Medizinrecht

Handlungstendenz bei Abrissarbeiten

Aktenzeichen  S 15 U 5041/19

Datum:
14.8.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 20466
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Landshut
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VII § 2 ABs. 1 Nr. 5b, § 8 Abs. 1, § 124 Nr. 2

 

Leitsatz

1. Der Abriss eines zuletzt als Reparaturwerkstatt für Landmaschinen genutzten Gebäudes steht unter dem Schutz der landwirtschaftlichen Unfallversicherung. (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Handlungstendenz ist in diesen Fällen auf den Rückbau der landwirtschaftlichen Betriebsgebäude gerichtet. (Rn. 38) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird verurteilt, den Unfall des Klägers zu 2. unter Aufhebung des Bescheides vom 23.08.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.10.2019 und des Bescheides vom 29.11.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.11.2019 als Versicherungsfall im Sinne der landwirtschaftlichen Unfallversicherung anzuerkennen und die gesetzlichen Leistungen zu erbringen.
II. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu 1. und 2. in vollen Umfang.

Gründe

Die form-und fristgerecht eingelegten Klagen des Klägers zu 1. und des Klägers zu 2. sind statthaft und zulässig. Sie sind auch in vollem Umfang begründet, weil die Kläger einen Anspruch darauf haben, dass das Ereignis vom 08.08.2018 als Versicherungsfall in der gesetzlichen Unfallversicherung anerkannt wird.
Es handelt sich vorliegend um eine in Streitgenossenschaft geltend gemachte kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage, die gem. §§ 54 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 54 Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft ist. Streitgegenstand ist die Frage, ob die Beklagte den Unfall des Klägers zu 2. vom 08.08.2018 als entschädigungspflichtigen Versicherungsfall anzuerkennen hat.
Nach § 8 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit. Ein Arbeitsunfall setzt daher als Erstes voraus, dass die Verrichtung des Verletzten zum Unfallzeitpunkt den Tatbestand einer versicherten Tätigkeit erfüllt und dadurch ein Versicherungsschutz bei einem bestimmten Träger der gesetzlichen Unfallversicherung begründet wird (versicherte Tätigkeit). Eine Verrichtung ist jedes konkrete Handeln eines Verletzten, das objektiv seiner Art nach von Dritten beobachtbar und das subjektiv (zumindest auch) auf die Erfüllung des Tatbestands der jeweiligen versicherten Tätigkeit gerichtet ist – im Sinne einer objektivierbaren Handlungstendenz (BSG, Urteil vom 09.11.2010, B 2 U 14/10 R, Rdnr. 22).
1. Zusammenhang der Verrichtung mit der versicherten Tätigkeit
Um einen Arbeitsunfall bejahen zu können, muss auf objektiver Ebene eine sachliche Verbindung der im Unfallzeitpunkt durchgeführten Verrichtung mit der im Gesetz genannten versicherten Tätigkeit bestehen (- sachlicher oder innerer Zusammenhang). Der sachliche/innere Zusammenhang ist wertend zu ermitteln, indem untersucht wird, ob die jeweiligen Verrichtung innerhalb der Grenzen liegt, bis zu denen der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reicht im Sinne des Schutzzwecks der jeweiligen Versicherungstatbestände (BSG, Urt. v. 07.11.2000, B 2 u 39/99 R; BSGE 58. 76, 77; BSGE 61, 127, 128). Der durch die Verrichtung mitbewirkte Schaden muss rechtlich auch unter Würdigung versicherungsfremder Faktoren als Realisierung eines Risikos, welches in den Schutzbereich der den Versicherungsschutz begründenden Normen fällt, zu werten sein (BSG im Urteil vom 24.07.2012, B 2 U 9/11 R, Rz. 33 f. in juris).
Bei der Bewertung des vorliegenden Falles sind folgende Umstände zu berücksichtigen: Aus Anlass des geplanten Wohnhausneubaus hatten der Kläger zu 1. und der Kläger zu 2. vereinbart, dass im Vorfeld das alte Hochsilo abgerissen werden sollte. Der Kläger zu 1. hatte mit dem Kläger zu 2. abgesprochen, dass dieser den Abbruch zusammen mit seiner jetzigen Ehefrau und dem Schwiegervater durchführen würde. Es handelte sich bei dem zu beseitigenden Gebäude um ein Betriebsgebäude, das zu einem nicht mehr genau bestimmbaren Zeitpunkt in den 1950er bzw. 1960er Jahren (von den Eltern des Klägers zu 1.) errichtet worden war und vom Kläger zu 1. seit Umbau im Jahr 2013 als Reparaturwerkstatt genutzt worden war.
2. Versicherte Tätigkeit: Bauarbeiten eines Landwirts oder mitarbeitenden Angehörigen
Unter den Versicherungsschutz der landwirtschaftlichen Unfallversicherung fallen nach § 124 Nr. 2 SGB VII auch Bauarbeiten des Landwirts bzw. der mitarbeitenden Familienangehörigen. Die Vorschrift des § 124 Nr. 2 SGB VII trägt dem Umstand Rechnung, dass es in der Landwirtschaft seit jeher üblich war, kleinere Bauarbeiten mit eigenen Mitteln selbst zu erledigen. Gerade land- oder forstwirtschaftliche Kleinstunternehmen sind vielfach allein aus wirtschaftlichen Gründen darauf angewiesen, Bauarbeiten selbst zu verrichten und hierfür keinen gewerblichen Bauunternehmer zu beauftragen (LSG Stuttgart, Urteil vom 22.09.2014, L 1 U 5465/13, Rn. 33). Häufig sind dort auch die für den Bau erforderlichen Gerätschaften (wie Schaufeln, Betonmischmaschine, Schubkarren, Frontlader, Anhänger etc.) vorhanden. Die Regelung des § 124 Nr. 2 SGB VII gilt im Übrigen auch für landwirtschaftliche Unternehmen geringsten Umfangs, selbst wenn sie nicht zu Erwerbszwecken betrieben werden, sondern zum Beispiel zur Eigenversorgung oder als Hobby (vergleiche Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, Stand: 107. EL, Dezember 2019, § 124 SGB VII, Rn. 12).
Die Versicherung nach § 124 Nr. 2 SGB VII setzt des Weiteren voraus, dass das landwirtschaftliche Gebäude, an dem die Bauarbeiten verrichtet werden, wesentlich dem landwirtschaftlichen Unternehmen dient (vergleiche Urteil des LSG Stuttgart vom 22.09.2014, L 1 U 5465/13, Rdnr. 32).
Am 03.02.1998 haben die Träger der landwirtschaftlichen Unfallversicherung und die damaligen Bau-Berufsgenossenschaften eine rückwirkend zum 01.01.1997 in Kraft getretene Verwaltungsvereinbarung geschlossen. Nach dieser ist die landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft fachlich zuständig für alle durch den landwirtschaftlichen Unternehmer bzw. seine mitarbeitenden Familienangehörigen selbst durchgeführten Bauarbeiten, die dem landwirtschaftlichen Unternehmen wesentlich dienen. Dazu gehören zum Beispiel Neubau, Ausbau, Umbau, Renovierung, Rekonstruktion, Ausbesserung und Abbruch von landwirtschaftlichen Betriebsgebäuden. Auf den Umfang der Bauarbeiten und den eventuellen Einsatz von betriebsfremden Personen kommt es dabei grundsätzlich nicht an (Köhler in Becker/Franke/Molkentin, Kommentar zum SGB VII, 5. Aufl. 2018, Rn. 10 und Köhler in „Soziale Sicherheit in der Landwirtschaft“ 1/2015, S. 5 ff., 11). Es muss sich um Eigenarbeiten des landwirtschaftlichen Unternehmers handeln, die er in eigener Regie und eigener Verantwortung selbst oder durch mitarbeitende Familienangehörige durchführt. Die Arbeiten müssen dem landwirtschaftlichen Betrieb wesentlich dienen (nicht überwiegend oder ausschließlich, vergleiche Kassler Kommentar, § 124 SGB VII, Rn. 15).
Das Gericht ist in vollem Umfang davon überzeugt, dass das als Reparaturwerkstatt umgebaute alte Hochsilo wesentlich, wenn auch nicht überwiegend oder ausschließlich, dem landwirtschaftlichen Betrieb diente. Das Gericht hat nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme keinen Zweifel, dass das im Jahr 2013 als Reparaturwerkstatt umfunktionierte Hochsilo vordergründig der Reparatur der Landmaschinen diente. Der Kläger zu 1. ist gelernter Landmaschinenmechaniker und hat im Erörterungstermin vom 03.06.2020 glaubhaft dargelegt, dass er die Jahrzehnte in Gebrauch befindlichen landwirtschaftlichen Geräte auf seinem Hof immer wieder reparieren und warten musste. Die Anschaffung neuer Geräte hätte sich bei dem kleinen Betrieb nicht gelohnt. Private Schweiß- und Reparaturarbeiten führte er zwar dort auch in geringem Umfang durch, aber weit weniger als Arbeiten für die Landwirtschaft. Der Kläger zu 1. hat die in die Jahre gekommenen Gerätschaften für die Grünlandpflege nur noch deshalb einsetzen können, weil er diese regelmäßig repariert und gewartet hat. Dazu benötigte er eine Werkstatt (mit Werkbank, Schweißapparat, unterschiedlichen Werkzeugen, Schmiermittel etc.). Es kann dahinstehen, ob es sich tatsächlich um 50 Reparaturtage pro Jahr gehandelt hat, weil es für das Gericht jedenfalls feststeht, dass er aufgrund des Alters der am Hof vorhandenen Geräte für die Landwirtschaft deutlich mehr Reparaturen durchführen musste als für den Privathaushalt. Erforderlich waren schließlich nicht nur die Reparaturen an den alten Geräten, sondern auch deren Wartung und Pflege (z.B. Säuberung, Schrauben nachziehen, Einfetten etc.).
Der Abriss des alten Hochsilos stellt damit einen Rückbau der landwirtschaftlichen Betriebsgebäude dar. Der dafür erforderliche Arbeitsaufwand von insgesamt rund drei Arbeitstagen sprengte nicht den Rahmen des § 124 Nr. 2 SGB VII, da es sich um eine mit Mitteln des Betriebes in Eigenregie durchführbare Arbeit handelte. Ein Radlader wurde zwar ausgeliehen, aber für die Verfrachtung der abgetragenen Steine auf den Anhänger hätte man auch den betriebseigenen Frontlader verwenden können.
3. Mitarbeitender Familienangehöriger
Für Arbeiten, die dem landwirtschaftlichen Unternehmen dienten, war der Kläger als mitarbeitender Familienangehöriger bei der Beklagten gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 5 b) SGB VII versichert. Nach dieser Vorschrift sind kraft Gesetzes versichert Personen, die im landwirtschaftlichen Unternehmen nicht nur vorübergehend mitarbeitende Familienangehörige sind. Der Kläger arbeitete vor dem Unfall an rund 35 Tagen pro Jahr im landwirtschaftlichen Unternehmen des Vaters mit. Grundsätzlich setzt die Einordnung als „mitarbeitender Familienangehöriger“ auch voraus, dass dieser bzgl. der im Unfallzeitpunkt verrichteten Tätigkeit in gewissem Umfang vom landwirtschaftlichen Unternehmer weisungsabhängig gewesen ist. Davon ist hier auszugehen, weil der Kläger zu 2. das alte Hochsilo nicht ohne Einverständnis seines Vaters und ohne dessen Vorgaben abgebrochen hätte. Keiner kannte schließlich das alte Silo besser als der Kläger zu 1., der dieses Gebäude hauptsächlich genutzt und auch im Jahr 2013 selbst umgebaut hatte.
4. Objektivierbare Handlungstendenz
Die objektivierbare Handlungstendenz des Klägers zu 2. war im Unfallzeitpunkt vordergründig auf den Abbruch des alten Hochsilos ausgerichtet und nicht primär darauf, wie man die dadurch freiwerdende Fläche nach dem Abriss nutzten würde. Er war sich nach den Aussagen des Klägers zu 1. und des Klägers zu 2. mit seinem Vater darüber einig, dass das alte Hochsilo ohnehin weggeräumt werden müsse und dies nach dem Wohnhausneubau nur schwieriger werde, zumal das neue Wohnhaus sehr nahe an dem alten Hochsilo gestanden wäre, wenn kein Abriss erfolgt wäre.
Der Kläger verrichtete im Unfallzeitpunkt ausschließlich Tätigkeiten, die dem Abriss des alten Hochsilos dienten. Nach der Rechtsauffassung des Gerichts lag dem Abriss des Hochsilos keine sogenannte „gemischte“ oder „gespaltene“ Handlungstendenz zu Grunde, weil etwa mittelbares Ziel gewesen sei, ausreichend Platz für das neue Wohnhaus bzw. für eine privat genutzte Heizungsanlage zu schaffen. Gemischte Tätigkeiten setzen (zumindest) zwei gleichzeitig ausgeübte untrennbare Verrichtungen voraus, von denen (wenigstens) eine den Tatbestand einer versicherten Tätigkeit erfüllt (grundlegend BSG vom 9.11.2010 – B 2 U 14/10 R – SozR 4-2700 § 8 Nr. 39 RdNr. 22; vgl auch BSG vom 15.5.2012 – B 2 U 8/11 R – BSGE 111, 37 = SozR 4-2700 § 2 Nr. 20, RdNr. 75; hierzu Spellbrink, WzS 2011, 351). Das ist hier nicht der Fall. Der Kläger zu 2. hat keine zwei, sondern nur eine Verrichtung ausgeübt, nämlich den Abbruch des alten Hochsilos.
Teilweise findet sich in der Kommentarliteratur noch eine etwa modifizierte Definition: Tätigkeiten mit gemischter Handlungstendenz im Rechtssinne seien danach einheitliche Handlungen, die untrennbar zugleich privaten wie versicherten Belangen dienten (vergleiche Ricke, in Kasseler Kommentar, Sozialversicherung, Bd. 2, § 8 SGB VII, Rn. 44). Der Abbruch des alten Hochsilos ist hier der maßgebende abgeschlossene Handlungskomplex, auf den es vorliegend im Hinblick auf die Bewertung der sog. „objektivierbaren Handlungstendenz“ ankommt. Der Wohnhausbau stellte einen weiteren (davon getrennt zu betrachtenden) Handlungskomplex dar, ebenso der Bau der zu den Privathäusern gehörenden Heizungsanlage. Im Hinblick auf den Handlungskomplex „Abbruch“ lag keine gemischte Motivlage vor. „Gemischt“ würde die Motivlage hier erst dann, wenn man weitere in der Zukunft geplante Handlungseinheiten, wie den Wohnhausneubau oder die Errichtung der Heizungsanlage mit einbeziehen würde. Es ist nach der Rechtsauffassung der Kammer aber nicht zulässig, durch Einbeziehung zukünftiger, eigenständiger Handlungskomplexe nach privaten Motiven zu suchen, die dann insgesamt den Versicherungsschutz zu Fall bringen würden.
Selbst wenn man hier eine „gemischte Tätigkeit“ annehmen würde, wäre dennoch die auf eine versicherte Tätigkeit gerichtete Handlungstendenz zu bejahen: Eine gemischte Tätigkeit wäre nur dann nicht unfallversichert, wenn der betriebliche Teil nur „bei Gelegenheit“ der privaten Maßnahme miterledigt worden wäre (Ricke, a.a.O.). Der Abriss des alten Hochsilos ist aber nicht nur „bei Gelegenheit“ des privaten Wohnhausneubaus mit erledigt worden, vielmehr handelte es sich um eine davon getrennt zu betrachtende quasi vorgeschaltete Maßnahme, die wegen des Alters und der Schadhaftigkeit der Bausubstanz ohnehin früher oder später erforderlich geworden wäre. Es ist aus der Sicht der Kammer nicht entscheidend, ob der dadurch geschaffene Platz hier im Anschluss privaten Zwecken dienen sollte, etwa dem Bau einer Heizungsanlage. Es ist damit auch nicht entscheidungserheblich, ob die Heizanlage im Unfallzeitpunkt für beide Wohnhäuser oder nur für das alte Haus errichtet werden sollte. Ausgangspunkt ist, dass bei einem landwirtschaftlichen Betrieb, wenn dieser verkleinert werden soll, nun einmal alte Gebäude entfernt werden müssen. Das in den 1950er/1960er Jahren errichtete Hochsilo konnte seinen ursprünglichen Zweck, der Lagerung von Silage, schon lange nicht mehr erfüllen und hätte damit früher oder später sowieso abgerissen werden müssen. Die dortige Einrichtung einer Werkstatt war eine Übergangslösung, zumal auch in der Scheune eine Werkbank zur Verfügung stand. Die Bausubstanz des Hochsilos war schlecht, das verwendete Baustahl durch die Einwirkung der Silosäure durchgerostet. Wie die Kläger im Termin vom 03.06.2020 versicherten, wäre der der ohnehin notwendige Rückbau nicht einfacher geworden, wenn direkt neben dem alten Hochsilo das neue Wohnhaus gestanden hätte. Deshalb hat man sich noch vor Baubeginn zum Abriss des Hochsilos entschieden. Der Bau des neuen Wohnhauses war also nur ein Anlass, aber nicht der wesentliche Grund für den Abriss.
An dieser Stelle kann man auch den von Bundessozialgericht geprägten Begriff der „gespaltenen Handlungstendenz“ mit beleuchten: Eine „gespaltene Handlungstendenz“ läge vor, wenn ein und dieselbe Verrichtung gleichzeitig und unmittelbar sowohl versicherten wie privaten Zwecken dienen würde (vgl. etwa BSG im Urteil vom 26.06.2014, B 2 U 4/13 R, Rz. 20 in juris). Ein derartiger Fall liegt hier nicht vor: Die am Unfalltag verrichteten Tätigkeiten dienten unmittelbar nur dem Abbruch und nicht dem Wohnhausneubau oder dem Bau der Heizanlage. Die Kammer hält damit die Rechtsprechung zur „gespaltenen Handlungstendenz“ vorliegend nicht für einschlägig.
5. Gesamtbetrachtung mit Blick auf Schutzzweck der Normen
Unter Betrachtung der konkreten Umstände des vorliegenden Einzelfalles hat die Kammer folgenden Schluss gezogen: Wenn man, wie der Kläger zu 1. und sein Sohn (der Kläger zu 2.), die Beseitigung substanzgeschädigter Betriebsgebäude in eigener Regie durchführt, hierfür eigene Betriebsmittel verwendet und der typischen Gefahr von derartigen nicht gewerbsmäßigen Bauarbeiten ausgesetzt ist, so muss dies nach Meinung der Kammer auch unter den landwirtschaftlichen Unfallversicherungsschutz fallen. Es hat sich hier auch eine typische Gefahr verwirklicht, vor der die Landwirte nach dem Willen des Gesetzgebers durch § 124 Nr. 2 SGB VII abgesichert werden sollen. Auf landwirtschaftlichen Höfen wird oft über Generationen hinweg je nach der Veränderung der Betriebszwecke gebaut oder angebaut, früher oft auch in wenig fachmännischer Weise. Dies birgt Risiken und Gefahren gerade für die, die diese Baulichkeiten nutzen oder beseitigen. Hier hat sich gerade das Risiko verwirklicht, dass sich der alte Erdkeller nicht mehr in statisch einwandfreiem Zustand befand und ihn daher die Beseitigung der Hochsilomauer zum Einsturz brachte. Der Schutzzweck des § 124 Nr. 2 SGB VII gebietet es also nach Meinung der Kammer, dass Verrichtungen, die unmittelbar auf den Abbruch alter landwirtschaftlicher Betriebsgebäude gerichtet sind, vom Versicherungsschutz umfasst sind. Es kommt nicht darauf an, wenn das mittelbare Ziel etwa privater Natur ist (vgl. auch Urteil des Sozialgerichts Augsburg v. 07.05.2002, S 5 U 5030/01 L). Früher oder später wird einem Rückbau eines landwirtschaftlichen Betriebes der Abriss von alten Gebäuden in aller Regel dazu führen, dass die dadurch gewonnene Fläche für nichtlandwirtschaftliche bzw. private Zwecke genutzt wird. Es kann daher nach Meinung der Kammer vor dem Hintergrund des Schutzzwecks der Norm nicht hingenommen werden, dass der Versicherungsschutz beim Rückbau eines landwirtschaftlichen Gebäudes nur deshalb entfallen würde, weil in zeitlicher Nähe zum Abriss eine private Nutzung der frei werdenden Fläche geplant ist. Es darf für den Versicherungsschutz nach § 124 Nr. 2 SGB VII keinen Unterschied machen, ob die frei werdende Fläche gleich nach dem Abriss oder erst fünf Jahre später für private Zwecke genutzt wird.
6. Fachliche Zuständigkeit der Beklagten für landwirtschaftliche Bauarbeiten
Zur in Frage stehenden fachlichen Zuständigkeit der beigeladenen BG Bau ist auszuführen, dass nur für Arbeiten, die sich auf mehr als fünf Arbeitstage erstrecken, die BG Bau fachlich zuständig wäre (vgl. § 129 Abs. 1 Nr. 3 SGB VII und Köhler in „Soziale Sicherheit in der Landwirtschaft“ 1/2015, S. 9). Der Abriss des alten Hochsilos nahm nur etwa 2 bis 3 volle Arbeitstage in Anspruch, wie der Kläger zu 1. im Termin vom 03.06.2020 nachvollziehbar angab. Bei Bauarbeiten unter fünf Arbeitstagen kann zwar nach § 129 Abs. 1 S. 3 SGB VII auch die Kommunale Unfallversicherung fachlich zuständig sein, nicht aber, wenn ein Fall des § 124 Nr. 2 SGB VII vorliegt – dann ist die Beklagte vorrangig sachlich zuständig.
Ebenso ist nach der Rechtsauffassung des Gerichts die Bayerische Landesunfallkasse vorliegend nicht eintrittspflichtig, weil eine Nothilfe im Sinne von § 2 Abs. 1 Nummer 13 a) SGB VII nicht ausreichend bewiesen ist. Der Einsturz der Erdkellermauer mitsamt Gewölbe dauerte allenfalls wenige Sekunden. Es ist deshalb nicht mehr genau rekonstruierbar, an welcher Stelle die heutige Ehefrau bzw. der Schwiegervater des Klägers zu 2. im Zeitpunkt des Einsturzes genau standen und ob diese somit überhaupt von der einstürzenden Mauer getroffen worden wären. Zwar hat der Kläger zu 2. am 24.08.2018 gegenüber einem Mitarbeiter der Beklagten telefonisch angegeben, dass er die Ehefrau und den Schwiegervater „weggeschubst“ habe. Damit ist aber noch nicht klar, ob die Ehefrau und der Schwiegervater überhaupt von den Mauer getroffen worden wären, wenn sie nicht „geschubst“ worden wären. Auch ist nicht klar, ob der Kläger zu 2. von der Mauer nicht getroffen worden wäre, wenn er die Beiden nicht „weggeschubst“ hätte. Im Verhandlungstermin vom 14.08.2020 haben der Kläger zu 2., seine Ehefrau und deren Vater keine übereinstimmenden Angaben zu den jeweiligen Standorten im Unfallzeitpunkt gemacht (vgl. auch die Skizzen in der Anlage zur Sitzungsniederschrift vom 14.08.2020). Der Zeuge F. hat sogar angegeben, er und seine Tochter seien einige Meter weit vom Kläger zu 2. und somit auch von der einstürzenden Mauer entfernt gewesen. Es ist damit nicht zu klären, ob das „Wegschubsen“ überhaupt eine Bedingung dafür war, dass der Kläger zu 2. nicht rechtzeitig weggekommen ist und schließlich von der Mauer getroffen wurde. Feststeht nur, dass er im Unfallzeitpunkt den Bohrhammer in der Hand hatte, gegen die Silowandreste stemmte und damit sehr dicht neben der einstürzenden Mauer stand. Aus dem Grund kam er auch nicht mehr weg, obwohl er das Einstürzen als Erster gesehen hatte.
Aus all den genannten Gründen ist die fachlich zuständige Beklagte zu verurteilen, unter Aufhebung des Bescheides vom 29.11.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.11.2019 (gegenüber dem Kläger zu 2.) und des Bescheides vom 23.08.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.10.2019 (gegenüber dem Kläger zu 1.) das Ereignis vom 08.08.2018 als Versicherungsfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung anzuerkennen. Die Verurteilung zur Gewährung der gesetzlichen Leistungen ist im Übrigen rein deklaratorisch, weil diese Verpflichtung ohnehin aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung folgt.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 183, 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).


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