Medizinrecht

Erwerbsminderungsrente – Verwertbarkeit eines Gutachtens (unbeeidigter Dolmetscher)

Aktenzeichen  S 31 R 1667/15

Datum:
7.9.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 159322
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VI § 43, § 240

 

Leitsatz

1. Zur Verwertbarkeit eines Gutachtens, wenn im Rahmen der Begutachtung die Übersetzung von einem nicht vereidigten Dolmetscher vorgenommen wurde, der jedoch seit vielen Jahren regelmäßig bei sozialgerichtlichen Verhandlungen dolmetscht und dort in jedem Einzelfall über seine Pflichten belehrt wird.  (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Rentengewährung wegen einer psychischen Erkrankung scheidet bei einer umfassenden Ablehnung noch bestehender Behandlungsmöglichkeiten aus.  (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

Die Klage ist zulässig, hat in der Sache jedoch keinen Erfolg.
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung aus § 43 SGB VI oder wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit aus § 240 SGB VI.
Gemäß § 43 Abs. 1 SGB VI haben Versicherte Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung haben gemäß § 43 Abs. 2 SGB VI Versicherte, die außerstande sind, mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin nicht, da sie nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nach wie vor in der Lage ist, leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, die einfach und überschaubar sind, noch sechs Stunden täglich auszuüben. Aufgrund der unbestreitbaren chronischen Erkrankungen der Klägerin sind dabei zahlreiche Einschränkungen in qualitativer Hinsicht zu beachten. Weder darf die Klägerin, etwa durch Zeitdruck, in psychischer Hinsicht zu sehr gefordert werden, noch kann sie körperlich schwere Tätigkeiten verrichten, die etwa mit Tragen von Lasten, Zwangshaltungen oder Überkopfarbeiten einhergehen.
Dieses Leistungsbild ergibt sich aus den gemäß § 106 SGG eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Dr. E. die Klägerin untersuchte, bevor noch die erforderliche Knie-TEP am rechten Knie durchgeführt worden war. Das bedeutet, dass Dr. E. die Klägerin in schlechterem Zustand untersucht hatte, als dies inzwischen der Fall ist. Selbst in diesem schlechteren Zustand war Dr. E. nicht davon ausgegangen, dass das Leistungsvermögen in quantitativer Hinsicht auf weniger als sechs Stunden limitiert war. Dabei verkennt er nicht, dass die Klägerin auf orthopädischem Fachgebiet an chronischen Erkrankungen leidet und diese Erkrankungen ihre Bewegungsfähigkeit und körperliche Belastbarkeit einschränken. Diesen Einschränkungen kann allerdings durch die Eingrenzung auf allerleichteste Tätigkeiten begegnet werden. So ist nicht ersichtlich, warum die Klägerin nicht in der Lage sein sollte, einer Tätigkeit zum Bespiel an einer Nebenpforte nachzugehen. Dabei könnte sie überwiegend sitzen, zwischendrin durchaus auch aufstehen und umhergehen. Besondere nervliche Anforderungen würden nicht gestellt. Dass die Klägerin, die seit über 30 Jahren in Deutschland wohnt, nicht in der Lage ist, sich auf Deutsch zu verständigen, spielt für die Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit keine Rolle. Wollte man dies berücksichtigen, würde dies nämlich im Ergebnis eine Benachteiligung deutschsprachiger Versicherter bewirken.
Was die Begutachtung durch Dr. L. angeht, bestehen aus Sicht des Gerichts keine Zweifel an der Verwertbarkeit dieses Gutachtens aus formaljuristischen Gründen. Zwar wendet die Klägerseite zu Recht ein, dass die Dolmetscherin, die bei der Untersuchung zum Einsatz kam, nicht allgemein beeidigt ist. Es bestehen jedoch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass diese Dolmetscherin, die gerichtsbekanntermaßen seit vielen Jahren regelmäßig bei Verhandlungen des Sozialgerichts München dolmetscht, und hier in jedem Einzelfall über ihre Pflichten belehrt wird, nicht wüsste, was die Pflichten eines Dolmetschers sind. Ferner bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass sie falsch übersetzt hätte. Dies wird klägerseits auch nicht vorgetragen. Das Gutachten von Dr. L. ist daher nicht unverwertbar (vgl. hierzu auch BGH V ZB 59/16 vom 06.04.2017 und 1 StR 208/05 vom 27.07.2005).
Das Gericht teilt auch nicht die Auffassung des Klägervertreters, wonach die Fremdanamnese beim Ehemann ohne Anordnung des Gerichts nicht hätte durchgeführt werden dürfen. Gerade im Rahmen einer psychiatrischen Begutachtung kommt eine Fremdanamnese bei Familienangehörigen in Betracht. Ob diese für den Erkenntnisgewinn förderlich oder hinderlich ist, kann in der jeweiligen Untersuchungssituation allein der Sachverständige beurteilen, der die betreffenden Personen vor sich hat. Das Gericht hingegen hat in der Regel in diesem Verfahrensstadiums noch keinerlei persönlichen Kontakt zur Klagepartei gehabt und kann über die Sinnhaftigkeit einer solchen Fremdanamnese daher nicht urteilen. Fremdanamnesen werden daher in der sozialgerichtlichen Praxis auch in der Regel nicht beanstandet (vgl. Freudenberg in juris pk, SGB VI, § 43). Soweit der Klägervertreter rügt, der Ehemann sei nicht darüber belehrt worden, dass er die Aussage hätte verweigern können, ist zum einen festzuhalten, dass der Ehemann auf ausdrücklichen Wunsch der Klägerin zunächst mitanwesend war, und dass es sich bei dem Untersuchungsgespräch nicht um eine Zeugenaussage im prozessrechtlichen Sinne handelth .
Das Gutachten von Dr. L. ist im Übrigen auch inhaltlich schlüssig und überzeugend begründet. Dr. L. verkennt nicht, dass bei der Klägerin eine psychische Erkrankung besteht. Dies entspricht auch dem Eindruck, den die Klägerin in der mündlichen Verhandlung bot. Aus den Einschränkungen, die die psychische Erkrankung für das berufliche Leistungsvermögens mit sich bringt, kann die Klägerin jedoch keinen Anspruch auf Erwerbsminderungsrente herleiten, da sie die dringend gebotenen Behandlungsmöglichkeiten, die zur Verfügung stehen, nicht ansatzweise ausschöpft. So begibt sich die Klägerin, obwohl sie massive Einschränkungen durch ihre psychische Erkrankung beklagt, lediglich einmal pro Monat zu ihrer Psychiaterin zum supportiven Gespräch und zur Krankschreibung. Eine Psychotherapie, die in B-Stadt auch in der Muttersprache der Klägerin verfügbar wäre, lehnt die Klägerin rundheraus ab. Nachvollziehbare Gründe werden hierfür nicht vorgetragen. Vor dem Hintergrund eines seit Jahren bestehenden innerfamiliären Konflikts (Kontaktabbruch zur Tochter, die sich gegen den Willen der Eltern mit einem Deutschen liiert hat) wäre eine Psychotherapie jedoch dringend erforderlich. Der Gesundheitszustand der Klägerin könnte dadurch gebessert werden. Dass die Klägerin diese Möglichkeit nicht wahrnimmt, und – wie das Blutbild zeigt – nicht einmal die von der Psychiaterin verordneten Antidepressiva in ausreichender Menge einnimmt, wirft auch die Frage auf, ob der Leidensdruck, den die Klägerin schildert und auch in der mündlichen Verhandlung zeigt, tatsächlich in diesem Maße besteht. Ferner gibt es auch keinen nachvollziehbaren Grund für die Weigerung der Klägerin, die ärztlich angeratene psychosomatische stationäre Behandlung zu versuchen. Die Aussage, sie könne sich nicht in einem Krankenhaus aufhalten, zu Hause gehe es ihr besser, ist nicht nachvollziehbar, da die Klägerin einen Krankenhausaufenthalt bislang noch nicht versucht hat. Ein stationärer Aufenthalt könnte ein erster Schritt sein in Richtung eines Lebensmodells, das nicht allein auf Abhängigkeit zum Ehemann baut. Insofern vertut die Klägerin eine Chance, wenn sie dies nicht versucht. Eine Rentengewährung aus Gründen der psychischen Erkrankung jedenfalls scheidet bei dieser umfassenden Ablehnung möglicher Behandlungsmethoden aus, vgl. BayLSG vom 23.03.2012, Az.: L 19 R 35/08 und vom 20.10.2016, Az.: L 19 R 789/14).
Das Gericht ist daher davon überzeugt, dass derzeit von einem sechsstündigen Leistungsvermögen der Klägerin für allerleichteste Tätigkeiten auszugehen ist, weshalb eine Erwerbsminderung nicht besteht.
Die Klägerin ist auch nicht wegeunfähig, da sie in der Lage ist, 500 Meter in angemessener Zeit, also maximal 20 Minuten, zurückzulegen. Wenn sie hierfür Pausen oder Hilfsmittel benötigt, steht dies der Wegefähigkeit nicht entgegen. Das Gericht hat bei berücksichtigt, dass die Knie-TEP noch nicht den erwünschten Erfolg gebracht hat und die Klägerin nach wie vor nicht beschwerdefrei gehen kann. Ihr Zustand ist jedoch im Hinblick auf das Knie aktuell besser, als bei Untersuchung durch Dr. E.. Und auch nach den Feststellungen von Dr. E. ist Wegefähigkeit zu bejahen, da es dafür ausreicht, wenn die Gehstrecke von 500m mit Pausen und Hilfsmitteln bewältigt werden kann. Ferner ist auch anzumerken, dass die Tatsache, dass die Klägerin sich mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht auskennt, keinen Anspruch auf Erwerbsminderungsrente begründen kann. Die Klägerin könnte dies durchaus lernen.
Eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen liegt nicht vor. Selbst wenn man dies bejahen wollte, würde die oben genannte Tätigkeit an einer Nebenpforte keine unzumutbaren Anforderungen stellen. Der Arbeitsmarkt wäre daher nicht verschlossen.
Nach allem besteht kein Anspruch auf Erwerbsminderungsrente. In diesem Zusammenhang sei auch angemerkt, dass die Klägerin wirtschaftlich keine Vorteile von der Bewilligung einer Erwerbsminderungsrente hätte, da sie mit ihrem Ehemann und jüngstem Kind aktuell von Arbeitslosengeld II lebt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.


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