Medizinrecht

Ermessensentscheidung zum Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG

Aktenzeichen  AN 6 K 17.30147

Datum:
23.8.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 31872
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 113 Abs. 5
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1, S. 5

 

Leitsatz

1. Bei § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG handelt es sich um eine “Soll”-Vorschrift, die zwar eine strikte Bindung für den Regelfall vorsieht, jedoch Abweichungen in atypischen Fällen gestattet, bei denen aufgrund besonderer, konkreter Gründe der “automatische” Eintritt der regelmäßigen Rechtsfolge nicht mehr von der Vorstellung des Gesetzgebers getragen wird. (Rn. 20)
2. Von einer solchen Fallgestaltung ist im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nach der Auffassung des Gerichtes nunmehr jedenfalls grundsätzlich dann auszugehen, wenn ein Ausländer allein deshalb hier einen Asylantrag unter Missbrauch dieses Verfahrens stellt, um im Bundesgebiet unter Inanspruchnahme der hiesigen Versorgungssysteme eine gesundheitliche Behandlung zu erhalten, und wenn zudem aufgrund der voraussichtlichen Dauer oder Intensität der erforderlichen Gesundheitsbehandlung ganz erheblicher Aufwand oder erhebliche Kosten für die hiesigen Gesundheits-/Sozialsysteme zu erwarten sind. (Rn. 21)
3. Das in solchen Konstellationen grundsätzlich eröffnete Ermessen des Bundesamtes ist allerdings wiederum dann zugunsten des Asylbewerbers auf Null reduziert, wenn seine Gefährdung nach Abschiebung im Zielstaat das Ausmaß der sogenannten extremen Gefahr erreicht. Vorstellbar ist andererseits allerdings auch, dass im Einzelfall das Ermessen auf Null in Richtung auf die Versagung des Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG reduziert ist. (Rn. 24 – 25)
1 § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG garantiert keinen Anspruch auf optimale Behandlung einer Erkrankung oder auf Teilhabe am medizinischen Standard in Deutschland, soll aber den Ausländer vor einer gravierenden Verschlechterung seines Gesundheitszustands aufgrund einer schwerwiegenden Erkrankung alsbald nach der Rückkehr in den Zielstaat bewahren. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2 Dass das Asylverfahren von einer wachsenden Anzahl von Asylbewerbern zweckwidrig dazu benutzt wird, um das Fehlen durchgreifender Behandlungsmöglichkeiten aufgrund eines unzureichenden gesundheitlichen Versorgungssystems im Herkunftsstaat zu kompensieren, ist den Wirkungen einer allgemeinen Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 S. 5 AufenthG zumindest vergleichbar. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bundesamtsbescheides vom 3. Januar 2017 verpflichtet, über die Zuerkennung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beim Kläger zu 3) unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens haben die Kläger zu 5/6, die Beklagte zu 1/6 zu tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

I.
Die zulässige Klage ist insoweit begründet, als der Kläger zu 3) einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Neuverbescheidung über das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Armeniens hat. Soweit die Ziffern 4 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes vom 3. Januar 2017 dem entgegenstehen, sind sie aufzuheben.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von einer Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen, wie sie für den Kläger zu 3) hier ausschließlich geltend gemacht wird, liegt nach Satz 2 dieser Vorschrift nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern, also zu außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden führen würden, wobei die wesentliche Verschlechterung alsbald nach der Rückkehr in den Zielstaat eintreten müsste (vgl. VG Augsburg, U.v. 1.10.2018 – Au 5 K 17.32950 – juris Rn. 62 m.w.N.). Eine entsprechende Gefahr kann sich auch daraus ergeben, dass der erkrankte Ausländer eine an sich im Zielstaat verfügbare medizinische Behandlung dort tatsächlich nicht erlangen kann. Dies kann beispielsweise dann der Fall sein, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation dem betroffenen Ausländer aus finanziellen Gründen nicht zugänglich ist (BVerwG, U.v. 29.10.2002 – 1 C 1.02 – juris). Allerdings muss sich der Ausländer grundsätzlich auf den im Heimatland vorhandenen Versorgungsstand im Gesundheitswesen verweisen lassen. Denn § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG garantiert keinen Anspruch auf „optimale Behandlung“ einer Erkrankung oder auf Teilhabe an dem medizinischen Standard in Deutschland. Der Abschiebungsschutz soll den Ausländer vielmehr vor einer gravierenden Beeinträchtigung seiner Rechtsgüter bewahren (OVG NW, B.v. 14.6.2005 – 11 A 4518/02.A – juris). Dass die medizinische Versorgung im Zielstaat (Armenien) mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig oder überall gewährleistet ist, ist hierbei nicht erforderlich (§ 60 Abs. 7 Satz 3 und 4 AufenthG).
Gemessen an diesen Maßstäben ist entgegen der Auffassung der Beklagten im streitgegenständlichen Bescheid für den Kläger zu 3) vom Vorliegen einer erheblichen konkreten Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aus gesundheitlichen Gründen bei Rückkehr in sein Heimatland auszugehen. Die Kläger vermochten durch Vorlage entsprechender ärztlicher Atteste zur Überzeugung des Gerichts zu belegen, dass der Kläger zu 3) an einer Muskeldystrophie vom Typ Duchenne leidet. Dabei handelt es sich um eine neuromuskuläre, fortschreitend verlaufende, lebenslimitierende Erkrankung, die nach den fachärztlichen Stellungnahmen einer interdisziplinären fachärztlichen und physiotherapeutischen Betreuung und Versorgung bedarf. Um den Krankheitsverlauf zu verzögern, ist beim Kläger zu 3) insbesondere eine medikamentöse Therapie mit Cortison eingeleitet worden. Laut glaubhafter ärztlicher Stellungnahme muss diese Therapie unter strenger und kontinuierlicher fachärztlichen Betreuung und Kontrolle erfolgen, da andernfalls erhebliche Nebenwirkungen (wie etwa Erblindung) zu befürchten sind. Eine unkontrollierte Absetzung des Medikaments kann zudem tödlich verlaufen. Neben der Cortison-Therapie ist der Kläger insbesondere auch auf regelmäßige und konsequente Physiotherapie zur Mobilisierung der Gelenke sowie auf regelmäßige Atemgymnastik angewiesen. Im Falle eines Behandlungsabbruchs muss laut fachärztlicher Einschätzung sicher mit einer rascheren Verschlechterung des Gesundheitszustands des Klägers zu 3) gerechnet werden, als dies ohnehin bei dieser Krankheit zu erwarten ist. Zusammengefasst würde damit die Herausnahme des Klägers zu 3) aus den hier eingeleiteten Behandlungen und Kontrollen zumindest mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer alsbaldigen wesentlichen Verschlechterung seines Krankheitsbildes führen. In Anbetracht der persönlichen Verhältnisse der Kläger in ihrem Heimatland und unter Berücksichtigung der Auskunftslage zur dortigen Gesundheitsversorgung kann aber insgesamt nicht davon ausgegangen werden, dass eine Weiterführung der verschiedenen medizinischen Behandlungen des Klägers zu 3) im Falle seiner Rückkehr gewährleistet ist. Das Gesundheitssystem Armeniens weist nach dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 17. April 2018 erhebliche Einschränkungen auf. Grundsätzlich kostenfrei ist lediglich die primäre ärztliche Versorgung. Dies gilt hingegen nur eingeschränkt für die sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung. Das Fehlen einer staatlichen Krankenversicherung erschwert den Zugang zur medizinischen Versorgung insoweit, als für einen großen Teil der Bevölkerung die Finanzierung der kostenpflichtigen ärztlichen Versorgung extrem schwierig geworden ist. Viele Menschen sind nicht in der Lage, die Gesundheitsdienste aus eigener Tasche zu bezahlen. Der Abschluss einer privaten Krankenversicherung übersteigt die finanziellen Möglichkeiten der meisten Familien bei weitem. Das Grundproblem der staatlichen medizinischen Fürsorge ist zudem die nach wie vor bestehende Korruption auf allen Ebenen, ein weiteres Problem die schlechte Bezahlung des medizinischen Personals. Dies führt dazu, dass die Qualität der medizinischen Leistungen des öffentlichen Gesundheitswesens in weiten Bereichen unzureichend ist. Denn hochqualifizierte und motivierte Mediziner wandern in den privatärztlichen Bereich ab, wo Arbeitsbedingungen und Gehälter deutlich besser sind. Zwar ist der Ausbildungsstand des medizinischen Personals insgesamt zufriedenstellend. Die Ausstattung der staatlichen medizinischen Einrichtungen mit technischem Gerät ist dagegen teilweise mangelhaft. Lediglich in einzelnen klinischen Einrichtungen – meist Privatkliniken – stehen moderne Untersuchungsmethoden wie Ultraschall, Mammographie sowie Computer- und Kernspintomographie zur Verfügung. Hinzu kommt, dass nach der von Klägerseite vorgelegten Einschätzung des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich vom 15. Januar 2018 die öffentlichen Sozialpflegedienste in Armenien sehr begrenzt sind. Der private Sektor ist an der Erbringung dieser Leistungen nicht beteiligt. Es gibt nur ein einziges Krankenhaus für geistig und körperlich behinderte Menschen und keine Pflegeheime für Patienten, die eine dauerhafte, langfristige Betreuung benötigen. Es gibt keine Vorkehrungen für eine langfristige Aufnahme von Patienten mit chronischen Erkrankungen und keine Tagespflegeeinrichtungen für Patientengruppen mit speziellen Bedürfnissen und ebenfalls kein Sozialarbeiternetzwerk. Vor dem Hintergrund dieser Auskunftslage bestehen seitens des Gerichts durchgreifende Bedenken daran, dass dem Kläger zu 3) die nach ärztlicher Einschätzung erforderliche interdisziplinäre fachärztliche und physiotherapeutische Betreuung in seinem Heimatland – jedenfalls über einen kurzen Zeitraum hinaus – zur Verfügung steht. Es ist in Anbetracht der Erkrankung des Klägers zu 3) nicht davon auszugehen, dass er in Zukunft in Armenien einer Erwerbstätigkeit wird nachgehen können. Vor diesem Hintergrund wird er im Wesentlichen auf die finanzielle Unterstützung und Betreuung durch seine Familienangehörigen angewiesen sein. Sein Vater – der Kläger zu 1) – gab an, dass er in Armenien zuletzt als angestellter Koch gearbeitet habe. Seine Mutter – die Klägerin zu 2) – ist ihren Angaben nach gelernte Erzieherin, die jedoch wegen der Betreuung ihres Sohnes zuletzt keiner Beschäftigung nachgegangen ist. Dass die Familienangehörigen des Klägers zu 3) aufgrund ihres Einkommens eine privilegierte privatärztliche Behandlung des erforderlichen Umfangs jedenfalls über einen kurzen Zeitraum hinaus in Armenien werden finanzieren können, erscheint vor dem Hintergrund dieser Angaben und unter Berücksichtigung der Auskunftslage zur medizinischen Versorgung nahezu ausgeschlossen. Es bestehen überdies auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Kläger in ihrem Heimatland noch über ein nennenswertes Vermögen verfügen. Dafür, dass in Armenien die erforderliche medizinische Versorgung des Klägers zu 3) nicht gewährleistet ist, spricht zudem das von den Klägern zu 1) und zu 2) geschilderte Schicksal ihres bereits verstorbenen älteren Sohnes, der an der gleichen Erkrankung gelitten haben soll wie der Kläger zu 3). Dieser habe mit etwa sieben Jahren seine Gehfähigkeit verloren und sei bereits mit zwölf Jahren an Atemnot gestorben. In ihrer Heimat habe insofern insbesondere weder eine medikamentöse noch physiotherapeutische Behandlung stattgefunden. Auch sei eine ausreichende Versorgung mit Sauerstoff nicht rechtzeitig möglich gewesen. Der Kläger zu 1) gab im Rahmen der mündlichen Verhandlung zudem an, dass etwaigen Schmerzen lediglich mit Schmerzmitteln begegnet worden sei. Diese Schilderungen stuft das Gericht weitgehend als glaubhaft ein. Bei der Muskeldystrophie vom Typ Duchenne handelt es sich um eine Erbkrankheit, die laut vorgelegter Analyse des Zentrums Medizinische Genetik … vom 26. August 2015 einem X-chromosomal rezessiven Erbgang mit hoher Neumutationsrate folgt. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Erkrankung eines weiteren Sohnes der Familie nicht unwahrscheinlich. Ferner wurden die Angaben der Kläger auch von fachärztlicher Seite bestätigt. Laut vorgelegtem ärztlichen Attest des Universitätsklinikums … vom 23. Januar 2017 entspreche der von den Klägern zu 1) und 2) geschilderte Verlauf der Krankheit bei ihrem älteren Sohn statistisch gesehen dem Verlauf ohne die in Deutschland beim Kläger zu 3) eingeleitete medikamentöse Therapie.
Nach alledem ist für den Kläger zu 3) eine erhebliche konkrete Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu bejahen. Aufgrund dessen ist die Klage insoweit begründet, als der Kläger zu 3) gegen die Beklagte unter Berücksichtigung des oben Gesagten einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Neuverbescheidung hat. Ein darüber hinausgehender Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes besteht vorliegend jedoch nicht. Insoweit bleibt das Verpflichtungsbegehren des Klägers zu 3) nur teilweise erfolgreich.
Zwar sind – wie gesehen – die Tatbestandsvoraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG entgegen der Annahme der Beklagten hier gegeben. Bei § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG handelt es sich jedoch gemäß seinem Wortlaut um eine „Soll“-Vorschrift. Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor, soll als Rechtsfolge von einer Abschiebung abgesehen werden (vgl. insofern auch die Gesetzesbegründung in BT-Drs. 15/420 S. 91: „soll […] normalerweise […]“). Die Regelung in einer Rechtsvorschrift, dass eine Behörde sich in bestimmter Weise verhalten soll, bedeutet zwar eine strikte Bindung für den Regelfall, gestattet jedoch Abweichungen in atypischen Fällen, bei denen aufgrund besonderer, konkreter Gründe der „automatische“ Eintritt der regelmäßigen Rechtsfolge nicht mehr von der Vorstellung des Gesetzgebers getragen wird. Dieses reduzierte Ermessen ist bei Entscheidungen über Asylanträge nach dem Asylgesetz, wie hier, seit dem Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes im Jahr 2007 auch nicht mehr der Ausländerbehörde, sondern dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zugewiesen (vgl. etwa Bodenbender in GK-AsylG § 24 Rn. 12 f., m.w.N.). Das Bundesamt darf bei seiner Entscheidung zu einem Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG von der Regel dementsprechend in solchen Fällen abweichen, in denen die für den Normalfall geltende Regelung von der ratio legis nicht mehr gefordert wird (vgl. Ramsauer in Kopp/Ramsauer, 18. Auflage 2017, § 40 Rn. 64 m.w.N.).
Von einer solchen Fallgestaltung ist im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nach der Auffassung des Gerichts aber nunmehr jedenfalls grundsätzlich dann auszugehen, wenn ein Ausländer allein deshalb hier einen Asylantrag unter Missbrauch dieses Verfahrens stellt, um im Bundesgebiet unter Inanspruchnahme der hiesigen Versorgungssysteme eine gesundheitliche Behandlung zu erhalten, und wenn zudem aufgrund der voraussichtlichen Dauer oder Intensität der erforderlichen Gesundheitsbehandlung ganz erheblicher Aufwand oder erhebliche Kosten für die hiesigen Gesundheits-/Sozialsysteme zu erwarten sind. Der Gesetzgeber hat die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern unter Berücksichtigung des jeweiligen Aufenthaltszwecks einer differenzierten gesetzlichen Regelung unterzogen, wobei insbesondere auf den Schutz der Sozial- und Gesundheitssysteme vor etwaigen Belastungen ein besonderes Augenmerk gelegt wird (vgl. etwa § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, Art. 15 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009). Vor diesem Hintergrund ist gerade nicht davon auszugehen, dass der Gesetzgeber in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG für solche Konstellationen einen Abschiebeschutz als gesetzlichen Regelfall vorsehen wollte, in denen Ausländer (rechtsmissbräuchlich) über das Asylverfahren eigentlich eine Krankenbehandlung im Bundesgebiet – unter Umgehung des insofern vorgesehenen aufenthaltsrechtlichen Verfahrens – erstreben.
Für die Eröffnung des Verwaltungsermessens in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bei derartigen Fällen spricht im Übrigen zugleich die Regelung in § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG. Nach dieser Vorschrift sind Gefahren, denen die Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe allgemein ausgesetzt sind, nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Sie fallen demnach grundsätzlich nicht unter § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Mit dieser Regelung soll nach dem Willen des Gesetzgebers erreicht werden, dass dann, wenn eine bestimmte Gefahr der ganzen Bevölkerung bzw. Bevölkerungsgruppe im Zielstaat gleichermaßen droht, über deren Aufnahme oder Nichtaufnahme nicht im Einzelfall durch das Bundesamt, sondern für die ganze Gruppe der potenziell Betroffenen einheitlich durch eine politische Leitentscheidung des Innenministeriums im Wege des § 60a AufenthG befunden wird (BVerwG, U.v.13.6.2013 – 10 C 13.12 – Rn. 13 m.w.N.).
Zwar sind die dortigen Tatbestandsvoraussetzungen hier nicht erfüllt, die Regelung bestätigt jedoch die Annahme einer Aktivierung des Rest-Ermessens in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in der oben dargestellten Missbrauchskonstellation, denn der in Satz 5 als Ausnahme von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausformulierte Tatbestand ist maßgeblich dadurch gekennzeichnet, dass wegen der nicht durch den individuellen Einzelfall geprägten Umstände, wegen der erheblichen Zahl der in gleicher Weise „Betroffenen“ und wegen der daraus folgenden Konsequenzen für die Bundesrepublik Deutschland als Aufnahmestaat gerade keine gebundenen Einzelfallentscheidungen erfolgen sollen. Eine vergleichbare Situation, die der Gesetzgeber so nicht bei der erstmaligen Einführung dieser Regelung in das Ausländerrecht und auch nicht bei deren Übernahme in das AufenthG im Jahr 2004 im Blick hatte, sondern sich vielmehr erst danach entwickelt hat, ergibt sich aus dem gehäuften, zielgerichteten, erfolgreichen Missbrauch des Asylverfahrens, allein um sich so Zugang für die meist aufwändige Betreuung bei gesundheitlichen Beeinträchtigungen bzw. die meist aufwändige Behandlung von Krankheiten in den Gesundheits-/Sozialsystemen der Bundesrepublik Deutschland zu verschaffen. Dieses Phänomen, das bezogen auf das Herkunftsland Armenien schon systematische Züge angenommen hat, ist auch keineswegs auf dieses Herkunftsland beschränkt, sondern hat gerade in den letzten Jahren – mit einem Schwerpunkt bei den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, aber beileibe nicht nur dort – zahlenmäßig immer weiter um sich gegriffen. Auch wenn man dabei nicht – bezogen auf ein bestimmtes Herkunftsland – den typischen Fall einer „Bevölkerungsgruppe“ im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG vor Augen hat, ist die Gesamtzahl der nach Deutschland eingereisten Asylbewerber, die über den Asylbewerberstatus ausschließlich die (kostenfreie) Behandlung gesundheitlicher Gebrechen erstrebt, derart angewachsen, dass diese Asylbewerber in ihrem Erscheinungsbild durchaus einer Bevölkerungsgruppe in diesem Sinn nahe kommen. Dass das Asylverfahren von einer wachsenden Vielzahl von Asylbewerbern zweckwidrig nur dazu benutzt wird, um im Herkunfts- bzw. Zielstaat das Fehlen einer durchgreifenden Behandlungsmöglichkeit für sie bei schwerwiegenden Erkrankungen aufgrund eines unzureichenden gesundheitlichen Versorgungssystems zu kompensieren, ist den Wirkungen einer allgemeinen Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG zumindest vergleichbar (vgl. zu einer direkten Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG wegen der unzureichenden medizinischen Versorgungslage in einem Herkunftsland BayVGH, B.v. 21.9.2016 – 10 C 16.1164 – juris). Mithin führen diese Überlegungen ebenso dazu, dass es bei Tatbestandserfüllung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in derartigen (Rechtsmissbrauchs-)Fällen vor der Feststellung eines Abschiebehindernisses grundsätzlich noch der Betätigung des dort in atypischen Fällen eröffneten Ermessens – ggf. aufgrund ermessenslenkender Vorgaben – von Seiten der Exekutive bedarf, die das Gericht nicht ersetzen kann (vgl. § 114 VwGO).
Ausnahmsweise wiederum ist allerdings – wie auch zu § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG – das daher grundsätzlich eröffnete Ermessen des Bundesamtes in der gerade skizzierten Missbrauchskonstellation dann zu Gunsten des Asylbewerbers auf Null reduziert, wenn seine Gefährdung nach Abschiebung im Zielstaat das Ausmaß der sogenannten extremen Gefahr (die seit der grundlegenden Entscheidung des BVerwG v. 12.7.2001 – 1 C 5.01 – juris mit der Formel „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde“ umschrieben wird) erreicht. Denn dann ist von Verfassung wegen (Art. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) die Zuerkennung von Abschiebeschutz unmittelbar geboten.
Vorstellbar ist andererseits außerdem, dass im Einzelfall das Ermessen auf Null in Richtung auf die Versagung des Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG reduziert ist.
Im Fall des Klägers zu 3) liegen hier aber die oben genannten Voraussetzungen für die Eröffnung des Ermessens auf Rechtsfolgenseite vor, ohne dass dieses in der einen oder anderen Richtung auf Null reduziert wäre. Insbesondere liegt aus Sicht des Gerichts kein Fall vor, in dem der Kläger zu 3) bei Rückführung in sein Heimatland „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert“ werden würde. Die Krankheit des Klägers zu 3) ist bereits vor seiner Ausreise aus Armenien zu Tage getreten und diagnostiziert worden. Der Gesundheitszustand des Klägers zu 3) hat sich seitdem (noch) nicht soweit verschlechtert, dass er auf eine medizinische Behandlung derart angewiesen wäre, dass bei ihrem Absetzen mit hoher Wahrscheinlichkeit mit seinem sofortigem Tod oder mit schwersten Verletzungen gerechnet werden müsste. Die gegenwärtige Behandlung zielt nach den vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen nicht darauf ab, beim Kläger zu 3) aktuell den Ausfall von Vitalfunktionen – wie etwa die Atmung – zu verhindern; vielmehr dient sie maßgeblich dazu, das weitere Fortschreiten des Krankheitsverlaufs – wenn auch nicht unerheblich (s.o.) – zu verzögern.
Bei diesem Befund kann sich der Kläger zu 3) im Übrigen mangels ganz besonderer Gefahrenintensität auch nicht in gesundheitlicher Hinsicht auf den – zwingenden – Abschiebeschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG (i.V.m. der EMRK) berufen. Abschiebeschutz nach dieser Vorschrift hat das Bundesamt rechtsfehlerfrei verneint.
Nicht bestehen bleiben können dabei allerdings schließlich noch gegenüber dem Kläger zu 3) die Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung in Nr. 5 und der Ausspruch zum Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG in Nr. 6 des streitgegenständlichen Bundesamtsbescheides vom 3. Januar 2017. Diese sind mit aufzuheben, weil – bezüglich Nr. 5 – dem Kläger zu 3) damit bereits die Abschiebung angedroht ist, obwohl die gemäß §§ 31 Abs. 5, 34 Abs. 1 AsylG zwingend vorrangige Entscheidung über ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erst noch zu treffen ist, und weil – bezüglich Nr. 6 – darin trotz des vordergründigen gesetzlichen Wortlauts in § 11 AufenthG überhaupt erst die Verhängung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG im Einzelfall begründet liegt (vgl. dazu BVerwG, B.v. 13.7.2017 – 1 VR 3/17 – juris Rn. 70 ff.), die wiederum maßgeblich vom Bestehen einer Abschiebungsanordnung abhängt.
Eine weitere Sachaufklärung des Gerichts war bei alledem nicht veranlasst. Insbesondere war den im Rahmen der mündlichen Verhandlung gestellten bedingten Beweisanträgen der Klägerseite hier nicht zu entsprechen. Mit den zum Beweis gestellten Tatsachen sollte das Vorliegen einer erheblichen konkreten Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG für den Kläger zu 3) begründet werden. Eine derartige Gefahr sieht das Gericht nach dem oben Gesagten jedoch bereits aufgrund der vorliegenden Erkenntnismittel als erwiesen an (vgl. § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO).
II.
Was die Kläger zu 1) und zu 2) betrifft, bleibt die Klage in vollem Umfang ohne Erfolg. Insoweit folgt das Gericht den Feststellungen und der Begründung des Bescheides vom 3. Januar 2017 und sieht daher von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 2 AsylG).
III.
Nach alledem war der Klage – nur – hinsichtlich des Klägers zu 3) und auch bei ihm nur im oben beschriebenen Umfang stattzugeben. Darüber hinaus blieb sie erfolglos.
Die Kostenentscheidung ergeht daher gemäß § 155 Abs. 1 VwGO (i.V.m. § 161 Abs. 1 VwGO) nach dem Maß des jeweiligen Obsiegens bzw. Unterliegens. Dem entspricht hier insgesamt eine Aufteilung von 5/6 zu Ungunsten der Kläger und 1/6 zu Ungunsten der Beklagten. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Die Aussprüche zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruhen auf § 167 Abs. 1 und Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.


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