Medizinrecht

Kostenerstattung für Gebärdensprachkurs

Aktenzeichen  S 8 KR 601/17

Datum:
13.3.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 9074
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB IX § 14 Abs. 1 S. 2, § 16 Abs. 1
SGB V § 11 Abs. 1 Nr. 4

 

Leitsatz

Überschneidet sich der Leistungszweck der medizinischen Rehabilitation mit dem der sozialen Rehabilitation, ist ausschlaggebend, wo der Schwerpunkt der Zielsetzung der in Frage stehenden Leistung liegt. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

Die zum sachlich (§ 51 Sozialgerichtsgesetz – SGG -) und örtlich (§ 57 SGG) zuständigen Sozialgericht Regensburg erhobene Klage ist als echte Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG zulässig, aber unbegründet. Der Kläger hat gegenüber der Beklagten keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten eines Gebärdensprachkurses für den Beigeladenen.
Rechtsgrundlage des Erstattungsbegehrens des Klägers gegen die Beklagte ist § 16 Abs. 1 SGB IX i. V. m. § 14 Abs. 2 Satz 4 SGB IX. Danach erstattet der zuständige Rehabilitationsträger die Aufwendungen des leistenden Rehabilitationsträgers nach den für den leistenden Rehabilitationsträger geltenden Rechtsvorschriften, wenn ein leistender Rehabilitationsträger nach § 14 Absatz 2 Satz 4 Leistungen erbracht hat, für die ein anderer Rehabilitationsträger insgesamt zuständig ist. Die Beklagte hatte als erstangegangener Rehabilitationsträger den Antrag des Beigeladenen innerhalb der Frist von zwei Wochen an den Kläger weitergeleitet. Voraussetzung für den Erstattungsanspruch ist, dass die Beklagte materiell für die Leistung des Gebärdensprachkurses gegenüber dem Beigeladenen verpflichtet ist.
Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung sind zunächst gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 4 SGB V solche zur Behandlung einer Krankheit (§§ 27 bis 52 SGB V). So hatte das SG Koblenz in seinem Urteil vom 23.03.2016 (Az. S 14 KR 760/14, Rn. 16) angenommen, dass das Erlernen der Gebärdensprache um eine Form der Krankenbehandlung handelt. Zwar umfasst die Krankenbehandlung auch die Linderung von Krankheitsbeschwerden, § 27 Abs. 1 Satz 1 a. E. SGB V. Nach der Rechtsprechung und der überwiegenden Auffassung im Schrifttum muss die Krankheit, um Leistungspflichten der GKV auszulösen, mit Mitteln der Krankenbehandlung beeinflusst werden können (Becker/Kingreen, aaO, § 27, Rn. 26). Weder die Neurofibromatose, noch der Verlust der Hörfähigkeit werden vorliegend durch das Erlernen der Gebärdensprache therapeutisch beeinflusst. Krankenbehandlung im originären Sinne ist daher zu verneinen.
Der Zielsetzung eines Gebärdensprachkurses entsprechend ist vielmehr eine Zuständigkeit der Beklagte gemäß § 11 Abs. 2 SGB V zu diskutieren. Danach haben Versicherte auch Anspruch auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, die notwendig sind, um eine Behinderung zu mindern, auszugleichen oder ihre Folgen zu mildern. Leistungen zur medizinischen Rehabilitation werden unter Beachtung des Neunten Buches (SGB IX – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen) erbracht, soweit im SGB V nichts anderes bestimmt ist, § 11 Abs. 2 Satz 2 SGB V. So sind die gesetzlichen Krankenkassen gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX i. V. m. § 5 Nr. 1 SGB IX Träger der Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft für Leistungen der medizinischen Rehabilitation. Dabei handelt es sich nicht nur um Leistungen nach §§ 40 bis 43 SGB V, sondern um alle Leistungen gemäß § 42 Abs. 2 und Abs. 3 SGB IX (§ 26 Abs. 2 und Abs. 3 SGB IX a. F.), die mit der Zielsetzung des § 42 Abs. 1 SGB IX und § 11 Abs. 2 SGB V erbracht werden (Becker/Kingreen, SGB V, 3. Auflage, § 2a, Rn. 9). Grundsätzlich sind die Leistungen der Sozialhilfe, hier konkret der Eingliederungshilfe in Form von Sozialer Teilhabe, nachrangig gegenüber Leistungen von Trägern anderer Sozialleistungen, § 2 Abs. 1 SGB XII. Die Krankenkassen sind vorrangig zuständig vor den Trägern der Sozialhilfe, § 40 Abs. 4 SGB V (Becker/Kingreen, aaO, § 40, Rn. 22). Leistungen der medizinischen Rehabilitation haben Vorrang vor Leistungen zur Sozialen Teilhabe, § 5 Nr. 5, § 76 Abs. 1 Satz 1 a. E. SGB IX. Leistungen zur Sozialen Teilhabe werden erbracht, um eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern. Gemäß § 76 Abs. 2 Nr. 6 SGB IX sind Leistungen zur Sozialen Teilhabe insbesondere Leistungen zur Förderung der Verständigung. Für den Leistungsgegenstand „Gebärdensprachkurs“ kommt sowohl eine Rechtsgrundlage nach dem SGB V (§ 11 Abs. 2 i. V. m. §§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, 32 Abs. 2 Satz 1, 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V, § 33 Abs. 2 Spiegelstrich 4 Heilmittelrichtlinie – Schaffung nonverbaler Kommunikationsmöglichkeiten), als auch eine Rechtsgrundlage aus der Eingliederungshilfe (§§ 53, 54 Abs. 1 SGB XII i. V. m. § 55 Abs. 2 Nr. 4 SGB IX,§ 16 Nr. 2 EinglHV – Kurse zugunsten Gehörloser zur Verständigung mit anderen Personen).
Die Abgrenzung von medizinischer Rehabilitation und Sozialer Teilhabe betrifft der vorliegende Streit. Die Beteiligten sind sich uneinig, ob es sich beim Erlernen der Gebärdensprache für den Beigeladenen um eine Leistung der medizinischen Rehabilitation oder um einer Leistung zur Sozialen (bzw. womöglich auch beruflichen) Teilhabe handelt. Das Argument des Klägers, Gebärdensprache sei der (explizite) Anwendungsfall der Schaffung nonverbaler Kommunikationsmöglichkeiten, hat das Gericht nicht überzeugt. So hat das BSG hat mit Urteil vom 29.09.2009 (Az. B 8 So 19/08, Rn. 21) entschieden, dass die Abgrenzung der Leistungen von medizinischer Rehabilitation und Sozialer Teilhabe nicht nach den in Betracht kommenden Leistungsgegenständen erfolgt. Im Übrigen kann auch die Gebärdenunterstützte Kommunikation (GuK) zur Sprachanbahnung bei Kindern oder Schlaganfallpatienten ein Anwendungsfall der Schaffung nonverbaler Kommunikationsmöglichkeiten sein. Entscheidend zur Abgrenzung ist laut BSG vielmehr der Leistungszweck. Überschneidet sich der Leistungszweck der medizinischen Rehabilitation mit dem der sozialen Rehabilitation, ist ausschlaggebend, wo der Schwerpunkt der Zielsetzung der in Frage stehenden Leistung liegt (Nellissen in: JurisPK, § 42 SGB IX, Rn. 30). Nicht entscheidend für die Abgrenzung ist, welche positiven Auswirkungen eine Maßnahme generell haben kann oder hat. Maßgebend ist, welchen Zwecken und Zielen die Maßnahme dienen soll. Das bedeutet, dass die Abgrenzung letztlich immer nur am konkreten Einzelfall erfolgen kann. Abgrenzungskriterien sind nur bedingt einsetzbar.
Zur Überzeugung des Gerichts hat das Erlernen der Gebärdensprache für den Beigeladenen vorrangig das Ziel der sozialen und beruflichen Rehabilitation. So gab er in seinem Antrag an, dass er keine sozialen Kontakte außerhalb der Familie habe. Um sich ein soziales Umfeld mit anderen Hörgeschädigten aufzubauen, wolle er die Gebärdensprache erlernen. Insbesondere strebe er die Teilnahme an einem Gebärdenstammtisch und Jugendtreff für Hörgeschädigte an. Darüber hinaus beabsichtige er eine Umschulung zum Technischen Produktdesigner. Diese sollte an einem Berufsbildungswerk für Hörgeschädigte mit der Unterstützung von Gebärdendolmetschern stattfinden. Sicherlich kann der Beigeladene durch das Erlernen der Gebärdensprache seine Hörbehinderung teilweise ausgleichen. Jedoch handelt es sich nicht um einen unmittelbaren Behinderungsausgleich, denn die Sprachfähigkeit wird als Grundbedürfnis nicht generell und nicht in ihrer ursprünglichen Weise wiederhergestellt. Vielmehr gestattet die Gebärdensprache lediglich die Kommunikation mit einem (kleinen) Teil von Menschen, die sie beherrschen. Das Gericht hat nicht verkannt, dass durch die Einschränkung der Kommunikationsmöglichkeiten auch die psychische Gesundheit des Beigeladenen betroffen ist. So bezieht der Versicherte sich in seinem Antrag auch auf seine psycho-soziale Gesundheit. Aus dem ärztlichen Entlassbericht über die Rehabilitation in Bad G. geht aber hervor, dass sich bei dem Beigeladenen bisher aufgrund des guten familiären Umfelds keine psychische Komorbidität manifestiert hat. Für das Gericht ist Schwerpunkt der Maßnahme daher die Soziale Teilhabe, nicht die medizinische Rehabilitation in Form der Wiederherstellung der Sprachfähigkeit.
Eine Berufung ist gesetzlich nicht ausgeschlossen. Zwar liegt der Wert des Beschwerdegegenstandes bei dem hier vorliegenden Erstattungsstreit gemäß § 16 Abs. 1 SGB IX i. V. m. § 14 Abs. 2 Satz 4 SGB IX zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts bei 10.000 Euro, § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG. Bisher sind erst Kosten in Höhe von 2.031,20 Euro entstanden. Es ist aber offen, welche weiteren Kosten noch angefallen sind bzw. bis zu einer erneuten Entscheidung des Klägers für die Zukunft anfallen werden.


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