Medizinrecht

Kostenübernahme für eine bariatrische Operation als Sachleistungsanspruch

Aktenzeichen  S 7 KR 111/16

Datum:
18.1.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 8895
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 12, § 27, § 29

 

Leitsatz

1 Voraussetzungen für eine bariatrische Operation sind nach den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Viszeral-Chirurgie – Chirurgische Arbeitsgemeinschaft für Adipositastherapie insbesondere: Ein BMI über 40 bzw. ein BMI über 35 mit erheblichen Begleiterkrankungen, die Erschöpfung konservativer Behandlungsmöglichkeiten, ein tolerables Operationsrisiko, keine manifeste psychiatrische Erkrankung sowie die Möglichkeit einer lebenslangen medizinischen Nachsorge.  (redaktioneller Leitsatz)
2 Die konservativen Behandlungsmöglichkeiten sind dann erschöpft, wenn durch eine multimodale konservative Therapie innerhalb von mindestens 6 Monaten das Therapieziel nicht erreicht und gehalten wurde. Die Möglichkeiten zur Ernährungstherapie sind dann ausgeschöpft, wenn mittels einer energiereduzierten Mischkost und weiteren ernährungsmedizinischen Maßnahmen das Therapieziel nicht erreicht wurde. Zusätzlich ist nachzuweisen, dass ausreichend Bewegung vorhanden war und keine manifeste psychische Erkrankung vorliegt.  (redaktioneller Leitsatz)
3 Lassen Art und Schwere der Krankheit bzw. psychosoziale Gegebenheiten annehmen, dass eine chirurgische Therapie nicht aufgeschoben werden kann oder die konservative Therapie ohne Aussicht auf Erfolg ist, kann in Ausnahmefällen auch eine chirurgische Therapie als primäre Operationsindikation durchgeführt werden. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 10.08.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.01.2016 wird aufgehoben und die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger eine minimalinvasive adipositaschirurgische Maßnahme als Sachleistung zu gewähren.
II. Die Beklagte hat dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

Die zulässige Klage hat Erfolg.
Der Anspruch des Klägers auf Gewährung der beantragten Maßnahme ergibt sich als Sachleistungsanspruch aus §§ 27, 29, 12 SGB V.
Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn diese notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst neben der ärztlichen Behandlung auch eine Krankenhausbehandlung (§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 5 SGB V). Im Hinblick auf den Antrag des Klägers vom 29.07.2015 liegen die Voraussetzungen für einen solchen Sachleistungsanspruch vor.
Bei dem Stadtkrankenhaus G-Stadt handelt es sich um ein zugelassenes Krankenhaus, und die begehrte Maßnahme muss stationär durchgeführt werden. Beim Kläger liegt auch eine Krankheit vor. Krankheit ist dabei ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand, der die Notwendigkeit ärztlicher Heilbehandlung oder zugleich bzw. allein Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat. Als regelwidrig wird ein Zustand angesehen, der von der Norm, also vom Leitbild des gesunden Menschen abweicht. Die beim Kläger vorliegende Adipositas permagna mit einem BMI von über 40 stellt eine Krankheit in diesem Sinne dar (vgl. zu den Voraussetzungen BSG, Urteil vom 19.02.2003 – B 1 KR 1/02 R = BSGE 90, 289).
Grundsätzlich können auch die Kosten für Maßnahmen einer Gewichtsreduktion in den Leistungsbereich der gesetzlichen Krankenversicherung fallen. Da das Behandlungsziel einer Gewichtsreduktion auf verschiedenen Wegen erreicht werden kann, ist allerdings zu prüfen, ob eine vollstationäre chirurgische Behandlung unter Berücksichtigung aller Behandlungsalternativen (wie z. B. diätische Therapie, Bewegungstherapie, medikamentöse Therapie und Psychotherapie) notwendig und wirtschaftlich ist. Dabei ist zu beachten, dass es sich bei der bariatrischen Operation um eine mittelbare Krankenbehandlung handelt, da an einem funktionell intakten Organ die Behandlung einer anderweitigen krankhaften Funktionsstörung erfolgt. Nach den hier vorliegenden Unterlagen geht die Kammer davon aus, dass Ursache für das Übergewicht des Klägers letztlich sein krankhaftes Essverhalten ist. Der chirurgische Eingriff an seinem funktionell intakten Magen soll die Nahrungsaufnahme begrenzen. Dies bedarf einer speziellen Rechtfertigung, denn eine mittelbare Krankenbehandlung ist nur dann ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich im Sinne der §§ 2 Abs. 1 Satz 3, 12 Abs. 1 SGB V, wenn sie nach Art und Schwere der Erkrankung, Dringlichkeit der Intervention sowie nach Abwägung der Risiken und des zu erwartenden Nutzens der Therapie sowie etwaiger Folgekosten für die Krankenversicherung gerechtfertigt ist (vgl. BSG a.a.O., ebenso LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 13.10.2011 – L 5 KR 12/11, abgedruckt in juris). Die Maßnahme muss ultima ratio sein.
Nach den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Viszeral-Chirurgie – Chirurgische Arbeitsgemeinschaft für Adipositastherapie ist eine Operation am Magen zur Behandlung einer Adipositas grundsätzlich nur indiziert, wenn alle konservativen Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind und eine Reihe von Bedingungen für eine erfolgreiche Behandlung erfüllt werden. Diese Leitlinien stellen eine für die Beurteilung des Gerichts sachgerechte Entscheidungshilfe dar. Voraussetzungen sind nach diesen Leitlinien insbesondere: Ein BMI über 40 bzw. ein BMI über 35 mit erheblichen Begleiterkrankungen, die Erschöpfung konservativer Behandlungsmöglichkeiten, ein tolerables Operationsrisiko, keine manifeste psychiatrische Erkrankung sowie die Möglichkeit einer lebenslangen medizinischen Nachsorge. Die konservativen Behandlungsmöglichkeiten sind dann erschöpft, wenn durch eine multimodale konservative Therapie innerhalb von mindestens 6 Monaten das Therapieziel nicht erreicht und gehalten wurde. Die Möglichkeiten zur Ernährungstherapie sind dann ausgeschöpft, wenn mittels einer energiereduzierten Mischkost und weiteren ernährungsmedizinischen Maßnahmen das Therapieziel nicht erreicht wurde. Zusätzlich ist nachzuweisen, dass ausreichend Bewegung vorhanden war und keine manifeste psychische Erkrankung vorliegt. Lassen Art und Schwere der Krankheit bzw. psychosoziale Gegebenheiten annehmen, dass eine chirurgische Therapie nicht aufgeschoben werden kann oder die konservative Therapie ohne Aussicht auf Erfolg ist, kann in Ausnahmefällen auch eine chirurgische Therapie als primäre Operationsindikation durchgeführt werden.
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze stellt die vorliegend begehrte bariatrische Operation ultima ratio zur Behandlung der beim Kläger vorliegenden Adipositas dar. Konservative Behandlungsmöglichkeiten, die eine relevante und vor allen Dingen dauerhafte Gewichtsreduzierung ermöglichen, sind nach Auffassung des Gerichts unter Berücksichtigung der vorliegenden medizinischen Behandlungsunterlagen nicht mehr gegeben. Beim Kläger besteht seit langer Zeit ein erhebliches Übergewicht. Er hat glaubhaft eine Vielzahl ernsthafter Abnehmversuche unternommen, die zu keiner erheblichen Reduzierung des Gewichts geführt haben. Insbesondere hat die über vier Monate durchgeführte multimodale Therapie nur zu einer Gewichtsreduktion von 2kg geführt. Der Kläger hat einen BMI von über 50 erreicht. Es liegen mittlerweile zahlreiche Begleiterkrankungen vor.
Hinsichtlich der Ultimaratio-Situation folgt die Kammer der gutachterlichen Beurteilung von Dr. E. und macht sich dessen nachvollziehbare Feststellungen zu eigen. Dieser führt aus, der Kläger habe bereits eine konservative Therapie erfolglos durchgeführt. Gemäß der Leitlinie, die eine 6-monatige Therapie fordere, sei diese mit 5 Terminen in 4 Monaten nicht ganz vollständig gewesen, jedoch in der multimodalen Form und der dokumentierten Qualität korrekt. Angesichts des mit lediglich 2kg Gewichtsreduktion ausbleibenden Erfolgs sei diese Therapie in jedem Fall ausreichend gewesen, um zu belegen, dass sich hierdurch keine ausgeprägte und nachhaltige Gewichtsreduktion mehr erreichen lasse. Selbst wenn in den fehlenden 2 Monaten noch einmal das Doppelte an Gewichtsreduktion erreicht worden wäre, wäre auch dies nach der Leitlinie kein ausreichender Erfolg gewesen.
Diese Schlussfolgerungen sind für die Kammer nachvollziehbar. Eine Veränderung des Gewichts von 2kg liegt schon bei einem Normalgewichtigen im Rahmen des üblichen Schwankungsbereichs, bei einem Ausgangsgewicht von nahezu 200kg noch viel mehr. Es ist daher davon auszugehen, dass die viermonatige Durchführung des multimodalen Therapiekonzepts überhaupt keinen Therapieerfolg gebracht hatte. Die Forderung des gerichtlich bestellten Sachverständigen Dr. D. nach einem erneuten Therapieversuch wäre nach Ansicht der Kammer tatsächlich eine bloße Förmelei und würde im schlimmsten Fall dazu führen, dass in dieser Zeit eine weitere Gewichtszunahme und/oder eine Verschlechterung der Begleiterkrankungen erfolgen würde.
Der Kläger hat glaubhaft nachgewiesen, dass er jedenfalls 4 Monate an einer ambulanten Ernährungstherapie teilgenommen hat. Auch eine Bereitschaft zur Mitarbeit und eine hohe Motivation wurden von ihm glaubhaft gemacht. Aus den Unterlagen ergibt sich, dass beim Kläger keine psychiatrische Erkrankung vorliegt, die einer Operation entgegensteht.
Die Kammer ist der Überzeugung, dass es dem Kläger nicht gelingen kann, unter einer Fortführung der multimodalen Therapie weiter wesentlich an Gewicht zu verlieren. Aus Sicht der Kammer liegt kein intolerables Operationsrisiko vor. Außerdem ist eine medizinische Nachbetreuung gewährleistet.
Der Klage war daher stattzugeben und die Beklagte zur Gewährung der bariatrischen Operation als Sachleistung im Rahmen einer stationären Krankenhausbehandlung zu verurteilen.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 193 SGG.


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