Medizinrecht

Härtefallausgleich bei Festbetragsregelung für Medikament

Aktenzeichen  Au 2 K 15.1778

Datum:
31.3.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BBhV BBhV § 6 Abs. 1 S. 1, § 7 S. 2, § 22 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3
BBG BBG § 80 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1
SGB V SGB V § 35

 

Leitsatz

1 Die in § 22 Abs. 3 BBhV geregelte Möglichkeit der Begrenzung von Arzneimittelkosten auf einen Festbetrag und die “dynamische” Verweisung auf § 35 SGB V sind rechtmäßig und verstoßen nicht gegen den Fürsorgegrundsatz (zur “dynamischen” Verweisung ebenso BVerwG NVwZ-RR 2015, 743). (redaktioneller Leitsatz)
2 § 7 S. 2 BBhV ermöglicht einen Härtefallausgleich, wenn im Einzelfall Umstände vorliegen, bei denen es sich aufdrängt, dass der Fürsorgegrundsatz zur ausnahmsweisen Anerkennung der (vollständigen) Beihilfefähigkeit von unter die Festbetragsregelung fallenden Arzneimitteln führt (ebenso BVerwG NVwZ-RR 2015, 743). (redaktioneller Leitsatz)
3 Ein Härtefall liegt vor, wenn aufgrund ungewöhnlicher Individualverhältnisse keine ausreichende Versorgung zum Festbetrag möglich ist, weil die zum Festbetrag erhältlichen Arzneimittel unerwünschte Nebenwirkungen verursachen, die über bloße Unannehmlichkeiten oder Befindlichkeitsstörungen hinausgehen und damit die Qualität einer behandlungsbedürftigen Krankheit erreichen (ebenso BSG BeckRS 2012, 73710). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Beklagte wird unter insoweiter Aufhebung des Bescheides der Bundesfinanzdirektion …, Service-Center …, Beihilfestelle vom 26. Juni 2015 und des Widerspruchsbescheides derselben Behörde vom 5. November 2015 verpflichtet, dem Kläger weitere Beihilfe in Höhe von 100,42 EUR zu gewähren und diesen Betrag mit fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu verzinsen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Über die Klage konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Parteien hierauf verzichtet haben (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die zulässige Klage ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Beihilfe für die Aufwendungen zum Erwerb des Medikaments „Crestor“ in Höhe von 100,42 EUR. Soweit der Bescheid der Beklagten vom 26. Juni 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5. November 2015 dem entgegensteht, ist er rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1, Abs. 5 VwGO).
Der Kläger ist als Ruhestandsbeamter Versorgungsempfänger und damit beihilfeberechtigt nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 BBG. Für die rechtliche Beurteilung beihilferechtlicher Ansprüche ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Entstehens der Aufwendungen maßgeblich (st. Rspr., vgl. z. B. BVerwG, U. v. 2.4.2014 – 5 C 40.12 – NVwZ-RR 2014, 609). Dies ist vorliegend der 8. Mai 2015, also der Zeitpunkt, an dem der Kläger auf der Grundlage der ärztlichen Verordnungen das Medikament „Crestor“ erwarb.
Nach § 80 Abs. 2 Nr. 1 BBG i. V. m. § 6 Abs. 1 Satz 1 BBhV sind grundsätzlich die notwendigen und wirtschaftlich angemessenen Aufwendungen in Krankheits- und Pflegefällen beihilfefähig. Zum maßgeblichen Zeitpunkt richtete sich die Beihilfefähigkeit von Arzneimitteln nach § 22 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. Abs. 3 BBhV in der ab dem 26. Juli 2014 geltenden Fassung. Zwischen den Beteiligten ist dabei die grundsätzliche Beihilfefähigkeit der Aufwendungen für das dem Kläger verordnete, verschreibungspflichtige Medikament „Crestor“ nicht streitig. Umstritten ist allein die Frage, ob die Beklagte die beihilfefähigen Aufwendungen im vorliegenden Fall in einer rechtlich zulässigen Weise auf einen Festbetrag beschränken durfte.
1. Für die Begrenzung des beihilfefähigen Aufwands besteht entgegen der Auffassung der Klagepartei eine hinreichend bestimmte gesetzliche Verordnungsermächtigung und findet in § 22 Abs. 3 BBhV eine wirksame Rechtsgrundlage. Gegen die in § 22 Abs. 3 BBhV enthaltene „dynamische“ Verweisung auf § 35 SGB V und die dort geregelten Modalitäten zur Festlegung der Festbeträge bestehen keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken (s. hierzu BVerwG, U. v. 26.3.2015 – 5 C 9.14 – juris; VG Augsburg, U. v. 27.1.2015 – Au 2 K 13.987 – juris Rn. 24 ff.; VG Bayreuth, U. v. 19.8.2014 – B 5 K 13.535 – juris Rn. 16 ff.).
Der durch die Festbetragsregelung erfolgende teilweise Ausschluss der Beihilfefähigkeit von Aufwendungen für Arzneimittel verstößt nicht wegen des Fehlens einer eindeutigen abstraktgenerellen Härtefallregelung gegen den Fürsorgegrundsatz aus Art. 33 Abs. 5 GG, da § 7 Satz 2 BBhV – soweit darin die Berücksichtigung des Fürsorgegrundsatzes gemäß § 78 BBG vorgegeben und dadurch die Möglichkeit verfassungsrechtlich gebotener Abweichungen von den Festlegungen des Gemeinsamen Bundesausschusses eröffnet wird – eine hinreichend bestimmte Härtefallregelung enthält (BVerwG, U. v. 26.3.2015 – 5 C 9.14 – juris Rn. 32 ff.).
2. § 7 Satz 2 BBhV ermöglicht indes einen Härtefallausgleich auch in den Fällen, in denen der Kernbereich der Fürsorgepflicht nicht betroffen ist, d. h. wenn im Einzelfall Umstände vorliegen, bei denen es sich aufdrängt, dass der Fürsorgegrundsatz zur ausnahmsweisen Anerkennung der (vollständigen) Beihilfefähigkeit von unter die Festbetragsregelung fallenden Arzneimitteln führt (BVerwG, U. v. 26.3.2015 – 5 C 9.14 – juris Rn. 37; OVG RhPf, U. v. 15.4.2011 – 10 A 11331/10 – NVwZ 2011, 1023). Aufgrund ungewöhnlicher Individualverhältnisse ist insbesondere dann keine ausreichende Versorgung zum Festbetrag möglich, wenn die zum Festbetrag erhältlichen Arzneimittel unerwünschte Nebenwirkungen verursachen, die über bloße Unannehmlichkeiten oder Befindlichkeitsstörungen hinausgehen und damit die Qualität einer behandlungsbedürftigen Krankheit erreichen (vgl. BSG, U. v. 3.12.2012 – B 1 KR 22/11 R – juris Rn. 17 ff.; VG Augsburg, U. v. 26.8.2015 – Au 2 K 14.1573 – juris Rn. 26 f.).
Nach Auffassung des Gerichts sind die vom Kläger vorgelegten ärztlichen Atteste geeignet, das Vorliegen eines solchen atypischen Ausnahmefalles im Sinne des Gegebenseins der Alternativlosigkeit des Medikaments „Crestor“ zu begründen. In Anlage 7 zu § 22 Abs. 3 BBhV sind unter Ziffer 2 die Festbetragsgruppen für Arzneimittel mit pharmakologischtherapeutisch vergleichbaren Wirkstoffen, insbesondere mit chemisch verwandten Stoffen festgelegt. Ziffer 2.08.5 führt bei den HMG-CoA-Reduktasehemmer die Wirkstoffe Atorvastatin: Atorvastatin Calciumsalze, Fluvastatin: Fluvastatin Natriumsalze, Lovastatin, Pitavastatin: Pitavastatin Calciumsalze, Pravastatin: Pravastatin Natriumsalze, Rosuvastatin: Rosuvastatin Calciumsalze und Simvastatin an.
Aus der von der Beklagten übermittelten Aufstellung vom 8. März 2016 lässt sich entnehmen, dass der Kläger aus der Wirkstoffgruppe der HMG-CoA-Reduktasehemmer neben „Crestor“ auch „Atorvastatin“, „Pravastatin“, „Simvastatin“ verordnet bekommen hat. Aus den Attesten des Internisten und Kardiologen Dr. … vom 16. Juni 2015 und des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. … vom 11. Januar und 15. März 2016 geht zudem hervor, dass der Kläger auch „Lovastatin“ als Mustergabe eingenommen hat. „Pitavastatin“ war im maßgeblichen Zeitraum auf dem Markt nicht verfügbar. Hierzu führt der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) zum Beschluss über die Einleitung eines Stellungnahmeverfahrens zur Änderung der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL), Anlage IX – Festbetragsgruppenbildung HMG-CoA-Reduktasehemmer, Gruppe 1, in Stufe 2 nach § 35 Abs. 1 SGB V, am 9. Februar 2016 unter Ziffer 2. „Eckpunkt der Entscheidung“ aus, dass mit Beschluss vom 18. August 2011 im Verfahren nach § 35a Abs. 4 Satz 1 SGB V der Wirkstoff „Pitavastatin“ in die Festbetragsgruppe eingruppiert wurde. Die Vergleichsgröße wurde mit dem Wert 2,3 bestimmt. Zum 15. Februar 2013 hat der pharmazeutische Unternehmer alle im Markt befindlichen Pitavastatinhaltigen Arzneimittel „außer Vertrieb“ gemeldet und zum 15. Februar 2015 endgültig gelöscht. Mit Beschluss des G-BA vom 20. Februar 2014 wurden die Vergleichsgrößen dieser Gruppe aktualisiert. Da zum Stichtag 1. Juli 2013 keine Arzneimittel des Wirkstoffes „Pitavastatin“ als aktiv im Handel gemeldet waren, wurde anstelle der Vergleichsgröße der Status „zurzeit nicht besetzt“ ausgewiesen.
Hinsichtlich „Fluvastatin“ führt der den Kläger behandelnde Arzt für Allgemeinmedizin Dr. … im Attest vom 16. März 2016 aus, weshalb dessen Gabe wegen der zu erwartenden Nebenwirkungen und der geringen Wirksamkeit als nicht aussichtsreich erachtet wird. Diese fachlichmedizinische Einschätzung erscheint dem Gericht auch im Hinblick auf die Ausführungen des Internisten und Kardiologen Dr. … vom 20. Oktober 2014 und 13. Oktober 2015, in denen die medizinische Notwendigkeit für die Therapie mit „Crestor“ begründet und ein erneuter Umstellungsversuch wegen der dadurch wahrscheinlich wieder nicht ausreichenden Lipidsenkung, den zu erwartenden Nebenwirkungen und dem fehlendem Gefäßschutz für nicht vertretbar erachtet wird, nachvollziehbar und plausibel. Auch im Übrigen ist in den vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen und Arztbriefen widerspruchsfrei und nachvollziehbar dargelegt, weshalb die Verschreibung der Alternativmedikamente zum Präparat „Crestor“ aus medizinischen Gründen wegen der (wieder) zu erwartenden massiven Nebenwirkungen bei zugleich unzureichender Wirksamkeit unzumutbar ist. Die ärztlich belegten Nebenwirkungen in Form von Unverträglichkeiten (Allergien, Muskelschmerzen und CK-Anstieg) gehen nach medizinischfachlicher Einschätzung auch über bloße Unannehmlichkeiten oder Befindlichkeitsstörungen hinaus und erreichen damit die Qualität einer behandlungsbedürftigen Krankheit.
Der Klage war daher im tenorierten Umfang stattzugeben. Sie war insoweit abzuweisen, als ein Betrag über 100,42 EUR eingeklagt wurde. Für die Bemessung der Beihilfe war § 49 Abs. 1 BBhV zu beachten und ein Abzug von 10,– EUR bei den Aufwendungen in Ansatz zu bringen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.
Gründe, die Berufung zuzulassen, liegen nicht vor (§ 124, § 124a VwGO).
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zugelassen wird. Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils beim Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg,
Hausanschrift: Kornhausgasse 4, 86152 Augsburg, oder
Postfachanschrift: Postfach 11 23 43, 86048 Augsburg,
schriftlich zu beantragen.
Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof,
Hausanschrift in München: Ludwigstr. 23, 80539 München, oder
Postfachanschrift in München: Postfach 34 01 48, München,
Hausanschrift in Ansbach: Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach
einzureichen. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
1. ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
2. die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
3. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
4. das Urteil von einer Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
5. wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Bevollmächtigte sind die in § 67 Absatz 2 Satz 1 und Absatz 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen zugelassen. Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse können sich auch durch die in § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO genannten Personen vertreten lassen.
Der Antragsschrift sollen 4 Abschriften beigefügt werden.
Beschluss:
Der Streitwert wird auf 107,42 EUR festgesetzt (§ 52 Abs. 3 GKG).
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diesen Beschluss steht den Beteiligten die Beschwerde an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zu, wenn der Wert des Beschwerdegegenstands 200,– EUR übersteigt oder die Beschwerde zugelassen worden ist.
Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, beim Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg,
Hausanschrift: Kornhausgasse 4, 86152 Augsburg, oder
Postfachanschrift: Postfach 11 23 43, 86048 Augsburg,
schriftlich einzureichen oder zu Protokoll der Geschäftsstelle einzulegen; § 129a der Zivilprozessordnung gilt entsprechend. Der Mitwirkung eines Bevollmächtigten bedarf es hierzu nicht.
Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, kann die Beschwerde auch noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
Der Beschwerdeschrift sollen 4 Abschriften beigefügt werden.


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