Medizinrecht

Keine Einstweilige Anordnung mangels Hilfebedürftigkeit und fehlenden Anordnungsgrundes

Aktenzeichen  L 11 AS 293/16 B ER

Datum:
3.8.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 71499
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB XII § 21, § 23 Abs. 1 Satz 3
SGG § 86b Abs. 2 Satz 2, § 172, § 173
SGB VII § 7

 

Leitsatz

1. Eine Leistungsberechtigung nach dem SGB II schließt gemäß § 21 SGB XII einen Anspruch nach § 23 SGB XII aus. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
2. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung des Anordnungsgrundes ist der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung auch im Beschwerdeverfahren, weshalb Leistungen eines zurückliegenden Zeitraumes im Rahmen eines Eilverfahrens nicht gewährt werden können. (Rn. 16 – 17) (redaktioneller Leitsatz)
3. Liegr keine Hilfebedürftigkeit vor, sind weder Leistungen nach dem SGB II noch nach dem SGB XII zu gewähren. (Rn. 14 – 15) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 16 AS 365/16 ER 2016-05-02 Bes SGNUERNBERG SG Nürnberg

Tenor

I. Der Beschluss des Sozialgerichts Nürnberg vom 02.05.2016 wird aufgehoben und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

I.
Streitig sind Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Arbeitslosengeld – Alg II) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) bzw. Leistungen zur Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII).
Die Antragstellerin (ASt) ist ungarische Staatsangehörige. Mit Bescheid vom 20.10.2015 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 11.03.2016 gewährte der Antragsgegner (Ag) ihr und dem mit ihr in Bedarfsgemeinschaft lebenden Herrn F. S. (S), einem griechischen Staatsangehörigen, Alg II. S wurden dabei Leistungen vom 01.09.2015 bis 29.02.2016 bewilligt, der ASt jedoch nur für die Zeit vom 01.09.2015 bis 16.11.2015, da sie ab dem 17.11.2015 keinen gültigen Arbeitnehmerstatus mehr habe. Widerspruch gegen den Bescheid wurde nach Aktenlage nicht eingelegt, jedoch beantragte S am 21.01.2016 die Überprüfung der Leistungsbeschränkung für die ASt auf die Zeit bis 16.11.2015. Den Überprüfungsantrag lehnte der Ag mit Bescheid vom 01.02.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.02.2016 ab. Eine Klage ist dagegen nach Aktenlage nicht erhoben worden. Nachdem die ASt vom 15.02.2016 bis 27.02.2016 bei der Firma A. UG beschäftigt gewesen ist, bewilligte der Ag mit Änderungsbescheid vom 06.06.2016 auch der ASt Alg II für die Zeit vom 15.02.2016 bis 29.02.2016.
Mit Bescheid vom 07.06.2016 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 07.06.2016 bewilligte der Ag der ASt vorläufig Alg II für die Zeit vom 01.04.2016 bis 26.08.2016. Sie habe einen Arbeitnehmerstatus aufgrund ihrer schuldlosen Kündigung bis zum 26.08.2016 erhalten. Für März 2016 ergab sich wegen des anzurechnenden Einkommens kein Leistungsanspruch. Widerspruch wurde dagegen nach Aktenlage nicht eingelegt. Seit 13.05.2016 arbeiten die ASt und S bei der Firma B … Die regelmäßige Arbeitszeit beträgt nach den Arbeitsverträgen jeweils 40 Stunden wöchentlich bei einem Bruttostundenlohn von 9,80 EUR.
Bereits am 31.03.2016 hat die ASt beim Sozialgericht Nürnberg (SG) einstweiligen Rechtsschutz beantragt. Ein Leistungsantrag vom 10.02.2016, den sie zusammen mit S gestellt habe, sei bislang nicht bearbeitet worden. Seit 17.11.2015 erhalte sie keine Leistungen mehr. Nachdem das SG die Stadt N. mit Beschluss vom 01.04.2016 beigeladen hat, hat es diese mit Beschluss vom 02.05.2016 verpflichtet, vorläufig ab 31.03.2016 bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, längstens bis 31.08.2016 Leistungen zur Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII zu gewähren, und im Übrigen den Antrag abgelehnt.
Dagegen hat die Beigeladene Beschwerde beim Bayer. Landessozialgericht eingelegt.
Auf Hinweis des Senates, dass u. a. im Hinblick auf die aufgenommene Arbeit seit 13.05.2016 kein Leistungsanspruch mehr bestehen dürfte, hat die ASt mitgeteilt, sie werde ihren Antrag nicht zurücknehmen, da es ihr um den Zeitraum vom 17.11.2015 bis 15.02.2016 gehe, für den der Ag die Bewilligung von Leistungen abgelehnt habe.
Zur Ergänzung des Sachverhaltes wird auf die Akten des Ag sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz – SGG) und begründet. Das SG hat allein in Unkenntnis des Bestehens eines Arbeitsverhältnisses zumindest bis 27.02.2016 zu Unrecht die Beigeladenen verpflichtet, ab 31.03.2016 vorläufig bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, längstens bis 31.08.2016 Leistungen zur Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII zu gewähren, wobei es die Beigeladene zur Zahlung eines bezifferten Betrages hätte verpflichtet müssen.
Rechtsgrundlage für die Gewährung des diesbezüglichen vorläufigen Rechtsschutzes stellt § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG dar, da der geltend gemachte Rechtsanspruch in der Hauptsache mittels einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage geltend zu machen ist. Insoweit ist eine Regelung zulässig, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das ist etwa dann der Fall, wenn die ASt ohne eine solche Anordnung schwere und unzumutbare, nicht anders abwendbare Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (so BVerfG vom 25.10.1998 – BVerfGE 79, 69 (74); vom 19.10.1997 – BVerfGE 46, 166 (179) und vom 22.11.2002 – NJW 2003, 1236; Niesel/Herold-Tews, Der Sozialgerichtsprozess, 5. Aufl, Rn. 652). Die Regelungsanordnung setzt das Vorliegen eines Anordnungsgrundes – das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit – und das Vorliegen eines Anordnungsanspruches – das ist der materiell-rechtliche Anspruch, auf den die ASt ihr Begehren stützt – voraus. Die Angaben hierzu hat die ASt glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 2 und 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2, § 294 ZPO; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage, § 86b Rn. 41).
Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage im vom BVerfG vorgegebenen Umfang (BVerfG vom 12.05.2005 – Breithaupt 2005, 803 = NVwZ 2005, 927, NDV-RD 2005, 59) das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu. Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall ist ggf. auch anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange der ASt zu entscheiden (vgl. BVerfG vom 12.05.2005 – Breithaupt 2005, 803 = NVwZ 2005, 927, NDV-RD 2005, 59 und vom 22.11.2002 NJW 2003, 1236; BVerfG vom 15.01.2007 – 1 BvR 2971/06; weniger eindeutig BVerfG, Beschluss vom 04.08.2014 – 1 BvR 1453/12).
Demnach ist ein Anordnungsanspruch der ASt in Bezug auf die Gewährung von Leistungen zur Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII durch die Beigeladene für die Zeit vom 31.03.2016 bis 31.08.2016 nicht gegeben.
Nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII ist Ausländern, die sich im Inland tatsächlich aufhalten, Hilfe zum Lebensunterhalt, Hilfe bei Krankheit, Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft sowie Hilfe zur Pflege nach diesem Buch zu leisten, wobei nach § 23 Abs. 1 Satz 2 SGB XII die Vorschriften des Vierten Kapitels unberührt bleiben. Im Übrigen kann Sozialhilfe geleistet werden, soweit dies im Einzelfall gerechtfertigt ist (§ 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII). Das SG ist davon ausgegangen, es bestünde kein Anspruch auf Alg II gegen den Ag, so dass es – unter Zugrundelegung des vom SG angenommenen Sachverhaltes – völlig zutreffend davon ausgegangen ist, eine vorläufige Verpflichtung der Beigeladenen zur Gewährung von Leistungen nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII sei gerechtfertigt (vgl. dazu Beschluss des Senates vom 16.06.2016 – L 11 AS 348/16 B ER; BayLSG, Beschluss vom 14.03.2016 – L 18 AS 53/16 B ER). Somit wäre aus den von der Beigeladenen vorgetragenen Gründen der Beschluss nicht aufzuheben gewesen.
Tatsächlich wurde der ASt allerdings mit – nach Aktenlage – bestandskräftigem Bescheid vom 07.06.2016 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 07.06.2016 vorläufig Alg II für die Zeit vom 01.04.2016 bis 26.08.2016 bewilligt. Eine Leistungsberechtigung nach dem SGB II schließt allerdings nach § 21 SGB XII einen Anspruch auf Leistungen zur Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 23 SGB XII aus. Eine entsprechende – vom SG zu beziffernde – Verpflichtung der Beigeladenen kommt daher nicht in Betracht.
Für den 31.03.2016 und die Zeit vom 27.08.2016 bis 31.08.2016 fehlt es an einer Hilfebedürftigkeit der ASt. Sowohl § 19 Abs. 1 SGB XII, für Leistungen nach § 23 SGB XII, als auch § 9 Abs. 1 SGB II, für das Alg II, setzen eine Hilfebedürftigkeit des Leistungsberechtigten voraus, die nur gegeben ist, wenn der Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen gesichert und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erlangt werden kann. Im Hinblick auf den 31.03.2016 hat der Ag in den Bescheiden vom 07.06.2016 festgestellt, dass das anzurechnende Einkommen der ASt und von S ausreichend war, um ihren Bedarf im Monat März 2016 zu decken. Dafür, dass dies anders gewesen sein soll, gibt es weder Anhaltspunkte, noch hat die ASt entsprechendes vorgetragen. Gegen den Bescheid vom 07.06.2016 wurde nach Aktenlage kein Widerspruch eingelegt und im Schreiben vom 02.08.2016 hat die ASt darauf verwiesen, ihr gehe es um Alg II für die Zeit vom 17.11.2015 bis 15.02.2016.
Auch bezüglich der Zeit vom 27.08.2016 bis 31.08.2016 ist eine Hilfebedürftigkeit nicht glaubhaft. Nach den Arbeitsverträgen der ASt und des S sind beide seit 13.05.2016 in einer Vollzeitbeschäftigung mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden bei einem Stundenlohn von 9,80 EUR beschäftigt. Weder aus den Akten noch aus dem Vortrag der ASt ergibt sich, dass diese Tätigkeiten zwischenzeitlich aufgegeben worden wären. Demnach verdienen beide jeweils ca. 1.700 EUR brutto monatlich (365 Tage /52 Wochen x 40 Stunden x 9,80 EUR). Der Bedarfsgemeinschaft steht folglich für den August 2016 ein Bruttoeinkommen von ca. 3.400 EUR zur Verfügung, das auch unter Berücksichtigung der Absetzungsbeträge des § 11b SGB II bzw. § 82 Abs. 2 und 3 SGB XII ohne Zweifel geeignet ist, den Bedarf zu decken, der zuletzt für Juli 2016 iHv 1.079,50 EUR im unangefochtenen Bewilligungsbescheid des Ag vom 07.06.2016 Berücksichtigung gefunden hat.
Soweit die ASt vorbringt, ihr gehe es um die Zahlung von Alg II durch den Ag für die Zeit vom 17.11.2015 bis 15.02.2016, fehlt es hierfür – unabhängig davon, ob diese Leistungen überhaupt Gegenstand des Beschwerdeverfahrens sind, da alleine die Beigeladene Beschwerde gegen den Beschluss des SG vom 02.05.2016 erhoben hat, und allenfalls eine Berücksichtigung dieses Streitgegenstandes im Rahmen einer unselbstständigen Anschlussbeschwerde in Betracht käme – am Vorliegen eines Anordnungsgrundes.
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung des Anordnungsgrundes, also der Eilbedürftigkeit der Sache, ist in jeder Lage des Verfahrens, insbesondere auch noch im Beschwerdeverfahren, der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. z. B. Beschluss vom 17.01.2011 – L 11 AS 889/10 B ER – juris). Zu diesem Zeitpunkt ist aber der Zeitraum (17.11.2015 bis 15.02.2016), für den die ASt noch Alg II begehrt, bereits abgelaufen. Schon der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim SG wurde erst am 31.03.2016 gestellt.
Im Rahmen einer Regelungsanordnung ist der Anordnungsgrund die Notwendigkeit, wesentliche Nachteile abzuwenden, um zu vermeiden, dass die ASt vor vollendete Tatsachen gestellt werden, ehe sie wirksamen Rechtsschutz erlangen kann (vgl. Keller a. a. O. § 86b Rn. 27a). Charakteristisch ist daher für den Anordnungsgrund die Dringlichkeit der Angelegenheit, die in aller Regel nur in die Zukunft wirkt. Es ist rechtlich zwar nicht auszuschließen, dass auch für vergangene Zeiträume diese Dringlichkeit angenommen werden kann; diese überholt sich jedoch regelmäßig durch Zeitablauf. Ein Anordnungsgrund für Zeiträume vor einer gerichtlichen Entscheidung ist daher nur ausnahmsweise anzunehmen, wenn ein noch gegenwärtig schwerer, irreparabler und unzumutbarer Nachteil glaubhaft gemacht wird, und ein besonderer Nachholbedarf durch die Verweigerung der Leistungen in der Vergangenheit auch in der Zukunft noch fortwirkt oder ein Anspruch eindeutig besteht (vgl. Beschluss des Senates vom 12.04.2010 – L 11 AS 18/10 B ER – juris). Beides ist vorliegend nicht der Fall.
Damit war auf die Beschwerde der Beigeladenen der Beschluss des SG aufzuheben und der Antrag der ASt auf einstweiligen Rechtsschutz abzulehnen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der analogen Anwendung des § 193 SGG.
Der Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).


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