Medizinrecht

Erstattung von Jugendhilfeleistungen – Kosten für Schulbegleiter

Aktenzeichen  W 3 K 15.1434

Datum:
7.12.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 150972
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB X § 104 Abs. 1
SGB IX § 14
SGB VIII § 10 Abs. 4
SGB VIII § 35a
SGB XII § 53, § 54
Eingliederungshilfe-Verordnung § 3 Nr. 2, § 12

 

Leitsatz

Beim Asperger Syndrom handelt es sich um eine seelische Behinderung und nicht um eine Mehrfachbehinderung. (Rn. 52 – 56)

Tenor

I. Der Beklagte wird verurteilt, die dem Kläger vom 15. September 2009 bis zum 31. Juli 2011 entstandenen Aufwendungen für einen Schulbegleiter für J. S. in Höhe von 8.413,50 EUR zu erstatten.
II. Die Kosten des Verfahrens hat der Beklagte zu tragen.
III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens, über das gemäß § 101 Abs. 2 VwGO mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte, ist die Erstattungspflicht des Beklagten gegenüber dem Kläger hinsichtlich Kosten in Höhe von 8.413,50 EUR, welche der Kläger für einen Schulbegleiter für J. S. für den Zeitraum vom 15. September 2009 bis zum 31. Juli 2011 aufgewendet hat.
Die zulässige Leistungsklage ist begründet. Der Beklagte ist gegenüber dem Kläger erstattungspflichtig.
Grundlage des Erstattungsanspruchs des Klägers ist § 104 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 19. Januar 2001 (BGBl I, S. 130), zuletzt geändert durch Gesetz vom 30. Oktober 2017 (BGBl I, S. 3618), – SGB X –. Hat ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht, ohne dass die Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen, ist nach dieser Vorschrift der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat.
§ 104 SGB X ist auf den vorliegenden Fall anwendbar und nicht etwa durch die Vorschrift des § 14 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (Art. 1 des Gesetzes vom 19.6.2001, BGBl I, S. 1046), zuletzt geändert durch Gesetz vom 29. März 2017 (BGBl I, S. 626), – SGB IX – ausgeschlossen. Dies war zwischen den Parteien streitig, ist jedoch nunmehr durch das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes vom 7. Oktober 2013 (12 B 11.1886 – juris) geklärt. Hiernach zielt § 14 SGB IX in erster Linie darauf ab, zwischen den betroffenen behinderten Menschen und etwaigen Rehabilitationsträgern die Zuständigkeit schnell und dauerhaft zu klären. Die in § 14 Abs. 1 und 2 SGB IX geregelte Zuständigkeit erstreckt sich im Außenverhältnis (behinderter Mensch/Rehabilitationsträger) auf alle Rechtsgrundlagen, die in der konkreten Bedarfssituation für den Rehabilitationsträger vorgesehen sind. Streitigkeiten über die Zuständigkeitsfrage einschließlich der vorläufigen Leistungserbringung bei ungeklärter Zuständigkeit sollen nach § 14 Abs. 1 und 2 SGB IX nicht zu Lasten der behinderten Menschen gehen. Bliebe es aber auch im Innenverhältnis der Rehabilitationsträger untereinander bei dieser Zuständigkeitsverteilung, wäre also die in § 14 Abs. 1 und 2 SGB IX geregelte Zuständigkeit auch dafür maßgeblich, wer letztlich die Lasten der Rehabilitation zu tragen hat, so würden die bisher geltenden Zuständigkeitsnormen außerhalb des Neunten Buches Sozialgesetzbuch im Wesentlichen obsolet. Notwendiges Korrelat der schnellen und strikten Zuständigkeitsklärung im Außenverhältnis zum Hilfebedürftigen unter Beibehaltung des gegliederten Sozialsystems ist deshalb ein umfassender Ausgleichsmechanismus. Um dies zu gewährleisten, bedarf es eines Ausgleichssystems, das an die Zuständigkeiten außerhalb des § 14 SGB IX anknüpft. Es ist Aufgabe der Erstattungsansprüche nach §§ 102 ff. SGB X, diesen Ausgleich vorzunehmen (BayVGH, U.v. 7.10.2013 – 12 B 11.1886 – juris Rn. 21 m.w.N.).
Hieraus ergibt sich der Grundgedanke, dass – wie im vorliegenden Fall – ein Träger, der seine Zuständigkeit geprüft und bejaht hat, im Nachhinein zu einer diesbezüglichen Korrektur im Rahmen der Erstattung berechtigt sein muss, so dass er einen Anspruch wegen nachrangiger Verpflichtung aus § 104 SGB X geltend machen können muss. Eine Ausnahme hiervon gilt lediglich dann, wenn der erstangegangene Träger das Weiterleitungsgebot des § 14 Abs. 1 Satz 2 SGB X missachtet und zielgerichtet in fremde Zuständigkeiten eingegriffen hat. Dies ist vorliegend jedoch nicht der Fall.
Der Kläger kann sich erfolgreich auf § 104 SGB X berufen.
Zunächst ist festzustellen – und dies wird von den Parteien auch nicht in Frage gestellt –, dass die Voraussetzungen des § 103 SGB X nicht vorliegen. Dies bedarf keiner vertieften Erörterung.
Weiterhin ist festzustellen, dass das Kind J. S. im Zeitraum vom 15. September 2009 bis zum 31. Juli 2011 unstreitig einen Bedarf für Eingliederungshilfe hatte. Dies ergibt sich daraus, dass bei J. S. – von den Parteien nicht in Frage gestellt – ein Asperger-Syndrom (ICD F84.5) sowie eine einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (ICD F90.0) diagnostiziert worden sind, die dazu führen, dass J. S. wesentlich in seiner Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt ist. Dies ergibt sich aus der „fachärztlichen Empfehlung“ der Gemeinschaftspraxis Dr. O. vom 26. August 2008, in welcher Dr. med. O. und Dipl.-Psych. G. eine zusammenfassende Beurteilung abgeben, wonach J. S. in seinen Beziehungen zur Umwelt, der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft und in seiner Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft massiv beeinträchtigt ist. Gleiches ergibt sich auch aus dem Schreiben des Landesarztes Prof. Dr. A. W. vom 9. März 2009, der ebenfalls davon ausgeht, dass J. S. wesentlich in seiner Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt ist.
Verpflichtet, diese Eingliederungshilfe zu leisten, waren sowohl der Kläger als auch der Beklagte.
Nach § 53 Abs. 1 Satz 1 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (Art. 1 des Gesetzes vom 27.12.2003, BGBl I, S. 3022), zuletzt geändert durch Gesetz vom 17. August 2017 (BGBl I, S. 3214), – SGB XII – erhalten Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und so lange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Dies trifft vorliegend unstreitig auf J. S. zu.
Leistungen der Eingliederungshilfe umfassen nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII in Verbindung mit § 12 der Verordnung nach § 60 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. Februar 1975 (BGBl I, S. 433), zuletzt geändert durch Gesetz vom 23. Dezember 2016 (BGBl I, S. 3234) – Eingliederungshilfe-Verordnung – auch die Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung und damit auch heilpädagogische sowie sonstige Maßnahmen zugunsten körperlich und geistig behinderter Kinder und Jugendlicher, wenn die Maßnahmen erforderlich und geeignet sind, dem behinderten Menschen den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zu ermöglichen oder zu erleichtern. Hierzu gehört auch die Bereitstellung eines Schulbegleiters. Zuständiger überörtlicher Träger der Sozialhilfe im Sinne des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch ist gemäß § 3 Abs. 1, Abs. 3 SGB XII in Verbindung mit Art. 81 Abs. 1, Art. 82 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Ausführung der Sozialgesetze (AGSG) vom 8. Dezember 2006 (GVBl S. 942) zuletzt geändert durch Gesetz vom 13. Dezember 2016 (GVBl S. 335) der Bezirk, vorliegend der örtlich zuständige Bezirk Unterfranken, der Kläger.
Nach § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (Art. 1 des Gesetzes vom 26.6.1990, BGBl I, S. 1163), zuletzt geändert durch Gesetz vom 30. Oktober 2017 (BGBl I, S. 3618), – SGB VIII – haben Kinder oder Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilnahme am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist. Unstreitig ist bei J. S. eine (zumindest auch) seelische Behinderung in diesem Sinne vorhanden. Die Hilfe wird nach dem Bedarf im Einzelfall gemäß § 35a Abs. 2 Nr. 1 SGB VIII unter anderem in ambulanter Form geleistet. Nach § 35a Abs. 3 SGB VIII richtet sich unter anderem die Art der Leistung nach § 53 Abs. 3 und 4 Satz 1, § 54 des Zwölften Buches, soweit diese Bestimmungen auch auf seelische behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte Person Anwendung finden. Zuständige örtliche Träger der Jugendhilfe sind in diesem Fall nach § 69 Abs. 1 SGB VIII in Verbindung mit Art. 15 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 AGSG die Landkreise und kreisfreien Städte, vorliegend also der Landkreis …, der Beklagte.
Zwischen den Verpflichtungen sowohl des Klägers als Träger der Sozialhilfe als auch des Beklagten als Träger der Jugendhilfe schafft § 10 Abs. 4 SGB VIII ein Vorrang-Nachrangverhältnis im Sinne des § 104 SGB X.
Nach § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII gehen die Leistungen nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch vor. Nach § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII gehen abweichend von Satz 1 u.a. Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Zwölften Buch für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert sind oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, den Leistungen nach dem Achten Buch vor.
Diese Kollisionsnorm ist indes nur anwendbar, wenn die Leistung nach dem Jugendhilferecht und die Leistung nach dem Sozialhilferecht gleich, gleichartig, einander entsprechend, kongruent, einander überschneidend und deckungsgleich sind (Wiesner in Wiesner, SGB VIII, Komm., 5. Aufl. 2015 § 10 Rn. 32 m.w.N.). Dies ist vorliegend der Fall.
Mit dieser Regelung besteht ein Vorrang der Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII für seelisch behinderte junge Menschen, ein Vorrang der Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch für körperlich oder geistig behinderte junge Menschen. Handelt es sich jedoch um eine Mehrfachbehinderung, so ist zu differenzieren: Sofern unterschiedliche Behinderungen unterschiedliche Leistungen erfordern, sind jeweils unterschiedliche Leistungsträger zuständig. In diesem Fall besteht keine Leistungskollision, die Pflichten mehrerer Leistungsträger bestehen nebeneinander. Werden allerdings durch eine (einzige) Leistung die Eingliederungsbedarfe wegen der unterschiedlichen Behinderung gedeckt, so besteht eine Kollision und die Leistungen nach dem Zwölften Buch gehen vor. Maßgeblich ist also der durch die Leistung tatsächlich gedeckte Bedarf. Gleiches gilt, wenn die Leistung zumindest auch auf den Hilfebedarf wegen geistiger und/oder körperlicher Behinderung eingeht. Auf den Schwerpunkt der Behinderung kommt es bei der Abgrenzung nicht an (Wiesner, a.a.O., Rn. 31 ff., Rn. 37 bis 38a).
Im vorliegenden Fall kommt es somit darauf an, ob es sich bei der Behinderung von J. S. um eine seelische oder um eine Mehrfachbehinderung handelt, aufgrund welcher Eingliederungshilfe in Form der Übernahme der Kosten für einen Schulbegleiter gewährt worden ist.
In der „fachärztlichen Empfehlung“ der Gemeinschaftspraxis Dr. O. ist als Behinderung des J. S. die Diagnose Asperger Syndrom und einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung sowie – für den vorliegenden Fall nicht entscheidungserheblich – Enuresis nocturna (ICD F98.0) festgehalten. Diese Diagnose wird von den Parteien nicht in Frage gestellt. Streitig ist auch nicht die Einschätzung, dass allein die einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung zumindest eine seelische Behinderung darstellt. Streitig ist aber zwischen den Parteien, ob es sich beim Asperger Syndrom – wie der Kläger meint – um eine rein seelische Behinderung handelt oder – so der Beklagte – um eine Mehrfachbehinderung, ob also das Asperger Syndrom neben einer seelischen Behinderung auch eine geistige oder körperliche Behinderung mit sich bringt.
Der Beklagte stützt seine Ansicht auf die Argumentation, laut aktueller Einschätzung des Bundesverbandes Autismus e.V. dürfe selbst in Fällen mit Asperger Syndrom als einer milden Ausprägung autistischer Störungen aufgrund neuerer Erkenntnisse der neurobiologischen Forschung bezweifelt werden, dass eine rein seelische Störung vorliege, da nach diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen jeder Form autistischer Störung eine Schädigung des zentralen Nervensystems zugrunde liege und damit eine organische Ursache für die Störung vorliege. Die bei J. S. vorliegenden psychischen Auffälligkeiten seien mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Folgeerscheinung der grundlegenden autistischen Störung. Weiterhin bezieht sich der Beklagte auf die „fachärztliche Empfehlung“ der Gemeinschaftspraxis Dr. O. vom 26. August 2008 und auf die Stellungnahme des Landesarztes Prof. Dr. W. vom 9. März 2009.
Unstreitig zwischen den Parteien ist, dass bei J. S. zumindest eine seelische Behinderung vorliegt, also dass seine seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für sein Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher seine Teilhabe am Leben und der Gesellschaft beeinträchtigt ist (vgl. sowohl § 35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII als auch § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i.V.m. § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX).
Es liegt auf der Hand, dass bei J. S. keine geistige Behinderung zu verzeichnen ist, dass also seine geistigen Fähigkeiten gemäß § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i.V.m. § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für sein Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Dies ergibt sich daraus, dass die Gemeinschaftspraxis Dr. O. unter dem 26. August 2008 aufgrund der Überprüfung der intellektuellen Leistungsfähigkeit mit der Kaufman-Assessment Battery Skale for Children (K-ABC) festgestellt hat, dass J. S. eine Leistung erreicht, die im Vergleich zur Bezugspopulation im mittleren Durchschnittsbereich liegt. Dies ist für das Gericht nachvollziehbar.
Nicht nachvollziehbar ist für das Gericht allerdings die Einschätzung in dieser „fachärztlichen Empfehlung“, aufgrund der „deutlichen Hinweise auf ein Asperger Syndrom“ sei J. S. in seinen Beziehungen zur Umwelt, der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft und in seiner Fähigkeit zur Eingliederung in der Gesellschaft massiv beeinträchtigt, da sowohl kognitive als auch sprachliche, motorische, emotionale und interaktionale Aktionen betroffen seien, so dass es sich um eine tiefgreifende Entwicklungsstörung und um eine Mehrfachbehinderung handele. Nicht nachvollziehbar ist in diesem Zusammenhang schon die Einschätzung, es liege eine massive Beeinträchtigung zur Eingliederung in die Gesellschaft vor, weil kognitive Funktionen betroffen seien. Dies widerspricht der Einschätzung, die intellektuelle Leistungsfähigkeit liege im mittleren Durchschnittsbereich (vgl. „kognitiv“: die Erkenntnis betreffend, Duden, Fremdwörterbuch 5. Auflage 1990, Stichwort „Kognition“). Die weitere Beurteilung, auch sprachliche Funktionen seien betroffen, findet in der „fachärztlichen Empfehlung“ keine nachvollziehbare Begründung. Die Einschätzung, wechselseitige Kommunikation sei kaum möglich, betrifft lediglich den interaktionalen Bereich und nicht die sprachliche Funktion an sich. Weitere Ausführungen zur Beeinträchtigung der sprachlichen Funktion finden sich nicht.
Die Betroffenheit motorischer Funktionen als Grund für die massive Beeinträchtigung der Teilhabe erschließt sich dem Gericht ebenfalls nicht. Hierzu befindet sich lediglich in der Anamnese die Ausführung, in motorischen Bereichen sei J. S. schon immer ängstlich und zurückhaltend gewesen; er traue sich viele Dinge nicht zu und habe beispielsweise das Klettern erst verzögert erlernt. Dies gibt jedoch nicht die eigene Einschätzung des Arztes wieder und gilt zudem nicht für die damals aktuelle Situation. Als einzigen vom Arzt selbst wahrgenommenen Anhaltspunkt findet sich die Ausführung, es seien leichte Unsicherheiten bei den Finger-Finger-Versuchen festzustellen. Aber auch dies kann keine Betroffenheit motorischer Funktionen im Sinne einer Behinderung belegen. Weiteres findet sich hierzu in der Stellungnahme nicht.
Die in der Zusammenfassung und Beurteilung weiterhin genannten Bereiche emotionale und interaktionale Funktionen betreffen ersichtlich den seelischen Bereich, nicht aber den körperlichen oder geistigen.
Die in der „fachärztlichen Empfehlung“ abgegebene Einschätzung, es handele sich um eine Mehrfachbehinderung, ist damit nicht einmal ansatzweise nachvollziehbar begründet.
Auch die Stellungnahme des Landesarztes Prof. Dr. W., die sich ausschließlich auf schriftliche Unterlagen stützt, führt hier nicht weiter. Der Landesarzt benennt die Bescheinigungen der Praxis Dr. O. vom 18. Oktober 2007 und vom 26. August 2008 und zieht zusätzlich den Einschulungsbericht vom 8. März 2007 und eine Stellungnahme einer Dipl.-Sozialarbeiterin heran. Bei den letztgenannten Unterlagen handelt es sich nicht um fachärztliche Einschätzungen. Ohne jegliche Begründung gelangt der Landesarzt auf dieser Grundlage zu der Einschätzung, es liege eine Mehrfachbehinderung vor. Welcher Art deren körperliche oder geistige Komponenten allerdings sein sollen, ist nicht einmal ansatzweise ersichtlich.
Die in den Akten befindlichen ärztlichen Unterlagen sind demnach nicht dazu geeignet, die Ansicht des Beklagten zur Frage der Mehrfachbehinderung von J. S. nachvollziehbar zu belegen und sie geben auch keinerlei Anlass dafür, dass das Gericht im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht ein weiteres Gutachten einholen müsste; denn sie enthalten keine greifbaren Anhaltspunkte dafür, dass tatsächlich eine Mehrfachbehinderung vorliegen könnte.
Auch die generelle Frage, ob es sich bei einem Asperger Syndrom in der Regel um eine seelische oder um eine Mehrfachbehinderung handelt, führt nicht im Sinne des Beklagten weiter.
Als Argument dafür, dass es sich beim Asperger Syndrom – wie bei allen autistischen Störungen – um eine (zumindest auch) körperliche Behinderung handelt, ziehen Prof. Dr. med. Dr. phil. H. R. und C. F. in ihrem Aufsatz „Aktuelle Entwicklungen bei der sozialrechtlichen Zuordnung autistischer Störungen“ (SGb 2006, 410 bis 414 – juris) den Gedanken heran, dass aus neurobiologischer Sicht eine Veränderung im Gehirn, die ein Asperger Syndrom zur Folge hat, ein organischer, also körperlicher Vorgang sei. Demzufolge müsse jegliche autistische Störung, so auch das Asperger Syndrom, als körperliche Behinderung qualifiziert werden. Dem widerspricht jedoch die Regelung des § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i.V.m. § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX i.V.m. § 3 Nr. 3 Eingliederungshilfe-Verordnung. Letztere Vorschrift regelt, dass seelische Störungen, die eine wesentliche Einschränkung der Teilhabefähigkeit im Sinne des § 53 Abs. 1 Satz 1 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch zur Folge haben können, auch seelische Störungen als Folge von Krankheiten oder Verletzungen des Gehirns, von Anfallsleiden oder von anderen Krankheiten oder körperlichen Beeinträchtigungen sein können.
Somit ist gesetzlich festgelegt, dass organische Störungen des Gehirns, die zu seelischen Störungen führen, allein aus der Perspektive der seelischen Störungen, nicht aber aus der Perspektive von deren möglicherweise gehirnorganischer Ursache betrachtet werden. Wollte man der Gegenmeinung folgen, hätte dies wohl zur Folge, dass die Kategorie der seelischen Behinderung obsolet werden würde, da wohl jede seelische Behinderung in irgendeiner Hinsicht im Gehirn ein organisches Korrelat haben dürfte.
Auf der Grundlage dieses Gedankens stuft auch das Landessozialgericht Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 27. April 2017 – L 7 SO 2669/15 – juris Rn. 42) das Asperger Syndrom als seelische Behinderung ein. Der gleichen Ansicht ist auch das Verwaltungsgericht Stuttgart in seinem Beschluss vom 16. Februar 2015 (7 K 5740/14 – juris), welches ohne weitere entsprechende Problematisierung das Asperger Syndrom der Kategorie der seelischen Behinderungen zuordnet. Auch der Autismus Hamburg e.V. ist – wie sich aus deren Homepage (http://www.autismushamburg.de) ergibt – derselben Ansicht. Zudem weist die Zuordnung des Asperger Syndroms im ICD 10-Code zu den Entwicklungsstörungen (F80 bis F89) darauf hin, dass diese Behinderung als seelische Behinderung angesehen wird.
Damit ist im vorliegenden Fall die Zuordnung des Asperger Syndroms zum Bereich der seelischen Behinderung eindeutig. Die o.g. ärztlichen Unterlagen der Gemeinschaftspraxis Dr. O. und des Landesarztes Prof. Dr. W. können das Gericht nicht vom Gegenteil überzeugen; sie sind nicht einmal dafür geeignet, das Gericht im Rahmen der Amtsermittlung (§ 86 Abs. 1 VwGO) zu weiterer Sachaufklärung zu veranlassen, dies auch unter Berücksichtigung von § 3 Nr. 2 Eingliederungshilfe-Verordnung.
Aus alledem ergibt sich, dass es sich beim bei J. S. vorliegenden Asperger Syndrom um eine seelische Behinderung handelt, für welche § 10 Abs. 4 SGB VIII den Vorrang des Achten Buches Sozialgesetzbuch vor dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch festlegt. Damit hat der Kläger als nachrangig verpflichteter Leistungsträger die Aufwendungen für den Schulbegleiter für J. S. erbracht, so dass ihm ein Anspruch gegen den Beklagten als vorrangiger Leistungsträger auf Erstattung der erbrachten Leistungen zusteht, deren Höhe vom Beklagten nicht bestritten worden ist. Der Klage war daher in vollem Umfang stattzugeben und der Beklagte zu verurteilen, die dem Kläger vom 15. September 2009 bis zum 31. Juli 2011 entstandenen Aufwendungen für einen Schulbegleiter für J. S. in Höhe von 8.413,50 EUR zu erstatten. Einer Entscheidung über entsprechende Zinsen bedurfte es nicht, da dies nicht beantragt war. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, diejenige über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 VwGO i.V.m. § 709 ZPO.


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