Medizinrecht

Keine Kostenerstattung für künstliche Befruchtung bei Verstoß gegen das Embryonenschutzgesetz

Aktenzeichen  S 7 KR 242/21

Datum:
26.1.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 1846
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 13 Abs. 4, § 27a
ESchG § 1

 

Leitsatz

1. Ein Leistungsanspruch auf künstliche Befruchtung setzt voraus, dass die Behandlung nicht gegen das Embryonenschutzgesetz verstößt. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Embryonenschutzgesetz verbietet es, mehr Eizellen zu befruchten, als innerhalb eines Zyklus übertragen werden sollen (hier durchgeführt in Österreich). (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage gegen den Bescheid vom 12.10.2020 in der Gestalt des Widerspruchbescheids vom 10.02.2021 wird abgewiesen.
II. Die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.

Gründe

Die Klage hat keinen Erfolg.
Streitig ist die Kostenerstattung einer in Österreich durchgeführten künstlichen Befruchtung in Höhe von 8.948,26 Euro.
Die Klage ist zulässig. Sie ist gemäß §§ 87, 90, 92 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht erhoben worden. Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und unechte Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 und Abs. 4 SGG) statthaft. Die Klagebefugnis der Klägerin (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG) ergibt sich aus einer möglichen Verletzung ihres Anspruchs auf Kostenerstattung gemäß § 13 Abs. 4 Satz 1 SGB V. Das Widerspruchsverfahren wurde gemäß § 78 Abs. 1 Satz 1 SGG durchgeführt.
Die Klage ist unbegründet. Der Bescheid vom 12.10.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.02.2021 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.
Ein Erstattungsanspruch gemäß § 13 Abs. 4 Satz 1 SGB V besteht nicht. Versicherte sind gemäß § 13 Abs. 4 Satz 1 SGB V berechtigt, auch Leistungserbringer in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union, einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz anstelle der Sach- oder Dienstleistung im Wege der Kostenerstattung in Anspruch zu nehmen, es sei denn, Behandlungen für diesen Personenkreis im anderen Staat sind auf der Grundlage eines Pauschbetrages zu erstatten oder unterliegen auf Grund eines vereinbarten Erstattungsverzichts nicht der Erstattung. Es dürfen gemäß § 13 Abs. 4 Satz 2 SGB V nur solche Leistungserbringer in Anspruch genommen werden, bei denen die Bedingungen des Zugangs und der Ausübung des Berufes Gegenstand einer Richtlinie der Europäischen Gemeinschaft sind oder die im jeweiligen nationalen System der Krankenversicherung des Aufenthaltsstaates zur Versorgung der Versicherten berechtigt sind. Der Anspruch auf Erstattung besteht gemäß § 13 Abs. 4 Satz 3 SGB V höchstens in Höhe der Vergütung, die die Krankenkasse bei Erbringung als Sachleistung im Inland zu tragen hätte. Mit § 13 Abs. 4 bis 6 SGB V erhalten Versicherte die Möglichkeit, medizinische Versorgung in anderen Mitgliedstaaten der EU, einem EWR-Vertragsstaat und der Schweiz in Anspruch zu nehmen. Versicherte sind daher in ihrer Nachfrage nicht mehr territorial auf das Inland beschränkt, sondern können für Behandlungen im Geltungsbereich des EU-Vertrages die Leistungserbringer dieser Staaten in Anspruch nehmen, wobei sie dann aber auch das Risiko tragen müssen, nur einen Teil ihrer Kosten erstattet zu erhalten (Krauskopf, SGB V § 13 Rn. 55, Stand 2020; KassKomm/ Schifferdecker, 116. EL September 2021, SGB V § 13 Rn. 149).
Die Anspruchsvoraussetzungen gemäß § 13 Abs. 4 Satz 1 und 2 SGB V liegen vor. Die Klägerin zählt als Versicherte zum anspruchsberechtigten Personenkreis. Die S GmbH ist ein nach nationalem Recht zugelassenen Leistungserbringer.
Es handelt sich um eine Selbstbeschaffung einer gesetzlichen Leistung. Die Klägerin und ihr Ehemann erfüllen die Voraussetzungen des § 27a SGB V, so dass grundsätzlich Anspruch auf eine intracytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) gemäß Nr. 11.5 der Richtlinien über künstliche Befruchtung bestand. Die Beklagte hat am 18.05.2020 den Behandlungsplan vom 27.04.2020 den Behandlungsplan für maximal drei Zyklen ICSI genehmigt. Die Versicherten können sich grundsätzlich nur die im System der deutschen Krankenversicherung vorgesehenen Sach- und Dienstleistungen in anderen EU- und EWR-Staaten selbst beschaffen. Die Leistung muss insbesondere notwendig, wirtschaftlich und wirksam sein (vgl. §§ 2 Abs. 1, 12; BayLSG, Urt. v. 27.3.2020 – L 4 KR 405/19, Rn. 34). Inländische Leistungsvoraussetzungen gelten uneingeschränkt fort, soweit sie nicht diskriminierend wirken. Sind Ansprüche etwa von der Einhaltung eines besonderen Verfahrens oder einer besonderen vorherigen Genehmigung der Krankenkasse abhängig, so gelten diese Voraussetzungen grundsätzlich auch bei einer Verschaffung der Leistung im EU-Ausland (KassKomm/Schifferdecker, 116. EL September 2021, SGB V § 13 Rn. 174, 175).
Ein Erstattungsanspruch gemäß § 13 Abs. 4 Satz 1 SGB V besteht nicht, da bei der Behandlung gegen das Verbot des § 1 Abs. 1 Nr. 5 ESchG verstoßen wurde, mehr Eizellen einer Frau zu befruchten, als ihr innerhalb eines Zyklus übertragen werden sollen.
Der Kostenerstattungsanspruch gemäß § 13 Abs. 4 SGB V setzt voraus, dass der Versicherte einen primären Leistungsanspruch hat. § 13 Abs. 4 SGB V eröffnet lediglich den Zugang europäischer Leistungserbringer zum inländischen Krankenversicherungssystem, befreit aber nicht von den Regelungen des SGB V (LSG Baden-Württemberg, Urt. 19.07. 2013 – 4 KR 4624/12, BeckRS 2014, 65926). Behandlungen, die keine Leistung der deutschen Gesetzlichen Krankenversicherung sind, können auch nicht im Ausland zu Lasten der deutschen GKV in Anspruch genommen und abgerechnet werden (LSG Sachsen-Anhalt, Urt. 02.05.2012 – L 10 KR 31/09; Krauskopf/Wagner, 111. EL Mai 2021, SGB V § 13 Rn. 57).
Entgegen der Ansicht der Klägerin setzt ein Leistungsanspruch auf künstliche Befruchtung gemäß § 27a Abs. 1 SGB V nach allgemeiner Meinung voraus, dass die Behandlung nicht gegen das Embryonenschutzgesetz (ESchG) verstößt. Dies ergibt sich sowohl aus Einheit der Rechtsordnung als auch der Gesetzesbegründung (BT-Dr 65/90 S. 33; Krauskopf/ Wagner, 111. EL Mai 2021 Rn. 6, SGB V § 27a Rn. 6). Das Embryonenschutzgesetz stellt die Anwendung von bestimmten Fortpflanzungstechniken, die im Einzelnen in § 1 Embryonenschutzgesetz aufgeführt sind, unter Strafe. Das Embryonenschutzgesetz erfasst nach dem sich auf Wortlaut und Entstehungsgeschichte stützenden Regelungszweck unter Beachtung der Einheit der Rechtsordnung auch die Kostenerstattung und alle Stellen, die im Geltungsbereich des Embryonenschutzgesetzes in die Verschaffung von ärztlichen Leistungen eingebunden sind. Eine von der Rechtsordnung verbotene Behandlung kann nicht Teil des Leistungskataloges der Gesetzlichen Krankenversicherung sein. Behandlungen, die rechtlich nicht zulässig sind, dürfen von der Krankenkasse nicht gewährt oder bezahlt werden (SG Dresden, Gerichtsbescheid v. 31.08.2016 – S 25 KR 236/14, BeckRS 2016, 118506 Rn. 15-19).
Bei der Behandlung der Klägerin in Österreich wurde gegen § 1 Abs. 1 Nr. 5 ESchG verstoßen. Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 5 ESchG bestraft, wer es unternimmt, mehr Eizellen einer Frau zu befruchten, als ihr innerhalb eines Zyklus übertragen werden sollen. Ziel dieser Regelung ist, die Erzeugung sog. „überzähliger“ bzw. „verwaister“ Embryonen zu verhindern, dh solcher Embryonen, die – aus diversen Gründen (etwa Tod, Erkrankung oder Willensänderung der Eizellspenderin bzw. wegen eingetretenem reproduktionsmedizinischem Erfolg) – nicht mehr auf die Frau, von der die Eizellen stammen, übertragen werden können. Hierdurch wird zugleich einer missbräuchlichen Verwendung der Embryonen vorgebeugt. Zur Erreichung dieser Ziele ordnet § 1 Abs. 1 Nr. 5 ESchG an, dass nicht mehr Eizellen befruchtet werden dürfen, als der Eizellspenderin innerhalb eines Behandlungszyklus übertragen werden sollen (Spickhoff/Müller-Terpitz, 3. Aufl. 2018, ESchG § 1 Rn. 17, 18).
§ 1 Abs. 1 Nr. 5 ESchG ist vorliegend ein Verbotsgesetz im Sinne von § 134 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Unter welchen Voraussetzungen ein Rechtsgeschäft gegen ein Verbotsgesetz verstößt, hängt allein vom Tatbestand der jeweils in Rede stehenden Verbotsnorm ab. Gehören zum Tatbestand der Verbotsnorm auch subjektive Merkmale, wie dies etwa notwendigerweise bei Straf- und Bußgeldbestimmungen der Fall ist, müssen diese grundsätzlich ebenfalls vorliegen, um eine Nichtigkeit eines gesetzeswidrigen Rechtsgeschäfts nach § 134 bejahen zu können. Von diesem Grundsatz sind allerdings Ausnahmen möglich. So ist anerkannt, dass die Verwirklichung der subjektiven Voraussetzungen eines Straftatbestandes ausnahmsweise nicht erforderlich ist, wenn der Schutzzweck der verletzten Norm die Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts unabweislich erfordert (BeckOGK/ Vossler, 1.12.2021, BGB § 134 Rn. 68, 69).
Nach einer Auffassung erlaubt § 1 Abs. 1 Nr. 5 ESchG nur die Befruchtung von drei Eizellen. Es wäre ein Widerspruch zur Intention des Gesetzgebers, der die Produktion überzähliger Embryonen verhindern wollte. Nachdem im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens in der jetzigen Regelung des § 1 Abs. 1 Nr. 3 ESchG ausdrücklich festgeschrieben wurde, dass innerhalb eines Zyklus höchstens drei Eizellen übertragen werden können, darf auch höchstens diese Anzahl befruchtet werden (Erbs/Kohlhaas/ Pelchen/Häberle, 236. EL Mai 2021 Rn. 8, ESchG § 1 Rn. 8). Demzufolge liegt ein Verstoß vor, da sieben Eizellen befruchtet worden sind.
Nach anderer Ansicht ist die Befruchtung von mehr als drei Eizellen gestattet. Unter anderem der Bundesfinanzhof hat sich mit dem „deutschen Mittelweg“ befasst und ihn für zulässig erachtet; dabei hat er insbesondere auf die Gesetzgebungsgeschichte abgestellt, wonach ausdrücklich nur die Zahl der zu übertragenden Embryonen beschränkt wurde, nicht die der zu befruchtenden Eizellen. Die Staatsanwaltschaft München hält den deutschen Mittelweg für zulässig, wenn „aufgrund einer sorgfältigen und individuellen Prognose eine konkret einzelfallbezogene Zahl von Eizellen befruchtet wird, mit dem Ziel nur einen bzw. zwei entwicklungsfähige Embryonen entstehen zu lassen, die dann übertragen werden sollen“ (Makowski, Münchener Anwaltshandbuch Medizinrecht 3. Aufl. 2020, § 19 Rn. 28). Für die Verwirklichung des Tatbestands des § 1 Abs. 1 Nr. 5 ESchG („sollen“) kommt es damit entscheidend darauf an, welchen Zweck der behandelnde Arzt mit der gewählten Vorgehensweise verfolgt (Günther/Taupitz/Kaiser, § 1 I Nr. 5 Rn. 20, 24). Beabsichtigt er das Entstehen von lediglich ein bis zwei entwicklungsfähigen Embryonen zum Zwecke der Übertragung, so widerspricht die Behandlung selbst dann nicht den Vorgaben des ESchG, wenn trotz sorgfältiger Prognose und individuell angepasster Vorgehensweise im Einzelfall unbeabsichtigt mehr entwicklungsfähige Embryonen entstehen sollten. Damit ist der so genannte deutsche Mittelweg mit den Regelungen des ESchG vereinbar, wenn anhand der individuell maßgeblichen Parameter (z. B. Alter, Gewicht, Vorerkrankungen) aufgrund einer sorgfältigen und individuellen Prognose so viele Eizellen befruchtet werden, dass voraussichtlich ein oder zwei entwicklungsfähige Embryonen entstehen, die dann übertragen werden sollen (BFH, Urteil vom 17.5.2017 – VI R 34/15 – Rn. 25, NJW 2017, 3022). Demnach ist es gestattet, so viele Eizellen zu befruchten, wie erfahrungsgemäß zur intrazyklischen Realisierung des Embryotransfers und einer daraus resultierenden Schwangerschaft erforderlich sind. Gestützt auf individuelle Parameter der jeweiligen Gametenspender (wie z. B. Alter, Geschlecht oder Vorerkrankungen) und hieraus abgeleitete individuelle Prognosen werden dabei so viele Eizellen – in der Praxis schwankt die Zahl zwischen vier bis sieben – mit dem Ziel befruchtet, ein oder zwei entwicklungsfähige Embryonen zu transferieren. Diese Praxis ist – unterstützt durch Teile des Schrifttums (Diedrich/Ludwig/ Griesinger/Möller S. 589 ff.) – von den Staatsanwaltschaften strafrechtlich nicht verfolgt (vgl. Staatsanwaltschaft München I Vfg. v. 24.7.2014 – 124 Js 202366/13, juris, Rn. 7) und von einigen Gerichten (AG Wolfratshausen ZfL 2008, 121 ff.; AG München BeckRS 2012, 14678) mittlerweile als gesetzeskonform gebilligt worden (Spickhoff/Müller-Terpitz, 3. Aufl. 2018, ESchG § 1 Rn. 17, 18).
Der deutsche Mittelweg hat demnach die Prämisse, dass mittels künstlicher Befruchtung nicht mehr Embryonen erzeugt werden, als in einem Zyklus transferiert werden sollen. Zu Unrecht geht die Klägerin davon aus, dass § 1 Abs. 1 Nr. 5 ESchG nicht verletzt sei, weil ausgehend von der ermittelten Entwicklungswahrscheinlichkeit sichergestellt worden sei, dass sich nicht mehr als drei Embryonen entwickeln. Anders als die Rechtsansicht des deutschen Mittelwegs missachtet die Auffassung der Klägerin die Zwecke des Embryonenschutzgesetzes, die Entstehung überzähliger Embryonen zu verhindern und so das ungeborene Leben zu schützen.
Zur Überzeugung des Gerichts ist nicht ersichtlich, dass der behandelnde Arzt die Anzahl der zu befruchtenden Eizellen unter Beachtung der Voraussetzungen des deutschen Mittelwegs bestimmt hat, indem „aufgrund einer sorgfältigen und individuellen Prognose eine konkret einzelfallbezogene Zahl von Eizellen befruchtet wird, mit dem Ziel nur einen bzw. zwei entwicklungsfähige Embryonen entstehen zu lassen, die dann übertragen werden sollen. Nach den Angaben des behandelnden Arztes S3 war zum Zeitpunkt der Befruchtung ein Transfer von zwei Embryonen vorgesehen. Die beabsichtigte Zahl der zu übertragenden Embryonen ist ein subjektives Tatbestandsmerkmal des § 1 Abs. 1 Nr. 5 ESchG. Ausgehend von der von S3 angegebenen Entwicklungswahrscheinlichkeit von 40 Prozent war somit auf der Grundlage des Mittelwegs eine Befruchtung von 6 Eizellen gestattet, bei 7 Eizellen bestand schon eine überwiegende, 80 prozentige Wahrscheinlichkeit, dass sich mindestens drei Embryonen entwickeln würden. Auch nach der Auslegung im Sinne des deutschen Mittelwegs liegt demnach ein Verstoß gegen § 1 Abs. 1 Nr. 5 ESchG vor. Auch die nach den Angaben S3 plötzliche Entscheidung der Klägerin, anstelle von zwei Embryonen nur einen zu transferieren, vermittelt den Eindruck, dass sieben Eizellen befruchtet wurden, um eine Auswahl des geeignetsten Embryos zu ermöglichen.
Entgegen des Vortrags der Klägerin ist zudem nicht erwiesen, dass von einer deutlich geringeren Entwicklungswahrscheinlichkeit als 40 Prozent auszugehen war. Eine Beweiserhebung ist diesbezüglich nicht erforderlich, da der behandelnde Arzt S3 hier eine überzeugende Einschätzung abgegeben hat. Dabei berücksichtigt das Gericht, dass die prognostizierte Entwicklungswahrscheinlichkeit sogar übertroffen worden ist, da sich drei statt vier Embryonen entwickelt haben. Ferner betrifft die Einschätzung von S3 im Juni 2020 den maßgeblichen Zeitpunkt für die Prognose, während die Diagnose einer ideopathischen Sterilität ungeklärter Ursache von S noch aus dem Jahr 2018 stammt; vor der künstlichen Befruchtung wurde vom Kinderwunschzentrum zudem eine weitere Hormontherapie durchgeführt. Hinzu kommt, dass maßgebliche Ursache für die durchgeführte intracytoplasmatische Spermieninjektion nicht die Sterilität der Klägerin, sondern ihres Ehemanns war, wie aus den Befunden von S vom 17.12.2018 und dem Behandlungsplan vom 27.04.2020 hervorgeht.
Das Gericht folgt nicht der Auffassung der Klägerin, dass kein Verstoß gegen § 1 Abs. 1 Nr. 5 ESchG Eizellen vorliege, wenn überzählige Embryonen kryokonserviert und in einem anderen Zyklus transferiert werden sollen. Nach Ansicht der Klägerin ziele das Embryonenschutzgesetz darauf ab, die Vernichtung von Embryonen zu verhindern, vorliegend seien die überzähligen Embryonen jedoch für einen späteren Transfer kryokonserviert worden. Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 1 Abs. 1 Nr. 5 SGB V ist die Übertragung „innerhalb eines Zyklus“ maßgeblich, so dass der Straftatbestand auch dann erfüllt ist, falls die Kryokonservierung und der spätere Transfer überzähliger Embryonen beabsichtigt ist. Schließlich war es Wille des Gesetzgebers, der Entstehung überzähliger Embryonen entgegenzuwirken und das grundgesetzlich geschützte Leben in vitro erzeugter Embryonen zu schützen (Graf/Jäger/Wittig/Graf/C. Graf, 2. Aufl. 2017, ESchG § 1 Rn. 33). Das einfachgesetzlich zum Ausdruck kommende Konnexitätsverhältnis zwischen der extrakorporalen Erzeugung menschlicher Embryonen und ihrem intrazyklischen Transfer ist Ausdruck eines verfassungsrechtlichen Gebots. Es folgt aus der staatlichen Verpflichtung, das grundrechtlich geschützte Leben in vitro erzeugter Embryonen vor Gefährdungen durch Private (Paar/Eizellspenderin, Reproduktionsmediziner) zu schützen, indem jenen die Bedingungen ihrer physischen Weiterexistenz in Utero garantiert werden, um so ihr „Recht auf Transfer“, welches aus der Lebensgarantie fließt, zu realisieren (Spickhoff/Müller-Terpitz, 3. Aufl. 2018, ESchG § 1 Rn. 17, 18).
Kostenerstattung ist gemäß § 13 Abs. 4 SGB V nur zu leisten, wenn ein primärer Leistungsanspruch nach deutschem Recht besteht, das europäische Recht schafft keine veränderten Leistungsansprüche, sondern ermöglicht lediglich die Inanspruchnahme von zugelassenen Leistungserbringern in anderen Mitgliedstaaten der EU, einem EWRVertragsstaat und der Schweiz. Die Regelung des § 1 Abs. 1 Nr. 5 ESchG ist auch nicht aufgrund vorrangigem europäischen Recht unanwendbar. Auch das sekundäre Gemeinschaftsrecht und die das primäre Gemeinschaftsrecht umsetzenden Regelungen des SGB V sehen für den Kläger keine weitergehenden Leistungsansprüche vor, die von der Erfüllung der Voraussetzungen des Embryonenschutzgesetzes und des § 27a SGB V entbinden. Wie das BSG herausgearbeitet hat, ist es allen Regelungen des sekundären Gemeinschaftsrechts und den das primäre Gemeinschaftsrecht umsetzenden Regelungen des SGB V gemein, dass sie die Übernahme von Kosten für Leistungen bei Krankheit, Mutterschaft und Vaterschaft Versicherter im Ausland innerhalb der EU und des Europäischen Wirtschaftsraums auf dasjenige begrenzen, was von den in Betracht kommenden inländischen Leistungsträger nach den für ihn geltenden Regelungen der Leistungen bei Krankheit, Mutterschaft und Vaterschaft verlangt werden könnte (vgl. BSG, Urteil vom 18.11.2014, Az. B 1 KR 19/13 R, Rdnr. 24 ff, juris). Auch Artikel 7 Abs. 1 Patientenrichtlinie begrenzt den sekundärrechtlich begründeten Leistungsanspruch für nach dem SGB V Versicherte auf die im Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung enthaltenen Leistungen. Außerdem beschränkt die Regelung des § 13 Abs. 4 SGB V die Ansprüche auf die Gegenstände des Leistungskataloges der Gesetzlichen Krankenversicherung. Dies ergibt sich aus der Formulierung „anstelle der Sach- oder Dienstleistung“ in § 13 Abs. 4 Satz 1 SGB V (SG Dresden Gerichtsbescheid v. 31.8.2016 – S 25 KR 236/14, BeckRS 2016, 118506 Rn. 15-19).
Im Falle der Kostenerstattung gemäß § 13 Abs. 4 SGB V trägt der Versicherte das Risiko, dass die Leistung nicht den Vorgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung entspricht. Demnach kann sich die Klägerin nicht darauf berufen, dass sie nicht gewusst habe, dass eine Kostenerstattung nur erfolgt, soweit die Behandlung den Vorgaben des § 1 Abs. 1 Nr. 5 ESchG entsprochen hat. Im Falle der Kostenerstattung gemäß § 13 Abs. 4 SGB V gilt ebenso wie bei der Kostenerstattung gemäß § 13 Abs. 2 SGB V, dass der sachliche Umfang der Leistungspflicht der Krankenkasse nicht verändert wird, sondern der Leistungskatalog des § 11 SGB V maßgeblich bleibt. Der Versicherte erhält Leistungen in demselben Umfang, als wenn er im Sachleistungssystem verblieben wäre. Dies impliziert zugleich, dass er nur Anspruch auf die Erstattung der Kosten für solche Leistungen hat, die dem Wirtschaftlichkeitsgebot entsprechen, die also ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sind (§ 2 Abs. 1 u. 4, § 12 Abs. 1 SGB V). Hier wird deutlich, welches Risiko die Versicherten mit der Wahl des Kostenerstattungsverfahrens eingehen und auf das sie zuvor von den Kassen hingewiesen werden müssen, denn die Kassen prüfen die genannten Anforderungen erst im Erstattungsverfahren, sodass der Versicherte – anders als im Sachleistungssystem – hier das Risiko trägt, Kosten nicht erstattet zu bekommen (vgl. zu § 13 Abs. 2 SGB V: BeckOK SozR/Joussen, 63. Ed. 1.12.2021, SGB V § 13 Rn. 10).
Da die Klägerin sich entschieden hat, die künstliche Befruchtung nicht als Sachleistung durch einen in Deutschland niedergelassenen Vertragsarzt in Anspruch zu nehmen, sondern einen in Österreich zugelassenen Leistungserbringer im Wege der Kostenerstattung in Anspruch zu nehmen, hat sie das hiermit verbundene Risiko zu tragen, dass die Behandlung nicht den Vorgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung entspricht. Der Anspruch auf Erstattung der vorgenommen einer Behandlung, die nicht dem Embryonenschutzgesetz entspricht, ist ausgeschlossen, auch wenn diese im europäischen Ausland stattgefunden hat. Dies gilt für alle weiteren Maßnahmen, die mit der Behandlung im Zusammenhang stehen, wie die Kosten für Blutuntersuchungen und Arzneimittel.
Ein Anspruch auf Erstattung folgt auch nicht aus den Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs. Unabhängig von dem Vorliegen der übrigen Voraussetzungen eines solchen Anspruchs ist ein Beratungsverschulden der Beklagten nicht erkennbar.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.


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