Medizinrecht

Grundurteil, Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode, Sondenentwöhnung

Aktenzeichen  S 59 KR 1550/19

Datum:
5.5.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 12190
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 13 Abs. 4
SGG § 130 Abs. 1 Satz 1
SGB V § 135 Abs. 1 Satz 1

 

Leitsatz

Das Programm zur Entwöhnung von Sondennahrung bei Fütterungsstörungen N.T. in Gr. stellt keine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode im Sinne des § 135 SGB V dar. Da es sich um eine ambulante Behandlung im EU-Ausland handelt, kommt ein Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 4 SGB V selbst dann in Betracht, wenn die Maßnahme in Anspruch genommen wurde, ohne zuvor die Entscheidung der Krankenkasse abzuwarten.

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 18.10.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.04.2019 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, die Kosten des Klägers für die selbstbeschaffte Therapieleistung Sondenentwöhnungsbehandlung in der Esslernschule “N.T.” in Gr. dem Grunde nach zu übernehmen und darüber unter Zugrundelegung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden.
II. Die Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten zu erstatten.

Gründe

Für die Entscheidung war das Sozialgericht München örtlich (§ 57 Sozialgerichtsgesetz – SGG) und sachlich (§ 8 SGG) zuständig.
Die Klage ist zulässig. Sie ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 4 SGG statthaft. Die Klage wurde gemäß §§ 87, 90 und 92 SGG form- und fristgerecht erhoben.
Die Klage ist im Sinne eines Grundurteils nach § 130 Abs. 1 Satz 1 begründet. Der Kläger hat dem Grunde nach einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für die selbstbeschaffte Therapieleistung an der Esslernschule „N.T.“ in Gr.. Lediglich die Höhe der zu erstattenden Kosten kann das Gericht nicht beziffern.
Der Kostenerstattungsanspruch ergibt sich aus § 13 Abs. 4 SGB V, da die Behandlung in ambulanter Form in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union stattgefunden hat. Da es sich um eine Behandlung im ambulanten Bereich gehandelt hat, bedurfte es auch nicht einer vorherigen Genehmigung durch die Krankenkasse (anders bei Krankenhausleistungen nach § 13 Abs. 5 SGB V). Es ist deshalb unerheblich, dass die Leistung schon wenige Tage nach Antragstellung in Anspruch genommen wurde, ohne zuvor die Entscheidung der Krankenkasse abzuwarten. Gemäß § 13 Abs. 4 Satz 2 SGB V dürfen nur solche Leistungserbringer in Anspruch genommen werden, bei denen die Bedingungen des Zugangs und der Ausübung des Berufes Gegenstand einer Richtlinie der Europäischen Gemeinschaft sind oder die im jeweiligen nationalen System der Krankenversicherung des Aufenthaltsstaates zur Versorgung der Versicherten berechtigt sind. Die steht zur Überzeugung des Gerichts aufgrund der von der Prozessbevollmächtigten des Klägers mit Schriftsatz vom 17.02.2022 vorgelegten Unterlagen, insbesondere der Erklärung der N. T. GmbH vom 11.02.2022, in der die mit der Betreuung und Behandlung des Klägers befassten Personen namentlich und mit Berufsbezeichnung aufgeführt waren, fest. Hierunter zählten eine Fachärztin für Kinder- und Jugendheilkunde, Psychotherapeuten, Psychologen und eine Physiotherapeutin. In der Anlage 4 der Gemeinsamen Empfehlung der Spitzenverbände der Krankenkassen und der Deutschen Verbindungsstelle Krankenversicherung-Ausland zu leistungsrechtlichen Umsetzungsfragen des GKV-Modernisierungsgesetzes sowie des Vertragsarztrechtsänderungsgesetzes, hier: Kostenerstattung gemäß § 13 Abs. 4 bis 6 SGB V, vom 19.11.2003 in der Fassung vom 18.03.2008 werden als geeignete Leistungserbringer aufgeführt insbesondere Fachärzte für Kinderheilkunde und Physiotherapeuten. Psychologen sind Leistungserbringer im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung in Österreich nach dem Gesamtvertrag vom 28.11.1994 zwischen dem Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger und dem Berufsverband österreichischer Psychologinnen und Psychologen.
Kostenerstattungsansprüche nach § 13 Abs. 4 und 5 SGB V hängen – ebenso wie diejenigen nach § 13 Abs. 2 und 3 SGB V – davon ab, dass der Versicherte einen Primäranspruch auf die entsprechende Dienst- oder Sachleistung im Inland hat (vergleiche etwa BSG, Urteil vom 30.06.2009 Az. B 1 KR 19/08 R). Sie können die Grenzen des Leistungssystems nicht erweitern, sondern setzen einen entsprechenden Leistungsanspruch im Inland voraus. Deshalb sind die Kosten einer Behandlungsmethode, die sich im Inland als neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden im Sinne des § 135 SGB V darstellen würde, nur unter den dort genannten Voraussetzungen zu ersetzen, nämlich wenn die Methode durch eine Empfehlung des G-BA in einer Richtlinie nach § 92 Abs. 1 Nr. 5 SGB V zugelassen worden ist. Eine solche Richtlinie des G-BA liegt für Sondenentwöhnungsprogramme nicht vor.
Das Fehlen einer Empfehlung in einer Richtlinie des G-BA stünde jedoch einer entsprechenden Behandlung im Inland nicht entgegen, da es sich um keine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode im Sinne des § 135 SGB V handelt. Letztlich handelt es sich bei dem Sondenentwöhnungsprogramm um die Behandlung einer Essstörung (bzw. bei Säuglingen um den Spezialfall einer Fütterungsstörung). Ess- und Fütterungsstörungen sind weit verbreitete Störungen, für die es selbstverständlich nicht ausschließlich stationäre Behandlungskonzepte gibt und die auch seit jeher ambulant behandelt werden, sei es durch Kinderärzte, Psychotherapeuten, Physiotherapeuten, Kinderkrankenschwestern oder Hebammen (speziell bei Fütterungsstörungen). Es ist nicht vorstellbar, dass Ess- und Fütterungsstörungen in Deutschland allein vollstationär behandelt werden. Vielmehr hängt die Frage, ob die Behandlung ambulant oder stationär erfolgt, vom Ausprägungsgrad der Störung ab, und es versteht sich von selbst, dass für die stationäre Behandlung nur ein kleinster Teil aller Ess- und Fütterungsstörungen in Betracht kommt.
Schon ein einziger Blick auf die Internetseite des kbo Kinderzentrums M3.-Stadt bestätigt diese Auffassung (https://kbo-kinderzentrum-muenchen.de/behandlungsspektrum/diagnostik-und-therapieangebote/schreibabyambulanz): Demnach umfasst das Angebot der M3. Schreibabyambulanz die Untersuchung, Beratung, Behandlung und Begleitung bei Fütter-, Ess- und Gedeihstörungen. Lediglich wenn die ambulante Therapie nicht ausreicht (so ausdrücklich!), könne man Kinder mit einem Elternteil stationär aufnehmen bei schweren Fütter- und Gedeihstörungen im frühen Kindesalter, z. B. chronischen Erkrankungen (auch Sondenentwöhnungen). Daraus ergibt sich klar: Es gibt in Deutschland (selbstverständlich!) die ambulante interdisziplinäre Behandlung von Fütter- und Gedeihstörungen, lediglich für besonders schwere Fälle sind die stationären Behandlungsprogramme vorbehalten.
Bei dem Sondenentwöhnungsprogramm in Gr. handelt es sich um nichts weiter als um eine Bündelung dieser ambulanten Behandlungsmöglichkeiten der Fütterungsstörung unter einer einheitlichen Leitung und mit einem einheitlichen Konzept.
Zwar ist dem Gericht bekannt, dass nach der Rechtsprechung des BSG es sich auch dann um eine neue Behandlungsmethode handeln kann, wenn sich eine Behandlungsmethode aus einer Kombination verschiedener – für sich allein jeweils anerkannter oder zugelassener – Maßnahmen zusammensetzt, wenn das zugrunde liegende theoretisch-wissenschaftliche Konzept gerade in der neuartigen Kombination verschiedener Einzelleistungen liegt. Hier kommt es aber darauf an, ob die bereits zugelassenen Behandlungsmethoden eine wesentliche Änderung oder Erweiterung erfahren. Um zu beurteilen, welche Änderungen oder Erweiterungen wesentlich sind, bedarf es einer Orientierung am Schutzzweck des § 135 Abs. 1 SGB V. Dieser Schutzzweck besteht in der Sicherung der Qualität und Wirtschaftlichkeit der Leistungen (BSG, Urteil vom 08.07.2015 Az. B 3 KR 5/14 Rdnr. 33).
Diesen Schutzzweck hat das BSG in der gerade zitierten Entscheidung als betroffen angesehen, wenn mit der Methode des Coninuous Glucosemonitoring System für Diabetiker eine völlig neue Messmethode zur Blutzuckermessung etabliert wird, die selbstverständlich für die Betroffenen auch mit völlig neuen Gefahren verbunden sind.
Ein damit vergleichbarer Fall liegt jedoch vorliegend nicht ansatzweise vor: vielmehr werden bei dem Programm in Gr. keine anderen Leistungen erbracht als solche, die für sich genommen ohne Weiteres erstattungsfähig wären, wenn sie ohne die Koordinierung und Abstimmung durch eine einheitliche Leitung nebeneinander erbracht würden. Wenn beispielsweise die Sondenentwöhnung zu Hause erfolgt wäre und eine kontinuierliche Betreuung und Beratung durch Kinderärzte, Psychotherapeuten, Physiotherapeuten und Hebammen stattgefunden hätte, hätte niemand auch nur den geringsten Zweifel daran gehabt, dass all diese ambulanten Leistungen von der Krankenkasse zu übernehmen gewesen wären, auch wenn diese völlig unkoordiniert und möglicherweise gegenläufig verlaufen wären (zum Beispiel Kinderarzt gibt einen Ratschlag, Psychologe einen anderen und Hebamme noch einen anderen). Es würde das System des § 135 SGB V geradezu ad absurdum führen, allein aus der Tatsache, dass die für sich genommen unproblematisch zu übernehmenden Einzelleistungen unter einer einheitlichen Leitung und Koordination erfolgten, was im Sinne des Schutzzwecks des § 135 SGB V (Qualität und Wirtschaftlichkeit der Leistungen) nur positiv ist, zu folgern, dass es sich insgesamt um eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode handelte. Zumal ohne Weiteres davon ausgegangen werden kann, dass auch die Schreibabyambulanz am Kinderzentrum M2.-Stadt die von ihr angebotenen Einzelleistungen in koordinierter Form unter gemeinsamer Leitung erbringt.
Dies auch vor dem Hintergrund, dass die mögliche Neuartigkeit des Konzepts, das der Behandlung in Gr. zugrunde liegt, eher auf pädagogischem als auf medizinischem Gebiet liegt. Es geht darum, die Kinder, die physiologisch in der Lage sind zu schlucken und auch über die entsprechenden Reflexe verfügen, dazu zu bringen, dass sie ihre Schluckhemmungen überwinden und am Schlucken von Nahrung Freude gewinnen. Einen großen Teil des Programms bildet auch die psychologische Schulung der Eltern und deren Coaching, insbesondere im Rahmen der gemeinsamen Essen, die in einer emotional angenehmen Atmosphäre abgehalten werden, was für die Motivation zu essen von enormer Wichtigkeit ist. Dem zweiwöchigen Intensivkurs in Gr. geht eine telemedizinische Vorbereitungsphase voraus, und die mehrmonatige Nachbetreuung erfolgt ebenso wieder telemedizinisch. Es wird hier nichts anderes umgesetzt als das, was an Ratschlägen auch bei der ambulanten Behandlung von Verdauungsstörungen in Deutschland durch Kinderärzte, Psychotherapeuten, Physiotherapeuten und Hebammen, oder beispielsweise auch in der Schreibabyambulanz am Kinderzentrum M2.-Stadt gegeben wird. Damit liegt eine Neuartigkeit im Sinne des § 135 SGB V unter Berücksichtigung von dessen Schutzzweck nicht vor.
Das Gericht ist jedoch nur in der Lage, den Erstattungsanspruch dem Grunde nach festzustellen, und nicht, ihn der Höhe nach zu berechnen. Zum einen ist trotz aller Bemühungen nicht bekannt, wann welche Therapieeinheit durch welchen Behandler mit welcher Qualifikation konkret vorgenommen wurde. Zweitens müsste die Abrechnung jeder Therapieeinheit anhand der österreichischen Vorschriften zunächst konkretisiert und sodann mit der Abrechenbarkeit nach deutschem Recht entsprechend § 13 Abs. 4 Satz 3 SGB V verglichen werden. Schließlich wären noch die Abschläge für die Verwaltungskosten nach § 13 Abs. 4 Satz 5 SGB V vorzunehmen.
Gemäß § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG kann, sofern bei einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 4 SGG eine Leistung in Geld begehrt wird, auch zur Leistung nur dem Grunde nach verurteilt werden. Als Voraussetzung eines Grundurteils muss zumindest mit Wahrscheinlichkeit feststehen, dass der Höhe nach ein Geldbetrag zu zahlen ist (Meyer-Ladewig/ Keller/ Leitherer/ Schmidt, SGG, 13. A. 2020, § 130 Rdnr. 2c; BSG, Urteil vom 28.11.2018 Az. B 4 AS 46/17 R Rdnr. 11). Daran bestehen nicht die geringsten Zweifel. Auch wenn nicht im Einzelnen jede Behandlungseinheit einem bestimmten Behandler zugeordnet werden kann, ergibt sich aus der von der Prozessbevollmächtigten des Klägers vorgelegten Leistungsaufschlüsselung der N. T. GmbH vom 27.04.2021 doch jedenfalls, an welchen Tagen des 14-tägigen Aufenthalts beispielsweise eine ärztliche Ordination im Sinne einer verbalen Intervention oder Exploration zu Anamneseerhebung, Befundbesprechung und Kontrolle des Krankheitsverlaufes stattgefunden hat, wobei nach der von der N. T. GmbH bescheinigten Mitarbeiterliste vom 11.02.2022 im Jahr 2018 S3. als Fachärztin für Kinder- und Jugendheilkunde mit der Betreuung der Patienten betraut war. Auch bezüglich der übrigen Behandlungen durch Psychotherapeuten und Physiotherapeuten steht für das Gericht fest, dass wenigstens irgendein Geldbetrag zu erstatten ist. Genauer wird man sich das noch hinsichtlich der psychologischen Leistungen ansehen müssen, da Psychologen nach inländischem Recht nur dann als Leistungserbringer zugelassen sind, wenn sie als psychologische Psychotherapeuten tätig werden.
Da die Voraussetzungen für ein Grundurteil nach § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG gegeben waren, konnte das Gericht nach Ermessen entscheiden, ob es ein solches erlässt. Die Kammer hat sich in Ausübung dieses Ermessens dazu entschieden, ein Grundurteil zu erlassen, weil die Ermittlung der Höhe des Erstattungsanspruchs extrem kompliziert und aufwendig ist und zudem noch dadurch erschwert wird, dass die Beklagte im gerichtlichen Verfahren jegliche Mitwirkung hierbei vermissen ließ. Trotz monatelanger Bemühungen im gerichtlichen Verfahren konnten nicht sämtliche erforderlichen Informationen zur Berechnung der Höhe des Anspruchs ermittelt werden. Umgekehrt wären diese gesamten Ermittlungen überflüssig, wenn die Auffassung der Beklagten zuträfe, dass es sich um eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode im Sinne des § 135 SGB V handelt und schon aus diesem Grunde ein Leistungsanspruch zu verneinen wäre. Es erscheint deshalb im Sinne der Prozessökonomie geboten, die Frage, ob ein Erstattungsanspruch dem Grunde nach besteht oder wegen der Neuartigkeit der Behandlungsmethode zu verneinen ist, vorab durch Grundurteil zu entscheiden und, sofern dieses Grundurteil Rechtskraft erlangen sollte, in einem weiteren Verwaltungs- und gegebenenfalls gerichtlichen Verfahren die Höhe des Erstattungsanspruchs zu klären, zumal dann die Beklagte auch um die gebotene Mitwirkung ihrerseits nicht umhinkäme.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.


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