Medizinrecht

Keine Rechtfertigung der Untersagung von Öffnung und Betrieb von Prostitutionsstätten

Aktenzeichen  25 NE 21.1608

Datum:
22.6.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 18527
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 47 Abs. 6
IfSG § 28 Abs. 1 S. 1, § 28a Abs. 1 Nr. 6, § 32
13. BayIfSMV § 13 Abs. 4

 

Leitsatz

Die Betriebsuntersagung von Prostitutionsstätten steht unter dem besonderen gesetzlichen Vorbehalt ihrer fortdauernden Erforderlichkeit zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19; hierfür bestehen unter Berücksichtigung der Impfquote und der zeitabhängigen Reproduktionszahl keine hinreichenden Anhaltspunkte.   (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. § 13 Abs. 4 der Dreizehnten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (13. BayIfSMV vom 5. Juni 2021, BayMBl. 2021 Nr. 384) wird bis zur Entscheidung über die Hauptsache vorläufig außer Vollzug gesetzt, soweit darin die Öffnung und der Betrieb von Prostitutionsstätten untersagt wird.
Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
II. Die Kosten des Verfahrens tragen die Beteiligten jeweils zur Hälfte.
III. Der Wert des Verfahrensgegenstands wird auf 10.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1. Der Antragsteller betreibt eine aus vier Häusern bestehende Prostitutionsstätte mit insgesamt 24 der Prostitutionsausübung dienenden Zimmern im Sinn von § 2 Abs. 3 Nr. 1, Abs. 4 Prostituiertenschutzgesetz (ProstSchG) in Landshut. Mit seinem Eilantrag nach § 47 Abs. 6 VwGO wendet er sich gegen § 13 Abs. 4 der Dreizehnten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (13. BayIfSMV vom 5. Juni 2021, BayMBl. 2021 Nr. 384) in Bezug auf Bordellbetriebe und Prostitutionsstätten, soweit keine die Betriebsaufnahme bestimmenden Regelungen bei einer 7-Tage-Inzidenz zwischen 100 und 50 einerseits und unter 50 andererseits in den jeweiligen Landkreisen und kreisfreien Städten Anwendung finden.
2. Die angegriffene Regelung hat folgenden Wortlaut:
㤠13 Freizeiteinrichtungen

(4) Bordellbetriebe, Prostitutionsstätten, Clubs, Diskotheken, sonstige Vergnügungsstätten und vergleichbare Freizeiteinrichtungen sind geschlossen.“
3. Der Antragsteller trägt zur Begründung seines mit Schriftsatz vom 8. Juni 2021 gestellten und mit Schreiben vom 11.,16. und 18. Juni 2021 ergänzten Eilantrags im Wesentlichen vor, dass die angegriffene Regelung in die Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) eingreife und gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) verstoße. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb gerade die ausnahmslose Untersagung der Erbringung sexueller Leistungen in Prostitutionsstätten zur Erreichung des vom Verordnungsgeber verfolgten Zwecks unerlässlich sein solle, während die Prostitution in anderen Bereichen weiterhin gestattet sei. Die Prostitutionsstätte diene nicht der Zusammenkunft einer Vielzahl von Personen. Vielmehr beschränke sich der körpernahe Kontakt auf die beiden Beteiligten des Leistungsaustauschs. Bei einer entsprechenden Kontaktbeschränkung auf jeweils zwei Personen bestehe im Vergleich zu sonstigen körpernahen Dienstleistungen kein erhöhtes Infektionsrisiko. Dies habe das Robert-Koch-Institut (RKI) mit Schreiben vom 1. August 2020 bestätigt. Die angegriffene Regelung sei damit zur Eindämmung der Pandemiegefahr nicht erforderlich. Die Kontaktdatenerfassung könne sichergestellt werden. Prostitutionsstätten und Prostitutionsausübung sei in zahlreichen Bundesländern bei einer Inzidenz von unter 35 wieder zugelassen. Trotz Überbrückungsleistungen sei die wirtschaftliche Situation bei einem Einnahmenausfall von über 14 Monaten dramatisch.
4. Der Antragsgegner tritt dem Antrag mit Schriftsatz vom 15. Juni 2021 entgegen.
§ 13 Abs. 4 13. BayIfSMV müsse derzeit noch aufrechterhalten werden, weil dies zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) erforderlich sei. Die Risikoeinschätzung des Oberverwaltungsgerichts Bremen (B.v. 10.11.2020 – 1 B 354/20 – juris Rn. 42), wonach der Betrieb einer Prostitutionsstätte mit Blick auf die gewollten engen körperlichen Kontakte zwischen den Prostituierten und deren Kunden und den typischerweise häufig wechselnden Kontakten mit verschiedenen Personen ein erhebliches Infektionspotential berge, beanspruche nach wie vor Gültigkeit. Die Lage in Bordellen sei dabei entgegen der Ansicht des Antragstellers auch nicht mit der Lage in Fitnessstudios vergleichbar, da in letzteren durch Schutz- und Hygienekonzepte versucht werde, Abstände zwischen den Besuchern und den Mitarbeitern einzuhalten, wohingegen in Bordellen und Prostitutionsstätten das Betriebskonzept gerade nicht im Einhalten von Abständen, sondern in der körperlichen Annäherung bestehe. Zudem müssten die Wertungen des § 28a Abs. 6 Satz 2 und 3 IfSG berücksichtigt werden. Das allgemein-gesellschaftliche Interesse beispielsweise an der vom Antragsteller in den Blick genommenen Wiedereröffnung von Fitnessstudios dürfte generell größer sein als an der Wiedereröffnung von Bordellbetrieben und Prostitutionsstätten. Dies entspreche auch einer objektivierten Betrachtung der Interessenlage der Allgemeinheit. Denn Fitnessstudios dienten auch der Gesunderhaltung durch Sport, mithin also auch dem objektiven Interesse an einer Aufrechterhaltung der Gesundheit der Bevölkerung. Während für die Durchführung der sportlichen Aktivitäten in Fitnessstudios vielfach gerade die dort vorhandenen Einrichtungen und Geräte vonnöten seien, welche zu Hause nicht ohne weiteres oder nur unter sehr großem finanziellen und räumlichen Aufwand beschafft werden könnten, sei die Ausübung der Prostitution an sich als körpernahe Dienstleistung im Rahmen der 13. BayIfSMV erlaubt und könne somit nach Belieben in Anspruch genommen werden. Daher sei es nicht erforderlich, der Allgemeinheit das zusätzliche, aus der Eröffnung von Bordellbetrieben und Prostitutionsstätten folgende Infektionsrisiko durch Bündelung von Kontakten in diesen Begegnungsstätten aufzubürden. Da die Vermietung der Apartments nicht verboten sei, sei schon fraglich, ob der Schutzbereich des als verletzt gerügten Art. 12 Abs. 1 GG in Bezug auf den Antragsteller überhaupt berührt sei. Hiergegen spreche jedenfalls, dass das Verwendungsrisiko von Geschäftsausstattungen und Unternehmensgegenständen grundsätzlich dem Unternehmer zugewiesen sei, der im Erfolgsfalle dafür auch die Früchte ziehen dürfe. Bei der Frage nach den derzeitigen Nutzungsmöglichkeiten dieser Immobilie handele es sich daher bei Lichte betrachtet um eine Frage der unternehmerischen Disposition und Kreativität des Antragstellers. Der Eingriff sei jedenfalls gerechtfertigt. Auch im Übrigen liege kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vor. Dem Antragsgegner sei bewusst, dass Bordellbetriebe und Prostitutionsstätten damit zusammen mit Clubs und Diskotheken zu den letzten Einrichtungen gehörten, die auf Grund von Infektionsschutzmaßnahmen wegen des Coronavirus noch nicht wieder öffnen dürften. Allerdings seien dies gerade die Einrichtungen, welchen derzeit wegen den Eigenheiten ihrer Betriebsart noch das höchste epidemiologische Risiko innewohne. Kontaktintensive Bereiche des Wirtschaftslebens trügen das Risiko von Pandemien und deshalb erforderlichen Infektionsschutzmaßnahmen auf Grund der selbstgewählten Wirtschaftsform bereits in sich. Auch eine Folgenabwägung ginge zulasten des Antragstellers aus. An diesem Ergebnis ändere sich auch nichts durch den dem Antragsgegner selbstverständlich bekannten, vom Antragsteller mit Schreiben vom 11. Juni 2021 übersandten Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 8. Juni 2021 (Az. 13 MN 298/21), da mit dem dort angegriffenen § 10c der niedersächsischen Verordnung zur Eindämmung des Corona-Virus SARS-CoV-2 vom 30.05.2021 (Nds. GVBl. S. 297) gerade nicht nur wie in Bayern der Betrieb von Bordellen und Prostitutionsstätten, sondern die Erbringung von Prostitutionsleistungen selbst untersagt gewesen sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
II.
Der nur zum Teil zulässige Eilantrag ist, soweit er zulässig ist, begründet.
1. Der Antrag nach § 47 Abs. 6 VwGO ist unzulässig, soweit er die vorläufige Außervollzugsetzung des § 13 Abs. 4 13. BayIfSMV in Bezug auf Bordellbetriebe begehrt.
Dem Antragsteller fehlt es insoweit bereits an einer Antragsbefugnis nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO. Diese setzt voraus, dass der Antragsteller hinreichend substantiiert Tatsachen vorträgt, die es zumindest als möglich erscheinen lassen, dass er durch die angegriffene Rechtsvorschrift oder deren Anwendung in eigenen Rechten verletzt wird (BVerwG, B.v. 17.7.2019 – 3 BN 2.18 – NVwZ-RR 2019, 1027 – juris Rn. 11). Zu beachten ist, dass hinsichtlich der Geltendmachung der Rechtsverletzung zunächst allein der Antragsteller gefordert ist. Ihm obliegt es, die Rechtsverletzung selbst darzutun (vgl. VGH BW, U.v. 17.2.2014 – 5 S 3254/11 – juris; Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 47 Rn. 41). Ausgehend von diesem Maßstab ist eine Betroffenheit des Antragstellers hinsichtlich Bordellbetrieben nicht erkennbar, weil er weder vorträgt noch ersichtlich ist, dass er einen Bordellbetrieb unterhält (vgl. dazu BayVGH, B.v. 26.8.2020 – 20 CE 20.1806 – juris).
2. Der zulässige Antrag auf einstweilige Außervollzugsetzung des § 13 Abs. 4 13. BayIfSMV, soweit darin die Öffnung und der Betrieb von Prostitutionsstätten untersagt wird, ist begründet, da insoweit die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 47 Abs. 6 VwGO, wonach das Normenkontrollgericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen kann, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist, vorliegen.
2.1. Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache anhängigen oder noch zu erhebenden Normenkontrollantrags, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen (BVerwG, B.v. 25.2.2015 ‒ 4 VR 5.14 u.a. ‒ ZfBR 2015, 381 – juris Rn. 12; zustimmend OVG NW, B.v. 25.4.2019 – 4 B 480/19.NE – NVwZ-RR 2019, 993 – juris Rn. 9). Dabei erlangen die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags eine umso größere Bedeutung für die Entscheidung im Eilverfahren, je kürzer die Geltungsdauer der in der Hauptsache angegriffenen Normen befristet und je geringer damit die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Entscheidung über den Normenkontrollantrag noch vor dem Außerkrafttreten der Normen ergehen kann. Ergibt die Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag zulässig und (voraussichtlich) begründet sein wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist (BVerwG, B.v. 25.2.2015 ‒ 4 VR 5.14 u.a. ‒ ZfBR 2015, 381 – juris Rn. 12).
Lassen sich die Erfolgsaussichten nicht absehen, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die begehrte Außervollzugsetzung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber später Erfolg hätte, und die Folgen, die entstünden, wenn die begehrte Außervollzugsetzung erlassen würde, der Normenkontrollantrag aber später erfolglos bliebe. Die für eine einstweilige Außervollzugsetzung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, also so schwer wiegen, dass sie – trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache – dringend geboten ist (vgl. BVerwG, B.v. 25.2.2015 – 4 VR 5.14 u.a. – juris Rn. 12; Ziekow in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 47 Rn. 395; Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 47 Rn. 106).
2.2 Nach diesen Maßstäben ist die angegriffene Norm im tenorierten Umfang einstweilen außer Vollzug zu setzen. Der in der Hauptsache erhobene Normenkontrollantrag hätte voraussichtlich Erfolg. Soweit der Antragsteller § 13 Abs. 4 13. BayIfSMV in Bezug auf Prostitutionsstätten angreift, ist die Vorschrift bei summarischer Prüfung nicht mit höherrangigem Recht vereinbar. Die Norm steht nicht in Einklang mit der Ermächtigungsgrundlage aus § 32 Satz 1 i.V.m. § 28a Abs. 1 Nr. 6 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG (a), und der Erlass der einstweiligen Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO ist zur Abwehr schwerer Nachteile dringend geboten (b).
a) Die angegriffene Norm wird im Hinblick auf die Untersagung des Betriebs von Prostitutionsstätten den besonderen Voraussetzungen nach § 28a Abs. 3 Satz 11 IfSG nicht gerecht.
aa) Mit den Regelungen des § 28a Abs. 3 IfSG hat der Bundesgesetzgeber die verfassungsrechtlich determinierte Grundentscheidung getroffen, dass bei dem Erlass und der Aufhebung von Schutzmaßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie grundsätzlich ein differenziertes, gestuftes Vorgehen geboten ist, das sich an dem regionalen (oder regional übergreifenden) Infektionsgeschehen orientieren soll (vgl. BayVGH, B.v. 14.12.2020 – 20 NE 20.2907 – juris Rn. 39; VGH BW, B.v. 5.2.2021 – 1 S 321/21 – juris Rn. 39 ff.; NdsOVG, B.v. 18.1.2021 – 13 MN 11/21 – juris Rn. 32). Das wird durch die Gesetzesmaterialien bestätigt (vgl. BT-Drs. 19/23944 S. 35: „Zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit ist folglich ein gestuftes Vorgehen geboten, das sich an dem tatsächlichen regionalen Infektionsgeschehen orientiert.“) und kommt insbesondere in der Grundnorm des § 28a Abs. 3 Satz 2 IfSG zum Ausdruck. Daraus folgt auch, dass der Verordnungsgeber, wenn er eine Schutzmaßnahme dem Grunde nach für erforderlich hält, zu prüfen und darzulegen (§ 28 Abs. 5 Satz 1 IfSG) hat, ob diese gerade landesweit angeordnet werden muss oder ob insoweit differenziertere Regelungen in Betracht kommen (vgl. VGH BW, B.v. 11.5.2021 – 1 S 1048/21 – juris Rn. 35). Hat der Verordnungsgeber zu einem früheren Zeitpunkt bereits landesweite Regelungen getroffen, ist er zudem – wie stets – von Verfassungs wegen dazu verpflichtet, fortlaufend und differenziert zu prüfen, ob diese und die dadurch bewirkten konkreten Grundrechtseingriffe auch weiterhin gerechtfertigt oder aufzuheben sind (stRspr., vgl. nur BayVGH, B.v. 30.3.2020 – 20 NE 20.632 – juris Rn. 63).
Zum Maßstab des Infektionsgeschehens hat der Bundesgesetzgeber insbesondere die auf Landkreis-, Bezirks-, Landes- und Bundesebene zu ermittelnde und vom Robert Koch-Institut laufend unter „http://corona.rki.de“ veröffentlichte Sieben-Tages-Inzidenz von Neuinfektionen auf 100.000 Einwohnern bestimmt (vgl. § 28a Abs. 3 Sätze 4 und 13 IfSG). Damit verpflichtet der Bundesgesetzgeber die zur Entscheidung berufenen öffentlichen Stellen – vor allem die nach § 32 Satz 1 IfSG zum Erlass von Verordnungen ermächtigten Landesregierungen -, bei der Entscheidung über den Erlass oder die Aufrechterhaltung von Schutzmaßnahmen u.a. zu berücksichtigen, ob der Schwellenwert von über 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen regional (Satz 5), landesweit (Satz 10) oder gar bundesweit (Satz 9) überschritten ist. Für den Fall eines Absinkens der Inzidenz unter den Schwellenwert regelt § 28a Abs. 3 Satz 11 IfSG weitgehend deklaratorisch, dass die erlassenen Schutzmaßnahmen (nur) aufrechterhalten werden können, „soweit und solange dies zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) erforderlich ist“, wobei auch die Zahl der geimpften Personen und die zeitabhängige Reproduktionszahl zu berücksichtigen sind (§ 28a Abs. 3 Satz 12 IfSG). Damit stellt der Bundesgesetzgeber klar, dass es bei Unterschreitung der gesetzlichen Schwellenwerte zwingend weiterer infektionsschutzrechtlicher – wenn auch nicht inzidenzbezogener – Rechtfertigungsgründe bedarf, um einmal erlassene Schutzmaßnahmen aufrecht zu erhalten.
bb) Gemessen daran sind keine Gesichtspunkte erkennbar oder vom Antragsgegner vorgetragen worden, die angesichts der aktuellen landesweiten Sieben-Tage-Inzidenz von 10,3 (Stand: 21.6.2021; https://experience.arcgis.com/experience/478220a4c454480e823b17327b2bf1d4/page/page_0/) eine landesweit geltende vollständige Betriebs- und Nutzungsuntersagung von Prostitutionsstätten rechtfertigen könnten.
Mit Inkrafttreten der Achten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (8. BayIfSMV) am 2. November 2020 wurden Prostitutionsstätten in § 11 Abs. 6 8. BayIfSMV neu eingefügt und damit deren Betrieb untersagt. Zu diesem Zeitpunkt betrug die bayernweite Sieben-Tage-Inzidenz 130,1. Eine zunehmende Beschleunigung der Übertragungen von SARS-CoV-2-Infektionen in der Bevölkerung in Deutschland war damals zu beobachten. Es wurden vermehrt COVID-19-bedingte Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen gemeldet und in zahlreichen Landkreisen kam es zu einer zunehmend diffusen Ausbreitung von SARS-CoV-2-Infektionen in die Bevölkerung, ohne dass Infektionsketten eindeutig nachvollziehbar waren. Die Erkrankungen unter älteren Menschen nahmen damals wieder zu. Da diese häufiger einen schweren Verlauf durch COVID-19 aufwiesen, stieg ebenso die Anzahl an schweren Fällen und Todesfällen (vgl. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Corona-virus/Situationsberichte/Nov_2020/2020-11-02-de.pdf? blob=publicationFile).
Aktuell ist ein kontinuierlicher Rückgang der 7-Tage-Inzidenz zu beobachten. Der 7-Tage-R-Wert liegt unter 1. In den letzten Wochen sank die 7-Tage-Inzidenz in allen Altersgruppen (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situ-ationsberichte/Jun_2021/2021-06-16-de.pdf? blob=publicationFile). Die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der 8. BayIfSMV am 2. November 2020 vorliegende Infektionslage ist mit der heutigen mithin aufgrund der kontinuierlich sinkenden Zahl an Neuinfektionen, dem Fortschreiten des Impfprogramms und der flächendeckenden Verfügbarkeit von PCR-, POC-Antigentests und Selbsttests nicht vergleichbar. Mithin kann sich der Antragsgegner auch nicht mit Erfolg auf die im November 2020 erfolgte Risikoeinschätzung des Oberverwaltungsgerichts Bremen (B.v. 10.11.2020 – 1 B 354/20 – juris Rn. 42) berufen.
Seit Unterschreitung der landesweiten 7-Tage-Inzidenz von 50 am 26. Mai 2021 steht die angegriffene Norm im Hinblick auf die Betriebsuntersagung von Prostitutionsstätten unter dem besonderen gesetzlichen Vorbehalt ihrer fortdauernden Erforderlichkeit zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 (§ 28a Abs. 3 Satz 11 IfSG). Für eine solche – vom Normgeber nachzuweisende – Erforderlichkeit unter Berücksichtigung der Impfquote und der zeitabhängigen Reproduktionszahl (§ 28a Abs. 3 Satz 12 IfSG) fehlt es jedoch an hinreichenden Anhaltspunkten. Solche enthält auch nicht die Begründung der 13. BayIfSMV (BayMBl. 2021 Nr. 385 S. 5), der nach § 28 a Abs. 5 IfSG besondere Bedeutung zukommt.
Auch wenn § 28a Abs. 3 Sätze 11 und 12 IfSG dem handelnden Hoheitsträger nicht verwehren, einmal erlassene Schutzmaßnahmen trotz Unterschreitung der sie begründenden gesetzlichen Schwellenwerte vorerst weiter aufrecht zu erhalten, bedarf es in einem solchen Fall einer spezifischen Erforderlichkeitsprüfung der einzelnen Maßnahmen, die durch die pauschalen Gesichtspunkte des „Herantastens“ und der „Vorsicht“ – die sich zudem bereits in den vom Bundesgesetzgeber normierten Schwellenwerten niederschlagen – nicht ersetzt werden kann (vgl. BayVGH, B.v. 2.6.2021 – 20 NE 21.1383 – juris Rn. 16).
Aus welchen Gründen konkret die Untersagung des Betriebs von Prostitutionsstätten trotz Unterschreitung der landesweiten Inzidenz von 50 weiterhin erforderlich sein sollte, um die Verbreitung von COVID-19 zu verhindern, ist in Anbetracht der generellen Zulässigkeit der Prostitution im Übrigen nicht ersichtlich.
Weder die vom Antragsgegner vorgetragenen Aspekte eines geringeren „allgemein-gesellschaftlichen Interesses“ an der Öffnung von Prostitutionsstätten unter Berücksichtigung der Wertungen des § 28a Abs. 6 Satz 2 und 3 IfSG noch die von ihm herausgehobene fehlende Vergleichbarkeit mit Fitnessstudios sind geeignet, eine spezifische infektionsschutzrechtliche Gefährdungslage beim Betrieb von Prostitutionsstätten zu begründen und deren Untersagung zu rechtfertigen. Angesichts der mittlerweile nach § 14 Abs. 2 13. BayIfSMV (wieder) grundsätzlich zugelassenen Prostitution bleibt vielmehr offen, worin die spezifischen, über das allgemeine Risiko hinausgehenden Gefahren einer COVID-19-Infektion beim Betrieb und der Nutzung von gemäß § 2 Abs. 3 Nr. 1, Abs. 4 ProstSchG der staatlichen Kontrolle unterworfenen Prostitutionsstätten liegen sollten. Wie der Antragsteller unwidersprochen vorgetragen hat, ist in Prostitutionsstätten der Kontakt zwischen Kunden und Prostituierten bei der eigentlichen Erbringung der sexuellen Leistung regelmäßig auf die gleichzeitige Anwesenheit von zwei Personen beschränkt. Zudem dient die Prostitutionsstätte nicht der Zusammenkunft einer Vielzahl von Personen. Ein solches Zusammentreffen lässt der exemplarische Betrieb des Antragstellers – soweit erkennbar – nicht zu. Nach der insoweit maßgeblichen Erlaubnis der Stadt Landshut nach § 12 ProstSchG vom 18. Mai 2021, dem Betriebskonzept des Antragstellers und den Plänen des genutzten Gebäudes verfügt der Betrieb schon nicht über Räumlichkeiten, die zum gleichzeitigen Aufenthalt von mehr als zwei Personen vorgesehen sind. Insbesondere erstreckt sich die Betriebserlaubnis nicht auf Räume, die der Anbahnung sexueller Dienstleistungen dienen und in denen sich daher mehrere Personen zugleich aufhalten würden.
Hygienemaßnahmen können in Prostitutionsstätten adäquat umgesetzt werden und sind im Gegensatz zu Örtlichkeiten außerhalb Prostitutionsstätten grundsätzlich besser kontrollierbar. Der besondere Schutzcharakter des Prostitutionsgesetzes (vgl. die § 18 ProstSchG geregelten in Mindestanforderungen an Prostitutionsstätten) wird durch die Gefahr einer räumlichen Verlagerung der prostitutiven Leistungen konterkariert. Zudem wurde weder von Seiten des Antragsgegners vorgetragen noch sind Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass es typischerweise in Prostitutionsstätten zu häufiger wechselnden Kontakten in kürzerer Zeit kommen würde als außerhalb von Prostitutionsstätten. Soweit der Antragsgegner auf die Lage in „Bordellen“ abstellt, ist dies für die hier im Streit stehenden Prostitutionsstätten ohne Belang. Daneben hat der Antragsgegner durch den ausdrücklichen Vortrag, die Ausübung der Prostitution sei an sich als körpernahe Dienstleistung im Rahmen der 13. BayIfSMV erlaubt und könne somit nach Belieben in Anspruch genommen werden, zu erkennen gegeben, dass die Dienstleistung als solche – auch wenn sie auf körperliche Annäherung abzielt – bei Beachtung der Vorgaben des § 14 Abs. 2 13. BayIfSMV und geeigneter Hygienekonzepte keinen besonderen infektionsschutzrechtlichen Bedenken begegnet.
§ 28a Abs. 6 IfSG führt zu keiner anderen Beurteilung. Insbesondere regelt Absatz 6 Satz 3 den umgekehrten Fall, dass einzelne soziale, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Bereiche, die für die Allgemeinheit von besonderer Bedeutung sind, von Schutzmaßnahmen ausgenommen werden können, soweit ihre Einbeziehung zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) nicht zwingend erforderlich ist. Eine Rechtfertigung im Sinne des § 28a Abs. 3 Sätze 11 und 12 IfSG für die vollständige landesweite Betriebsuntersagung von Prostitutionsstätten, die nach Inkrafttreten der 13. BayIfSMV damit – wie der Antragsgegner selbst einräumt – zu den letzten Einrichtungen gehören, die auf Grund von Infektionsschutzmaßnahmen wegen des Coronavirus noch nicht wieder öffnen dürfen, kann der Regelung hingegen nicht entnommen werden. Zwar eröffnet die prognostische Abwägungsentscheidung nach § 28a Abs. 6 IfSG dem Verordnungsgeber einen Beurteilungsspielraum, der gerichtlich nur begrenzt überprüfbar ist (BayVGH, B.v. 8.12.2020 – 20 NE 20.2461 – juris); der gerichtlichen Kontrolle unterliegt allerdings die Frage, ob der Verordnungsgeber von sachlichen und nicht offensichtlich unzutreffenden Erwägungen ausgegangen ist.
b) Der Erlass der einstweiligen Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO ist zur Abwehr schwerer Nachteile dringend geboten, weil die Unvereinbarkeit der Norm mit höherrangigem Recht bereits nach Prüfung im Eilverfahren anzunehmen ist und das Verbot daher außer Vollzug zu setzen ist. Bereits die offensichtliche Rechtswidrigkeit indiziert den schweren Nachteil, weil in der Regel kein Interesse am Vollzug einer rechtswidrigen Norm besteht (vgl. Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 47 Rn. 107). Unabhängig davon ist der mit der angegriffenen Norm verbundene Eingriff in die Rechte der Normadressaten auch nicht nur geringfügig. Der Eingriff in die Berufsfreiheit des Antragstellers wiegt vielmehr außerordentlich schwer, da es sich um ein Totalverbot handelt, das in aller Regel keine Ausnahmen zulässt (vgl. VGH BW, B.v. 16.6.2021 – 1 S 1868/21). Da es sich beim Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO um ein objektives Rechtsbeanstandungsverfahren handelt, ist für die Frage, ob eine vorläufige Außervollzugsetzung zur Abwehr eines schweren Nachteils geboten ist, grundsätzlich auf den von der Norm unmittelbar betroffenen Personenkreis und nicht nur auf die Person des Antragstellers abzustellen (Schoch in Schoch/Schneider, VwGO, Stand Juli 2020, § 47 Rn. 168). Die hier angegriffene Norm unterwirft sämtliche Betreiber von Prostitutionsstätten einem vollständigen Betriebsverbot und greift damit intensiv in deren Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG ein. Anderweitigen Nutzungsmöglichkeiten der Prostitutionsstätte dürften erhebliche (bauordnungs) rechtliche und tatsächliche Beschränkungen entgegenstehen und sind damit nicht – wie der Antragsgegner meint – der alleinigen unternehmerischen Disposition und Kreativität unterworfen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Gegenstandswertes ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG. Da die von dem Antragsteller angegriffene Verordnung bereits mit Ablauf des 4. Juli 2021 außer Kraft tritt (§ 29 13. BayIfSMV), zielt der Eilantrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, weshalb eine Reduzierung des Gegenstandswertes für das Eilverfahren auf der Grundlage von Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 hier nicht angebracht erscheint.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen


Nach oben