Medizinrecht

Gesetzliche Unfallversicherung – Berufskrankheit gem BKV Anl 1 Nr 4115 – Schweißerlunge bzw Siderofibrose – arbeitstechnische Voraussetzung – extreme und langjährige Einwirkungen von Schweißrauchen und Schweißgasen – allgemeiner Staubgrenzwert – sozialgerichtliches Verfahren – Feststellungsklage – pauschale Leistungsablehnung durch Unfallversicherungsträger

Aktenzeichen  B 2 U 7/19 R

Datum:
16.3.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BSG
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BSG:2021:160321UB2U719R0
Normen:
Anl 1 Nr 4115 BKV
§ 9 SGB 7
§ 45 SGB 1
§ 58 SGB 1
§ 59 SGB 1
§ 36a SGB 4
§ 31 SGB 10
§ 44 Abs 4 SGB 10
§ 55 Abs 1 SGG
§ 130 Abs 1 S 1 SGG
§ 163 SGG
Art 19 Abs 4 GG
Spruchkörper:
2. Senat

Verfahrensgang

vorgehend SG Hannover, 23. November 2016, Az: S 36 U 222/12, Urteilvorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, 17. Mai 2018, Az: L 14 U 27/17, Urteil

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 17. Mai 2018 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

Tatbestand

1
Die Beteiligten streiten darüber, ob der im August 2017 verstorbene W (W) an einer Berufskrankheit (BK) nach Nr 4115 der Anl 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) gelitten hat (Lungenfibrose durch extreme und langjährige Einwirkung von Schweißrauchen und Schweißgasen – Siderofibrose; BK 4115).
2
W war von 1945 bis 1982 als Stahlbauschlosser 26,8 Jahre einer kumulativen Schweißrauchbelastung von insgesamt 258 mg pro m³ Atemluft x Jahre [mg/m³ x Jahre] ausgesetzt. Die Beklagte verneinte eine BK 4115 sowie Ansprüche auf Leistungen, weil keine “Schweißerlunge” bestehe (Bescheid vom 12.10.2011 und Widerspruchsbescheid vom 12.7.2012). Während des Klageverfahrens wurde im Juni 2013 eine Lungenfibrose nachgewiesen. Der Präventionsdienst der Beklagten stellte fest, W habe im schweren Stahlbau weitgehend in großen Werkhallen gearbeitet und nur etwa zwei bis drei Jahre arbeitstäglich in räumlich engen Kastenprofilen geschweißt. Auf die Klage hat das SG nach Beiziehung eines arbeitstechnischen und eines arbeitsmedizinischen Sachverständigengutachtens die angefochtenen Bescheide aufgehoben und festgestellt, dass bei W eine BK 4115 vorliege (Urteil vom 23.11.2016).
3
Hiergegen hat die Beklagte Berufung zum LSG eingelegt. Während des Berufungsverfahrens verstarb W. Nach seinem Tod haben die beiden Erben (die Klägerin zu 1 und der Kläger zu 2) den Rechtsstreit fortgeführt. Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 17.5.2018). Die kumulative Schweißrauchbelastung von 258 mg/m³ x Jahre sei schon isoliert betrachtet als “extrem” iS des Tatbestands der BK 4115 einzustufen. Die Zahl der Erkrankten steige bereits im Bereich von etwa 100 bis 200 mg/m³ x Jahre bis zu einem Median-(50-Perzentil-)Wert von ca 220 mg/m³ x Jahre in einem kritischen Umfang an, wie sich aus dem Merkblatt zur BK 4115 (Bekanntmachung des BMAS vom 30.12.2009 – IVa 4-45222-4115 – GMBl 5/6/2010, S 108 ff) und der entsprechenden wissenschaftlichen Begründung (Bekanntmachung des BMAS vom 1.9.2006 – 4-45222-4113 – BArbBl 10/2006, S 35 ff) ergebe. Pathophysiologisch sei es nicht begründbar, den BK-Tatbestand auf langjährige Tätigkeiten unter ungünstigen Lüftungsverhältnissen in engen Räumen zu begrenzen. Hohe Partikelkonzentrationen entstünden auch unter anderen Gegebenheiten. Entscheidend sei die Schweißrauchkonzentration im Atembereich und die kumulative Schweißrauchexposition über das gesamte Erwerbsleben hinweg, wobei es nicht auf die räumlichen Umgebungsbedingungen ankomme. Früher sei der Arbeitsschutz häufig unzureichend gewesen, sodass auch in großen Hallen extreme Bedingungen geherrscht hätten. Soweit die wissenschaftliche Begründung zur BK 4115 “extreme” Einwirkungen “insbesondere” bei “eingeschränkten Belüftungsverhältnissen” bejahe, seien die dort angeführten Beispiele weder abschließend noch hinsichtlich ihres Hohlvolumens ausreichend konkret. Die mithin vorliegende extreme und mit 26,8 Jahren auch langjährige Einwirkung von Schweißrauchen und -gasen habe Ws Siderofibrose mit hinreichender Wahrscheinlichkeit rechtlich wesentlich verursacht.
4
Mit ihrer Revision rügt die Beklagte die Verletzung der §§ 62, 128 Abs 1, 103, 116, 117, 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 404a, 407a Abs 3 ZPO und des § 9 Abs 1 SGB VII iVm BK 4115. Das LSG lege das Tatbestandsmerkmal “extreme Einwirkung” der BK 4115 fehlerhaft aus. Darunter sei nur die langjährige, dh mindestens etwa zehnjährige oder ca 15 000-stündige Exposition gegenüber Schweißrauchen und -gasen zu verstehen, die in Kellern, Tunneln, Behältern, Tanks, Waggons, Containern, in Schiffsräumen oder in vergleichbar räumlich beengten Verhältnissen bei arbeitshygienisch unzureichenden sicherheitstechnischen Vorkehrungen (dh fehlenden oder unzureichenden Absaugungen und/oder fehlendem persönlichen Körperschutz) auf den Versicherten eingewirkt hätten. Dies ergebe die Auslegung der BK 4115 nach dem Wortlaut, der Systematik, der Entstehungsgeschichte und dem Zweck der Norm. Erfasse man dagegen auch Personen, die ausschließlich unter Normalbedingungen ohne Beeinträchtigung der Belüftung schweißten (sog “Normalschweißer”) oder sogar bloße “Bystander”, überschreite dies den äußersten Sinn, den der Superlativ “extrem” noch haben könne. Da “Normalschweißer”, die an uneingeschränkt belüfteten Schweißerarbeitsplätzen tätig seien, eine kumulative Gesamtbelastungsdosis von ca 250 mg/m3 x Jahre “bereits” nach 15 Jahren und Bystander nach 24 Jahren erreichten, genügte schon das Tatbestandsmerkmal “langjährig”, und das Merkmal “extrem” sei obsolet und laufe praktisch leer.
5
Die Beklagte beantragt,die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 17. Mai 2018 und des Sozialgerichts Hannover vom 23. November 2016 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
6
Die Kläger, die dem angefochtenen Urteil beipflichten, beantragen,die Revision zurückzuweisen.


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