Medizinrecht

Kein Nachweis einer “schweren Erkrankung” in der Reiserücktrittsversicherung durch Vorlage eines ärztlichen Attestes aufgrund telefonischer Anamnese

Aktenzeichen  174 C 6951/20

Datum:
29.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 46739
Gerichtsart:
AG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
VVG § 7, § 28
ZPO § 256
AVB Reiserücktrittsversicherung

 

Leitsatz

1. Enthalten die AVB einer Reiserücktrittsversicherung ein Leistungsversprechen für den Fall, dass dem Versicherten die Fortführung oder der Antritt der versicherten Reise auf Grund einer schweren Erkrankung unzumutbar ist, genügt der Versicherte seiner Darlegungs- und Beweislast für den Eintritt des Versicherungsfalles nicht allein durch Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung, die auf einer Einschätzung im Rahmen einer telefonischen Erörterung der Sachlage beruht, ohne dass eine tatsächliche Untersuchung stattgefunden hat. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
2. Daran ändert es – mangels eines Leistungsversprechens für einen solchen Fall – nichts, wenn der Versicherte seine Reise auch deshalb abbricht, weil die Urlaubsregion durch das RKI im Rahmen der Covid-19-Pandemie zum Risikogebiet erklärt worden ist und er deshalb keine Behandlung in einem Krankenhaus oder einer Arztpraxis vor Ort wünscht. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
3. In einem solchen Fall kann sich der Versicherer auch wegen einer (grob fahrlässigen) Obliegenheitsverletzung auf Leistungsfreiheit berufen, wenn der Versicherte weder eine ärztliche Bescheinigung eines Arztes am Urlaubsort vorlegen kann noch nach seiner Rückkehr an den Heimatort eine Vorstellung beim Arzt erfolgt. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrags leistet.
Der Streitwert wird auf 1.985,00 € festgesetzt.

Gründe

Die Klage ist zulässig, insbesondere ist das Amtsgericht München örtlich gem. §§ 12, 17 ZPO, sachlich gem. §§ 23, 71 GVG zuständig.
Die Klage ist unbegründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Zahlung eines Betrages vom 1.685,00 €.
Von einer wirksamen Einbeziehung der Versicherungsbedingungen gem. § 7 VVG ist auszugehen. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung angegeben, er habe bei Vertragsschluss verschiedene Unterlagen erhalten. Ein substantiierter Vortrag, welche Unterlagen er nicht erhalten haben will, fehlt. Unabhängig davon, ob dem Kläger die Versicherungsbedingungen übergeben wurden, geht er jedenfalls auch selbst davon aus, dass der Versicherungsfall nur dann eingetreten wäre, wenn ihm die Fortführung der ersten Reise und der Antritt der weiteren Reise auf Grund einer schweren Erkrankung (§ 13 bzw. § 19 AVG) unzumutbar gewesen wäre.
Eine solche schwere Erkrankung hat der Kläger vorliegend nicht nachgewiesen. Zwar glaubt das Gericht der Darstellung des Klägers, wonach dieser am 05.03.2020 auf einer Langlaufloipe in Südtirol auf den Rücken gestürzt ist und in der Folge starke Schmerzen hatte und hoch dosierte Schmerzmittel einnehmen musste. Allerdings hat der Kläger nicht bewiesen, dass es sich hierbei um eine schwere Erkrankung gehandelt hat, die die Fortführung der ersten Reise und den Antritt der weiteren Reise unzumutbar machte. Denn einen Arzt hat der Kläger zu keinem Zeitpunkt aufgesucht. Die vorgelegte ärztliche Bescheinigung des Dr. S, die auch die Unzumutbarkeit impliziert, beruhte auf einer Einschätzung im Rahmen einer telefonischen Erörterung der Sachlage, ohne dass eine tatsächliche Untersuchung stattgefunden hat. Sie hat daher hinsichtlich der Diagnose „starke Prellung und/oder Fraktur“ allenfalls einen eingeschränkten, bezüglich der Frage der Unzumutbarkeit der Fortführung der Reise keinen Aussagewert. Auch später erfolgte weder in Südtirol noch nach der Rückkehr nach Deutschland ein Arztbesuch, so dass die Art der Erkrankung sowie ihre Folgen nicht beurteilt werden können. Immerhin war der Kläger – wenn auch unter der Einnahme von Schmerzmitteln – in der Lage, die Heimreise von Südtirol nach Bonn anzutreten, weshalb nicht ohne weiteres nachzuvollziehen ist, weshalb die Reise nicht vor Ort fortgeführt bzw. die weitere Reise, Aufenthalt im Hotel T, nicht angetreten werden konnte.
Es spricht vielmehr vieles dafür, dass der Kläger nach dem Unfall den Aufenthalt abbrach und nach der Rückkehr nach Deutschland die weitere Reise im Hotel T nicht antrat, weil Südtirol zwischenzeitlich vom Robert-Koch-Institut zum Risikogebiet erklärt worden war, der Kläger keinesfalls eine Behandlung in einem Krankenhaus oder Arztpraxis vor Ort wünschte und er zudem die Sorge hatte, dass die Grenzen geschlossen werden würden, wie er sowohl schriftlich als auch mündlich vorgetragen hat. Dieser Umstand ist aber von der streitgegenständlichen Versicherung nicht gedeckt.
Darüber hinaus ist die Beklagte auch wegen der Obliegenheitsverletzung des Klägers, eine ärztliche Bescheinigung eines (Fach-)Arztes vor Ort vorzulegen (§ 19 bzw. 27 AVG), von der Leistungspflicht hinsichtlich des Abbruchs der ersten Reise befreit. Unstreitig erfolgte ein Arztbesuch in Südtirol nicht, wobei dem Beklagten grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist. Denn es ist nicht erklärbar, warum der Besuch eines Krankenhauses oder einer Arztpraxis in Südtirol auch im Rahmen der Covid 19- Pandemie nicht möglich gewesen sein soll. Das Gericht geht davon aus, dass in Südtirol vergleichbare Standards hinsichtlich Schutz und Hygiene bestehen wie in Deutschland und bei der Untersuchung von Patienten Vorkehrungen getroffen werden, um ein Ansteckung zu vermeiden. Der Umstand, dass der Kläger vor Ort keinen Arzt aufsuchte, erfolgte daher aufgrund einer persönlichen Entscheidung, nicht aufgrund objektiver Umstände.
Auch nach der Rückkehr nach Deutschland erfolgte keine Vorstellung bei einem Arzt mehr, so dass auch hierin eine Obliegenheitspflichtverletzung zu sehen ist, denn der vorgelegten ärztlichen Bescheinigung kommt aufgrund der bloßen telefonischen Beratung und fehlenden Untersuchung nur wenig Aussagekraft zu.
Der Feststellungsantrag ist unzulässig, da ein Feststellungsinteresse nicht dargetan ist. Soweit die Feststellung einer „angemessenen“ Reduzierung begehrt wird, ist er auch unbestimmt. Darüber hinaus ist der Feststellungsantrag auch unbegründet. Der Versicherungsschutz gilt weltweit und für jede Art von Reise. Selbst eine weltweit ausgesprochene Reisewarnung stellt kein Reiseverbot dar, weshalb der Vertrag auch bei Reisen in Gebiete, für die eine Reisewarnung ausgesprochen ist, Schutzwirkung entfalten würde. Soweit vereinzelt Reiseverbote innerhalb Deutschlands für bestimmte Zeiträume ausgesprochen wurden, führt dies nicht zum Wegfall der Geschäftsgrundlage, da – wie dargelegt – Reisen grundsätzlich möglich bleiben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 709, 711 ZPO.
Der Streitwert wurde nach freiem Ermessen festgesetzt, § 3 ZPO. Das Feststellungsinteresse hat das Gericht mit 300,00 € bewertet.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen


Nach oben