stellen, bei denen die Begutachtung durchgeführt werden sollten, seien jeweils bis zum 12. Juni 2019 zu benennen.
Da der Antragsteller keine Begutachtungsstellen benannte, entzog ihm das Landratsamt nach Anhörung mit für sofort vollziehbar erklärtem Bescheid vom 22. Juli 2019 gestützt auf § 11 Abs. 8 FeV die Fahrerlaubnis aller Klassen. Ferner lehnte es seinen Antrag auf Ausstellung eines Ersatzführerscheins für den abhanden gekommenen Führerschein ab. Aus der Nichtbeibringung der Gutachten sei auf die Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen zu schließen.
Über den hiergegen eingelegten Widerspruch wurde nach Aktenlage noch nicht entschieden.
Am 17. September 2019 ließ der Antragsteller beim Verwaltungsgericht München einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO stellen. Während des Eilverfahrens erklärte er – unter dem 10. Dezember 2019 auch gegenüber dem Landratsamt – den Verzicht auf die Fahrerlaubnis für Fahrzeuge der Gruppe 2. Das Landratsamt teilte daraufhin mit, es halte an der Notwendigkeit einer Begutachtung fest, da die Folgeerkrankungen des Diabetes auch die Eignung zur Führung von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 in Frage stellten.
Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag mit Beschluss vom 29. Mai 2020 ab. Nach dem Verzicht auf die Fahrerlaubnis der Gruppe 2 entfalte die Entziehung der Fahrerlaubnis nur noch Wirkung hinsichtlich der Klassen A, B und BE einschließlich Unterklassen und sei nur mehr dies Gegenstand des Widerspruchs. Dessen Erfolgsaussichten seien gegenwärtig als offen anzusehen. Der Antragsgegner werde dem Antragsteller im laufenden Widerspruchsverfahren erneut Gelegenheit zu geben haben, eine Begutachtung seiner Fahreignung durchführen zu lassen, die sich nur mehr auf das Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 erstrecke. Da der Antragsteller sich im Entziehungsverfahren geweigert habe, einer rechtmäßigen Gutachtensanordnung nachzukommen, eine Fahreignungsbegutachtung auch hinsichtlich des Führens von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 erforderlich sei, der Antragsteller bislang auch im Widerspruchsverfahren keine Bereitschaft gezeigt habe, sich einer Begutachtung zu unterziehen und überdies keine aktuellen ärztlichen Atteste vorlägen, sei dem Interesse des Antragstellers an dem Aufschub der Vollziehung jedoch kein Vorrang gegenüber dem öffentlichen Vollzugsinteresse einzuräumen. Offenbleiben könne dabei, ob der Antragsteller bereits aufgrund des bestandskräftigen Auflagenbescheids verpflichtet sei, ein ärztliches Gutachten über die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen vorzulegen. Denn angesichts der im ärztlichen Attest vom 20. Dezember 2017 im Zusammenhang mit der Diabeteserkrankung festgestellten Folgeerkrankungen bestünden jedenfalls Zweifel an der Eignung des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1, so dass die Anordnung eines ärztlichen Gutachtens ermessensgerecht, anlassbezogen und verhältnismäßig sei. Geboten sei die Begutachtung gemäß § 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 5 FeV durch einen unabhängigen Arzt mit verkehrsmedizinischen Kenntnissen. Zwar würden Grundlage dieser Begutachtung insbesondere fachärztliche Befunde von für die jeweilige Erkrankung spezialisierten Ärzten sein; die Vorlage solcher Einzelatteste allein sei angesichts der Komplexität und wegen der Verkehrsbezogenheit der Beurteilung aber nicht ausreichend. Des Weiteren sei angesichts der im Attest vom 20. Dezember 2017 diagnostizierten Retinopathie, Makulopathie und Cataracta senilis nach § 12 Abs. 8 FeV eine Untersuchung des Sehvermögens erforderlich, so dass die vom Landratsamt geforderte Beibringung eines augenärztlichen Gutachtens gleichfalls gerechtfertigt sei.
Zur Begründung der hiergegen eingereichten Beschwerde lässt der Antragsteller ausführen, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebiete es, ihm die Möglichkeit einzuräumen, etwaige Zweifel an seiner Fahreignung durch die Vorlage von Einzelattesten der behandelnden Ärzte auszuräumen, bevor eine kostspielige Fahreignungsbegutachtung angeordnet werde. Denn diese müsse, wovon auch das Verwaltungsgericht ausgehe, ohnehin auf solche Einzelatteste zurückgreifen. Ausweislich der dabei vorgelegten Korrespondenz mit dem Landratsamt hat dieses nach Zustellung des angefochtenen Beschlusses mit Schreiben vom 15. Juni 2020 angefragt, ob der Antragsteller bereit sei, die geforderten Begutachtungen hinsichtlich der Fahreignung für Fahrzeuge der Gruppe 1 durchzuführen zu lassen, woraufhin der Antragsteller auf seinen genannten Standpunkt verwiesen hat.
Der Antragsgegner tritt der Beschwerde entgegen. Mit Blick auf die mit der Diabeteserkrankung des Antragstellers verbundenen Komplikationen und Komorbiditäten seien Einzelatteste nicht geeignet, die sich aus der Komplexität des Krankheitsbildes und möglichen Wechselwirkungen ergebenden Fahreignungszweifel auszuräumen. Erforderlich sei eine interdisziplinäre Gesamtbeurteilung durch einen unabhängigen Arzt mit verkehrsmedizinischer Zusatzqualifikation, der den Krankheitszustand des Betroffenen gerade im Hinblick auf die Teilnahme am Straßenverkehr mit Kraftfahrzeugen beurteilen könne. Nachdem der Antragsteller die erforderliche Begutachtung nun auch im Widerspruchsverfahren verweigert habe, sei gemäß § 11 Abs. 8 FeV auf die Nichteignung zu schließen mit der Folge, dass der angegriffene Entziehungsbescheid damals rechtmäßig ergangen sei und sich auch gegenwärtig noch als rechtmäßig erweise. Gleiches gelte mit Blick auf die verschiedenen Augenerkrankungen des Antragstellers, die eine augenärztliche Begutachtung erforderten. Eine einfache augenärztliche Stellungnahme oder Sehtestbescheinigung könnten die dadurch begründeten Eignungszweifel nicht ausräumen.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
1. Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu ändern und die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs wiederherzustellen wäre. Dabei ist, wie vom Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt, zu Grunde zulegen, dass die angegriffene Entziehung der Fahrerlaubnis nach dem Verzicht des Antragstellers auf die Fahrerlaubnis für Fahrzeuge der Gruppe 2 nur noch Wirkung hinsichtlich der Fahrerlaubnis für Fahrzeuge der Gruppe 1 entfaltet und folglich nur noch insoweit Gegenstand des Widerspruchs sowie der Prüfung im gerichtlichen Verfahren ist. Es gibt auch keinen Anhalt dafür, dass der Antragsteller den Widerspruch darüber hinaus aufrechterhält, zumal es insoweit an einem Rechtsschutzbedürfnis fehlte und der Widerspruch unzulässig wäre.
a) Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310), zuletzt geändert durch Gesetz vom 29. Juni 2020 (BGBl I S. 1528), in Kraft getreten zum 1. Oktober 2020, und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 13. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), zuletzt geändert durch Gesetz vom 5. Dezember 2019 (BGBl I S. 2008), in Kraft getreten zum 1. Juni 2020, hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich ihr Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 3 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. § 2 Abs. 8 StVG, § 46 Abs. 3 FeV).
Nach § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV kann die Fahrerlaubnisbehörde die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens, unter anderem eines Gutachtens eines Arztes einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle (§ 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 5 FeV), anordnen, wenn Tatsachen bekannt werden, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung des Fahrerlaubnisinhabers begründen. Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen, oder bringt er das geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, darf nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV auf die Nichteignung geschlossen werden. Der Schluss auf die Nichteignung ist allerdings nur zulässig, wenn die Anordnung der Begutachtung formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig ist (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – BVerwGE 156, 293 Rn. 19).
Bedenken gegen die körperliche und geistige Fahreignung bestehen nach § 11 Abs. 2 Satz 2 FeV insbesondere, wenn Tatsachen bekannt werden, die auf eine Erkrankung oder einen Mangel nach Anlage 4 oder 5 zur FeV hinweisen. Nach Nr. 5.4 der Anlage 4 zur FeV ist für Fahrerlaubnisse betreffend Fahrzeuge der Gruppe 1 bei medikamentöser Therapie mit hohem Hypoglykämierisiko, z.B. mit Insulin, die Fahreignung bei ungestörter Hypoglykämiewahrnehmung gegeben. Bei Komplikationen wird in Nr. 5.6 Anlage 4 zur FeV auf Nr. 1 (mangelndes Sehvermögen), Nr. 4 (Herz- und Gefäßkrankheiten), Nr. 6 (Krankheiten des Nervensystems) und Nr. 10 (Nierenerkrankungen) verwiesen. Nach Nr. 3.5 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung vom 27. Januar 2014 (VkBl S. 110) in der Fassung vom 28. Oktober 2019 (VkBl S. 775) erfordern im Zusammenhang mit Diabetes mellitus stehende krankheitsbedingte Komplikationen und relevante Komorbiditäten, vor allem Erkrankungen der Augen, Nieren, Nerven und Gefäße sowie das Schlaf-Apnoe-Syndrom eine gesonderte verkehrsmedizinische Beurteilung.
Mit Blick auf das Sehvermögen bestimmt § 12 Abs. 8 FeV, dass die Fahrerlaubnisbehörde zur Vorbereitung einer Entscheidung über die Entziehung der Fahrerlaubnis die Beibringung eines augenärztlichen Gutachtens anordnen kann, wenn Tatsachen bekannt werden, die Bedenken begründen, dass der Fahrerlaubnisinhaber die Anforderungen an das Sehvermögen nach Anlage 6 zur FeV nicht erfüllt oder dass andere Beeinträchtigungen des Sehvermögens bestehen, die die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen beeinträchtigen. Hierbei gelten gemäß § 12 Abs. 8 Satz 2 FeV die Absätze 5 bis 8 des § 11 FeV im hier interessierenden Umfang entsprechend.
b) Daran gemessen begegnet die vom Landratsamt verfügte Entziehung der Fahrerlaubnis im hier angesichts des nicht abgeschlossenen Behördenverfahrens maßgelblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats (vgl. dazu Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 80 Rn. 106; Happ in Eyermann, VwGO, § 146 Rn. 31; BVerwG, U.v. 23.10.2014 – 3 C 3.13 – NJW 2015, 2439 = juris Rn. 13) keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Zu diesem Zeitpunkt erweist sich der Schluss aus der Nichtvorlage der angeforderten ärztlichen sowie augenärztlichen Gutachten auf die fehlende Fahreignung für Fahrzeuge der Fahrerlaubnisklassen der Gruppe 1, die allein noch relevant ist, als gerechtfertigt.
aa) Dazu ist vorab festzustellen, dass der Auflagenbescheid vom 16. Juli 2015 insoweit keine Bedeutung hat, denn das Landratsamt hat keinen Widerruf nach Art. 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BayVwVfG ausgesprochen, sondern die Entziehung der Fahrerlaubnis allein auf die Nichtbeibringung der Gutachten gestützt.
bb) Zum maßgeblichen Zeitpunkt der Gutachtensanordnung (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – BVerwGE 156, 293 Rn. 14; BayVGH, B.v. 11.2.2019 – 11 CS 18.1808 – juris Rn. 18) boten die dem Landratsamt vorliegenden Erkenntnisse zu der Erkrankung des Antragstellers an Diabetes mellitus Typ 2 sowie zu seinen Begleiterkrankungen hinreichend Anlass für die Anordnung, ein ärztliches Gutachten nach § 11 Abs. 2 Satz 1, Satz 3 Nr. 5 FeV beizubringen. Dabei war das Landratsamt entgegen der Auffassung der Beschwerde nicht gehalten, sich vorher um weitere Kenntnisse über die Schwere der Erkrankung zu bemühen.
Zwar darf die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens nur aufgrund konkreter Tatsachen, nicht auf einen bloßen Verdacht „ins Blaue hinein“ bzw. auf Mutmaßungen, Werturteile, Behauptungen oder dergleichen hin verlangt werden (vgl. BVerwG, U.v. 5.7.2001 – 3 C 13.01 – NJW 2002, 78 = juris Rn. 26; BayVGH, B.v. 5.10.2020 – 11 CS 20.1203 – juris Rn. 19). Ferner kann der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei Krankheiten, die wie Diabetes mellitus in einer Mehrzahl oder Vielzahl der Fälle keine Fahrungeeignetheit zur Folge haben, eine Vorabklärung hinsichtlich Art und Schwere der Erkrankung gebieten. So kann die Fahrerlaubnisbehörde vor der Aufforderung zu einer Begutachtung gehalten sein, sich anderweitig um Kenntnisse über Tatsachen zu bemühen, die ausreichende Anhaltspunkte dafür begründen können, dass eine Ungeeignetheit vorliegen könnte. Solche Tatsachen können vom Betroffenen erfragt werden, wobei auch Gelegenheit gegeben werden kann, ärztliche Bescheinigungen wie z.B. Laborergebnisse und Atteste der behandelnden Ärzte vorzulegen. Eine derartige Vorabklärung hat dabei nichts damit zu tun, dass der das Gutachten erstellende Arzt nicht zugleich der den Betroffenen behandelnde Arzt sein soll (§ 11 Abs. 2 Satz 5 FeV). Denn die Auskünfte des Betroffenen und der behandelnden Ärzte stellen keine gutachterliche Beurteilung dar, sondern sind nur Grundlage für die Entscheidung, ob die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens einer in § 11 Abs. 2 Satz 3 FeV genannten Stelle notwendig ist (vgl. BayVGH, B.v. 3.5.2017 – 11 CS 17.312 – juris Rn. 19 ff.; B.v. 9.10.2018 – 11 CS 18.1809 – juris Rn. 13; B.v. 5.10.2020 – 11 CS 20.1203 – juris Rn. 21).
Nach diesen Grundsätzen dürfte zwar das Vorliegen eines insulinbehandelten Diabetes mellitus weder isoliert noch in Verbindung mit den hier inmitten stehenden Folgeerkrankungen stets die sofortige Anordnung eines ärztlichen Gutachtens rechtfertigen, zumal je nach Fallgestaltung eine gesonderte Betrachtung von Grund- und Folgeerkrankungen ausreichend sein könnte (vgl. dazu BayVGH, B.v. 5.10.2020 – 11 CS 20.1203 – juris Rn. 22). Hier hat das Landratsamt sich jedoch bereits hinreichend um eine Vorabklärung von Art und Schwere der Erkrankung des Antragstellers bemüht. Danach liegt eine schwere, komplexe und fortschreitende Krankheit vor, die Anhaltspunkte dafür begründet, dass eine Ungeeignetheit nach den Nr. 5.4 sowie 5.6 i.V.m. Nr. 6.2 und 10 der Anlage 4 zur FeV vorliegen könnte. Es drängte sich auch nicht auf, dass weitere – das Verfahren verzögernde – Nachfragen beim Antragsteller und Auskünfte seiner behandelnden Ärzte diese Zweifel an der Fahreignung auch für einen medizinischen Laien (vgl. dazu BayVGH, B.v. 28.4.2020 – 11 CS 19.2189 – juris Rn. 19) eindeutig und restlos ausräumen könnten. Dies gilt umso mehr, als der Antragsteller dem Landratsamt in der Vergangenheit nur zögerlich Auskunft erteilt hat und unsicher erscheint, ob er seine Erkrankung hinreichend ernst nimmt und bereit ist, die Befunde der behandelnden Ärzte umfassend offen zu legen.
Mit Blick auf den Diabetes mellitus Typ 2 als Grunderkrankung ist die Fahreignung nach Nr. 5.4 der Anlage 4 zur FeV, wie bereits erwähnt, nur bei einer ungestörten Hypoglykämiewahrnehmung gegeben. Denn die Gefährdung der Verkehrssicherheit geht beim Diabetes mellitus in erster Linie vom Auftreten einer Hypoglykämie (Unterzuckerung) mit Kontrollverlust, Verhaltensstörungen oder Bewusstseinsbeeinträchtigungen aus (Nr. 3.5 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung). Die Begutachtungsleitlinien stellen insoweit insbesondere darauf ab, ob Betroffene das Risiko einer Hypoglykämie verstehen und ihre Erkrankung angemessen unter Kontrolle, d.h. auch eine hinreichend stabile Stoffwechsellage haben. Zweifel daran ergeben sich im Falle des Antragstellers zwar noch nicht zwangsläufig aus der bloßen Überschreitung des auf den durchschnittlichen Blutzuckergehalt abstellenden HbA1c-Zielwertes von 7,5%, denn eine solche begründet (jedenfalls solange keine Folgeschäden der Diabestes auftreten) nicht ohne Weiteres die fahrerlaubnisrechtlich relevante Befürchtung des Auftretens von Hypoglykämien während der Fahrt (vgl. BayVGH, B.v. 19.3.2019 – 11 CS 19.57 – juris Rn. 21 f.). Aus dem Attest vom 20. Dezember 2017 ist jedoch ersichtlich, dass der HbA1c-Wert des Antragstellers diesen Zielwert in den Quartalen I, II und III des Jahres 2017 überschritten hat, so dass aus Sicht des medizinischen Laien berechtigte Zweifel bestehen, ob der Antragsteller über eine hinreichend stabile Stoffwechsellage verfügt und seine Erkrankung angemessen im Griff hat. Diese werden auch durch die Angaben in dem Attest, der Antragsteller sei hinsichtlich Gegenmaßnahmen im Falle einer beginnenden Hypoglykämie geschult und nach dortigem Wissen sei es in den letzten zwölf Monaten nicht zu einer „schweren Hypoglykämie“ gekommen, nicht sicher ausgeräumt. Hinzu kommt, dass sich die Erkrankung ersichtlich verschlimmert, wie insbesondere die Folgeerkrankungen zeigen, von denen bei der Begutachtung im Jahr 2015 noch keine Rede war. Mit zunehmender Diabetesdauer bzw. Dauer der Insulintherapie erhöht sich aber zum einen das Risiko für schwere Hypoglykämien (vgl. S2e-Leitlinie „Diabetes und Straßenverkehr“ der Deutschen Diabetes Gesellschaft – DDG, 1. Aufl. 2017, abrufbar auf der Homepage der DDG, S. 35) und auch dafür, eine Unterzuckerungswahrnehmungsstörung zu entwickeln (vgl. Patientenleitlinie „Diabetes und Straßenverkehr“ der DDG, Version 1 v. 6.11.2019, abrufbar auf der Homepage der DDG, S. 9). Zum anderen drängt sich angesichts des Fortschreitens der Erkrankung auf, dass das Landratsamt hier über eine Augenblicksaufnahme hinaus eine prognostische gutachtliche Aussage dazu benötigt, ob bzw. wann eine Nachbegutachtung angezeigt ist.
Vergleichbares gilt für die Folgeerkrankung Neuropathie, die die peripheren Nerven betrifft und schwere Funktionsstörungen mit Folgen für die Sicherheit der Benutzung der Pedale zur Folge haben kann (vgl. Praxisempfehlung „Diabetische Neuropathie“ der DDG, Version Oktober 2019, abrufbar auf der Homepage der DDG, S. S243; S2e-Leitlinie „Diabetes und Straßenverkehr“, a.a.O., S. 45). Die Neuropathie unterfällt als Erkrankung der neuromuskulären Peripherie Nr. 6.2 der Anlage 4 zur FeV. Danach hängt die Fahreignung für Fahrzeuge der Gruppe 1 von der Symptomatik ab, d.h. davon, ob die Erkrankung zu einer relevanten Beeinträchtigung der motorischen Funktionen führt (vgl. Nr. 3.9.2 der Begutachtungsleitlinien). Hier lassen sich nach dem vorgelegten Attest vom 20. Dezember 2017 derartige, die Fahreignung beeinträchtigende Störungen nicht ausschließen. Vor allem aber schreitet auch diese Erkrankung ersichtlich fort – in dem Gutachten aus dem Jahr 2015 heißt es, Hinweise auf eine relevante Polyneuropathie fänden sich nicht – und benötigt das Landratsamt daher eine Aussage zur Notwendigkeit der Nachbegutachtung.
So liegt es auch bei der Folgeerkrankung Nephropathie. Unter Nephropathie bei Diabetes wird ein Nierenschaden verstanden, der im zeitlichen oder ursächlichen Zusammenhang mit einem Diabetes mellitus auftritt; eingeteilt wird sie in fünf Stadien (vgl. Praxisempfehlung „Nephropathie bei Diabetes“ der DDG, Version Oktober 2019, abrufbar auf der Homepage der DDG, S. S235). Nach Nr. 10.1 der Anlage 4 zur FeV ist, wer unter einer schweren Niereninsuffizienz mit erheblicher Beeinträchtigung (des Allgemeinbefindens und der Leistungsfähigkeit, vgl. Nr. 3.6 der Begutachtungsleitlinien) leidet, nicht in der Lage, den gestellten Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen beider Gruppen gerecht zu werden. Auch hier lassen sich Beeinträchtigungen nach dem vorgelegten Attest vom 20. Dezember 2017 nicht ausschließen und benötigt das Landratsamt vor allem angesichts des Fortschreitens der Erkrankung eine Aussage, ob und wann eine Nachbegutachtung geboten ist.
Schließlich ergibt sich die Notwendigkeit einer ärztlichen Begutachtung von Grund- und Folgeerkrankungen hier aber auch aus möglichen Wechselwirkungen der Erkrankungen, auf die der Antragsgegner zu Recht hinweist. Ein Nebeneinander mehrerer Erkrankungen vermag nach den o.g. Grundsätzen zwar nicht zwangsläufig eine (sofortige) Begutachtung zu rechtfertigen. Nach Nr. 2.7 der Begutachtungsleitlinien können jedoch mehrfache Auffälligkeiten Zweifel an der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen auch dann rechtfertigen, wenn jede Auffälligkeit für sich allein noch keinen Eignungszweifel auslöst (sog. Summation oder Kumulation; vgl. dazu auch Schubert/Huetten/Reimann/Graw, Begutachtungsleitlinien zu Kraftfahreignung, 3. Aufl. 2018, S. 88). Hier liegt angesichts der Progression der Erkrankungen für einen medizinischen Laien nahe, dass relevante wechselseitige Abhängigkeiten zwischen dem Diabetes mellitus als Grunderkrankung und den Folgeerkrankungen bestehen könnten, die sich im Wege der Vorabklärung nicht aufklären lassen.
cc) Ferner boten die dem Landratsamt im Zeitpunkt der Anordnung vorliegenden Erkenntnisse zur Augenerkrankung des Antragstellers hinreichend Anlass für die Anordnung, ein augenärztliches Gutachten nach § 12 Abs. 8 FeV beizubringen.
Der Antragsteller leidet nach dem vorgelegten Attest vom 20. Dezember 2017 an einer Retinopathie, einer Makulopathie, einer Cataracta senilis (grauer Star) sowie einer Pseudophakie (Vorhandensein einer Kunstlinse).
Die diabetische Retinopathie und die Makulopathie zählen zu den mikrovaskulären, d.h. die kleinen Blutgefäße betreffenden Komplikationen bei Diabetes mellitus. In Folge einer Veränderung der Gefäße kann zu einem Sehverlust in Form der Visusminderung (Minderung der Sehstärke) oder Verschlechterung einer anderen Sehfunktion kommen. Unterschieden wird bei der Retinopathie ein nichtproliferatives (nicht wucherndes) und ein proliferatives Stadium. Die diabetische Makulopathie geht mit einer Ödembildung, d.h. einer krankhaften Ansammlung von Flüssigkeit im Gewebe der Makula einher. Sie ist die häufigste Ursache des Visusverlustes bei Menschen mit Diabetes und kann u.a. zu Farbsinnstörungen und verschwommenem Sehen führen, aber auch zur Erblindung (vgl. Nationale Versorgungsleitlinie „Prävention und Therapie bei Netzhautkomplikationen bei Diabetes“, Langfassung, 2. Aufl. 2015, Version 2, abrufbar unter www.leitlinien.de, S. 11 f.; Praxisempfehlung „Diabetische Retinopathie und Makulopathie“ der DDG, Version Oktober 2019, abrufbar auf der Homepage der DDG, S. S240).
Damit leidet der Antragsteller an einer schweren, die Fahreignung ernsthaft bedrohende Erkrankung der Augen, die jedenfalls angesichts ihres Fortschreitens Anhaltspunkte dafür begründet, dass er die Anforderungen an das Sehvermögen nach Anlage 6 zur FeV nicht erfüllt. Entgegen der Auffassung des Antragstellers war das Landratsamt auch insoweit nicht gehalten, sich vorher um weitere Kenntnisse über die Schwere der Krankheit zu bemühen. Zwar beanspruchen die genannten Verhältnismäßigkeitserwägungen für die Anordnung einer augenärztlichen Begutachtung entsprechende Geltung. Vorliegend handelt es sich aber um eine komplexe Krankheit, bei der für den medizinischen Laien nicht ersichtlich ist, ob z.B. eine Auskunft des behandelnden Augenarztes zur Sehschärfe Eignungszweifel restlos ausräumt oder die Erkrankung noch weitere Sehfunktionen beeinträchtigt. Zudem benötigt das Landratsamt angesichts des Fortschritts der Erkrankung – Auswirkungen auf die Augen wurden bei der Begutachtung im Jahr 2015 verneint – eine gutachtliche Aussage dazu, ob und ggf. wann eine erneute Überprüfung notwendig ist (vgl. dazu auch Nr. 1.5 der Anlage 6 zur FeV). Dies deckt sich mit den Beurteilungsrichtlinien, wonach das Sehvermögen bei einer Retinopathie regelmäßig überprüft werden muss (a.a.O. Nr. 3.5). Schließlich wird dieses Ergebnis durch die Empfehlungen der Leitlinie „Diabetes und Straßenverkehr“ bestätigt, wonach bei bestehender fortgeschrittener diabetischer Retinopathie, bei diabetischer Makulopathie oder bei eingeschränkter Sehfähigkeit der Augenarzt die Fahrsicherheit hinsichtlich der Sehfunktionen prüfen soll und Menschen mit Diabetes auf regelmäßige Untersuchungen u.a. der Sehfähigkeit und des Augenhintergrundes hingewiesen werden sollen (a.a.O. S. 44).
Weiterhin leidet der Antragsteller nach dem vorgelegten Attest an einem grauen Star, d.h. einer Trübung der Linse. Diese führt u.a. zu einer Verminderung der Sehschärfe – bis hin zur Erblindung -, einer erhöhten Blendungsempfindlichkeit und einer verlangsamten Hell-Dunkel-Adaption (vgl. Pschyrembel online, Stand November 2018). Damit beeinträchtigt der graue Star, wie das Landratsamt in der Untersuchungsanordnung ausführt, insbesondere das Fahren in der Dunkelheit. Diese Erkrankung verläuft zwar schleichend und über mehrere Stadien, weshalb nach den o.g. Grundsätzen im Regelfall eine Vorabklärung geboten sein dürfte. Hier durfte das Landratsamt die Erkrankung aber jedenfalls deswegen mit in die Begutachtungsanordnung aufnehmen, weil Wechselwirkungen mit der Retinopathie und Makulopathie naheliegen.
dd) Diese beiden Anordnungen – eines ärztlichen sowie eines augenärztlichen Gutachtens – sind durch den zwischenzeitlich erfolgten Verzicht des Antragstellers auf die Fahrerlaubnis für Fahrzeuge der Gruppe 2 auch nicht gegenstandslos geworden.
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Anforderung eines ärztlichen bzw. augenärztlichen Gutachtens ist, wie bereits erwähnt, der Zeitpunkt der Anordnung (stRsp, vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – BVerwGE 156, 293 Rn. 14; BayVGH, B.v. 11.2.2019 – 11 CS 18.1808 – juris Rn. 18). Daraus folgt, dass das Landratsamt hier über eine teilweise Einstellung des Verfahrens hinaus, die auch konkludent erfolgen kann, nicht gehalten war, in Reaktion auf den Verzicht selbst tätig zu werden. Insbesondere musste es den Antragsteller nicht erneut zur Begutachtung auffordern oder seine Gutachtensanordnung anpassen, zumal der Antragsteller die Änderung der Sachlage selbst herbeigeführt hat.
Davon zu trennen ist, dass die gesetzte Frist zur Gutachtensvorlage nach allgemeinen Grundsätzen keine Ausschlussfrist ist und weitere Entwicklungen bis zum Abschluss des Behördenverfahrens stets berücksichtigt werden müssen. Insbesondere darf keine Ungeeignetheit mehr angenommen werden, wenn der Betroffene die ihm obliegende Mitwirkungshandlung im Widerspruchsverfahren nachholt und die Eignungszweifel somit bei der Entscheidung über den Widerspruch ausgeräumt sind (vgl. Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl. 2019, § 11 FeV Rn. 54; OVG Münster, B.v. 10.7.2002 – 19 E 808/01 – Blutalkohol 40, 462 = juris Rn. 8). Solche Entwicklungen sind hier aber nicht eingetreten. Insbesondere sind die Anordnungen, soweit sie sich auf die Eignung zum Führen von Fahrzeugen der Gruppe 1 beziehen, nicht gegenstandslos geworden. Denn die vorliegenden Erkrankungen begründen, wie dargelegt, auch insoweit Zweifel an der Fahreignung. Ferner bedarf hier auch keiner Erörterung, ob die Fahrerlaubnisbehörde bei einer derartigen Änderung der Sachlage verpflichtet sein könnte, dem Betroffenen auf Antrag hin vor Erlass des Widerspruchsbescheids eine (kurze) Frist zur Nachholung der – angepassten – Mitwirkungshandlungen einzuräumen. Hier hat das Landratsamt mit Schreiben vom 15. Juni 2020 sogar von sich aus angefragt, ob der Antragsteller bereit sei, die Begutachtungen nachzuholen. Dabei hat es klargestellt, dass diese sich nunmehr auf die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 beschränken würden, und damit zu erkennen gegeben, dass es die Fragestellungen an die Gutachter entsprechend anpassen würde. Der Antragsteller hat daraufhin mit Schreiben vom 23. Juni 2020 erklärt, die Begutachtung nach wie vor abzulehnen.
c) Davon ausgehend bleibt der Widerspruch des Antragstellers, soweit durch den Verzicht keine teilweise Erledigung eingetreten ist, voraussichtlich ohne Erfolg und überwiegt somit das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Entziehung der Fahrerlaubnis das Interesse des Antragstellers an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs. Denn bei Kraftfahrern, denen die erforderliche Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeugs fehlt, ist das Erlassinteresse regelmäßig mit dem Vollzugsinteresse identisch (stRspr, vgl. BayVGH, B.v. 16.11.2016 – 11 CS 16.1957 – juris Rn. 14; Hoppe in Eyermann, a.a.O., § 80 Rn. 46). Im Übrigen fiele aber auch eine allgemeine, von den Erfolgsaussichten des Hauptsacherechtsbehelfs losgelöste Interessenabwägung zu Lasten des Antragstellers aus, wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat. Der Antragsteller leidet an einer schwerwiegenden, fortschreitenden Erkrankung und hat seit Vorlage des Attests vom 20. Dezember 2017 keine Unterlagen über seinen Gesundheitszustand mehr eingereicht, so dass es angesichts der Gefahren für Leben, körperliche Unversehrtheit und Eigentum anderer Verkehrsteilnehmer durch fahrungeeignete Personen nicht vertretbar scheint, ihn zunächst weiterhin am Straßenverkehr teilnehmen zu lassen.
2. Die Beschwerde war demnach mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nr. 1.5 Satz 1, Nr. 46.1, Nr. 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.
3. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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