Medizinrecht

Krankenversicherung

Aktenzeichen  S 11 KR 767/19

Datum:
28.1.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 1360
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 23.05.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.09.2019 verurteilt, an die Klägerin 3.575,22 € zu zahlen.
II. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin sind zu erstatten.

Gründe

Das Gericht konnte den Rechtsstreit mit Einverständnis der Beteiligten, das diese mit Schriftsätzen vom 23.12.2021 (Klägerin) bzw. vom 04.01.2022 (Beklagte) erklärt haben, ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden (vgl. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG).
Die Klage ist zulässig und begründet.
I. Die form- und fristgerecht eingelegte Klage ist auch im Übrigen zulässig (vgl. §§ 87 ff. SGG).
Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 23.05.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.09.2019. Mit den angefochtenen Bescheiden hat es die Beklagte abgelehnt, der Klägerin die für zwei Behandlungszyklen einer ICSI in Rechnung gestellte Kosten zu erstatten, auch nicht beschränkt auf die Höhe von 50%.
Streitgegenständlich ist zwischen den Beteiligten, ob die Beklagte – auf Grundlage ihres Bewilligungsbescheids vom 23.01.2019 – der Klägerin einen Zuschuss zu den Behandlungskosten einer ICSI in Höhe von insgesamt 3.575,22 € (1.796,17 € für den 1. Behandlungszyklus sowie weitere 1.779,05 € für den 2. Behandlungszyklus) zu leisten hat.
II. Die Klage ist begründet. Zu Unrecht hat es die Beklagte mit den angefochtenen Bescheiden abgelehnt, der Klägerin 50% der Kosten für zwei Behandlungszyklen einer ICSI (März 2019 und Mai 2019) zu zahlen. Die Klägerin ist somit durch den Bescheid vom 23.05.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.09.2019 in ihren Rechten verletzt; die Bescheide sind aufzuheben. Der Klägerin steht infolge der durchgeführten Behandlung einer ICSI gegenüber der Beklagten einen Zahlungsanspruch in Höhe von 3.575,22 € zu. Der Zahlungsanspruch beruht auf dem Bewilligungsbescheid der Beklagten vom 23.01.2019 (siehe dazu nachfolgend 1.). Er ist auch nicht nachträglich erloschen oder untergegangen (siehe dazu nachfolgend 2.).
1. Die Klägerin hat aufgrund des Bewilligungsbescheides vom 23.01.2019 einen Leistungsanspruch gegenüber der Beklagten auf Zahlung der geltend gemachten 3.575,22 €.
a. Das Gericht hat vorliegend nicht darüber zu entscheiden, ob der Klägerin ein Sachleistungsanspruch auf Durchführung der zwei Behandlungszyklen einer ICSI zugestanden hat (siehe dazu § 27a Abs. 1, 3 SGB V) und hieraus – nach Durchführung der Behandlung – ein etwaiger Kostenerstattungsanspruch (§ 13 Abs. 3 SGB V) resultiert. Denn die Beklagte hat der Klägerin mit bestandskräftigem Bescheid vom 23.01.2019 einen Zuschuss zu den im Rahmen des genehmigten Behandlungsplans für eine ICSI entstehenden Kosten bewilligt.
Die Gewährung einer Geldleistung anstelle einer Sachleistung ergibt sich nicht nur unzweifelhaft aus der Formulierung „Zuschuss“ in dem Bescheid, sondern auch aus der von der Beklagten vorgesehenen Verfahrensweise, wonach die Klägerin die Originalrechnungen sammeln und einreichen soll, damit anschließend der Zuschuss überwiesen werden kann. Grundlage für den von der Klägerin im vorliegenden Klageverfahren geltend gemachten Leistungsanspruch bildet somit der bestandskräftige Leistungsbescheid der Beklagten vom 23.01.2019.
b. Der Klägerin sind durch die Behandlung Kosten i.H.v. 7.440,42 € entstanden. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts aus den in den Akten befindlichen und auf Anforderung des Gerichts im gerichtlichen Verfahren weiteren vorgelegten Rechnungen. Von den angefallenen Kosten werden seitens der Klägerin die für die Behandlung am 18.03.2019 (verlängerte Embryonenkultur) in Rechnung gestellten 290 € nicht, auch nicht anteilig geltend gemacht. Von den verbleibenden Kosten in Höhe von 7.150,42 € wurden dem Ehemann der Klägerin von der D. (rundungsbedingt) 3.575,20 € erstattet. Es verbleibt somit ein Restbetrag in Höhe von 3.575,22 €, den die Klägerin mit der vorliegenden Klage geltend macht. Die Einzelheiten zu den in Rechnung gestellten Leistungen und deren Abrechnung sind nachfolgender Tabelle zu entnehmen:
Behandlungsdatum Behandlungsempfänger Art der Behandlung Rechnungsbetrag in € Erstattungsbetrag D. in € Offener Restbetrag in €
05.03.2019 Klägerin Medikament 1057,51 528,76 528,76
09.03.2019 Klägerin Arzt 104,16 52,08 52,08
09.03.2019 bis 23.03.2019 Klägerin Kinderwunschzentrum 1833,31 916,65 916,65
14.03.2019 Klägerin Arzt 420,74 210,37 210,37
15.03.2019 Klägerin Medikament 52,97 26,48 26,49
18.03.2019 Klägerin Arzt (verlängerte Embryonenkultur) 290 145 145 nicht geltend gemacht
18.03.2019 Klägerin Medikamente 123,64 61,82 61,82
04.05.2019 Klägerin Medikament 1055,35 527,68 527,67
09.05.2019 Klägerin Arzt 1831,21 915,60 915,61
14.05.2019 Klägerin Medikament 150,81 75,40 75,41
17.05.2019 Klägerin Arzt 420,74 210,37 210,37
06.06.2019 Klägerin Medikament 99,98 49,99 49,99
Gesamtsumme ohne Rechnung über 290 € 7150,42 3575,20 3575,22
c. Die Kosten in Höhe von 3.575,22 € werden von der Leistungsbewilligung der Beklagten vom 23.01.2019 im vollen Umfang umfasst.
Die Kosten in Höhe von 3.575,22 € resultieren entweder aus ärztlichen Leistungen, die an der Klägerin erbracht worden sind, aus extrakorporalen Leistungen oder aus Arzneimitteln, die im Zusammenhang mit der Maßnahme verordnet worden sind. Sie stehen in Übereinstimmung mit dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung.
Die Kosten der ärztlichen Behandlung entsprechen in ihrer Höhe auch den in der gesetzlichen Krankenversicherung gültigen Vertragssätzen. Die für die Arzneimittel in Rechnung gestellten Kosten sind gleich denen, die bei vertraglicher Abrechnung der Arzneimittel-Verordnungen berücksichtigt worden wären. Auch entspricht – wie dargelegt – unter Einbeziehung einer rundungsbedingten Differenz von 0,01 € die Höhe der Kosten (maximal) 50% der mit dem Behandlungsplan für die ICSI genehmigten Kosten. Die nach § 27a Abs. 3 S. 3 SGB V gesetzlich vorgesehene bzw. im Bescheid vom 23.01.2019 bestimmte Kostenobergrenze wird damit nicht überschritten.
Die Beklagte hat in der nicht-öffentlichen Sitzung vom 18.11.2021 auch ausdrücklich erklärt, dass die von der Klägerin geltend machten Kosten in Höhe und Umfang dem entsprechen, was seitens der Beklagten bei einer Behandlung der vorliegenden Art nach § 27a Abs. 3 Satz 3 SGB V übernommen würde. Einwendungen gegen die Höhe der von der Klägerin geltend gemachten Kosten wurden daher ausdrücklich nicht erhoben.
Im Ergebnis ist somit die Auffassung der Beklagten zutreffend, dass der Klägerin mit dem Bescheid vom 23.01.2019 keine Leistungen bewilligt wurden, die über die gesetzliche Regelung des § 27a Abs. 3 Satz 3 SGB V hinausgehen.
d. Der Leistungsbescheid der Beklagten vom 23.01.2019 enthielt auch keinerlei einschränkende Bestimmungen, die dem mit der vorliegenden Klage geltend gemachten Zahlungsanspruch der Klägerin entgegenstehen oder diesen einschränken oder diesem entgegengehalten werden könnten. Insbesondere ist dem Bescheid keine Regelung zu entnehmen, dass Zahlungen Dritter, z.B. privater Krankenversicherungen, die im Zusammenhang mit der durchgeführten Behandlung der ICSI erfolgen, auf den Leistungsanspruch der Klägerin anzurechnen sind. Dies gilt jedenfalls insoweit, als diese Zahlungen 50% der tatsächlich entstandenen Kosten nicht übersteigen. Die Zahlungen der D. an den Ehemann der Klägerin übersteigen, wie ausgeführt, 50% der tatsächlich entstandenen Kosten nicht.
Somit steht der Klägerin aufgrund des Leistungsbescheids der Beklagten vom 23.01.2019 ein Erstattungsanspruch in Höhe von 3.575,22 € zu.
2. Der Leistungsanspruch der Klägerin in Höhe von 3.575,22 € ist durch die Zahlungen der D. auch nicht erloschen oder, wie die Beklagte meint, untergegangen.
Für ein Erlöschen des Leistungsanspruchs der Klägerin gegenüber der Beklagten infolge der Erstattungszahlungen der D. an den Ehemann der Klägerin in Höhe von 3.575,20 € findet sich keine gesetzliche Grundlage. Eine solche wird von der Beklagten auch nicht benannt.
§ 19 Abs. 1 SGB V, der ein Erlöschen des Anspruchs auf Leistungen mit dem Ende der Mitgliedschaft vorsieht, ist vorliegend offensichtlich nicht einschlägig, ebenso wenig § 59 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I). Auch die Erfüllungsfunktion des § 107 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) findet auf den Leistungsanspruch der Klägerin schon deshalb keine Anwendung, weil es sich bei der D. um keinen Sozialleistungsträger handelt.
Der Leistungsanspruch der Klägerin aus dem Bewilligungsbescheid vom 23.01.2019 ist auch nicht in entsprechender Anwendung des § 362 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) erloschen.
Nach § 362 Abs. 1 BGB erlischt das Schuldverhältnis, wenn die geschuldete Leistung an den Gläubiger bewirkt wird. Wird an einen Dritten zum Zwecke der Erfüllung geleistet, so finden die Vorschriften des § 185 BGB Anwendung (§ 362 Abs. 2 BGB).
Die D. hat ihre Erstattungszahlungen an den Ehemann der Klägerin offensichtlich nicht zur Erfüllung der Leistungsschuld der Beklagten erbracht, sondern zur Erfüllung ihrer Zahlungsverpflichtungen aus dem Versicherungsverhältnis mit diesem (vgl. dazu BGH vom 03.03.2004 – IV ZR 25/03). Der Ehemann der Klägerin ist somit nicht Dritter i.S.d. § 362 Abs. 2 BGB. Auch den vom Gericht beigezogenen versicherungsvertraglichen Regelungen zwischen dem Ehemann der Klägerin und der D. sind keinerlei Bestimmungen zu entnehmen, die die Annahme der Beklagten, dass durch die Zahlungen der D. der Leistungsanspruch der Klägerin erloschen wäre, stützen könnten. Dass der Klägerin trotz der Zahlungen der D. tatsächlich Aufwendungen verblieben sind, hat das Gericht bereits (siehe II. 1.) dargelegt.
Unabhängig davon, dass im vorliegenden Rechtsstreit ein bestandskräftiger Leistungsbescheid der Beklagten gegeben ist, geht auch aus dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 17.06.2008 – B 1 KR 24/07 R nicht hervor, dass der Anspruch der Klägerin auf Übernahme der Kosten für die ICSI infolge der Zahlungen der privaten Krankenversicherung an ihren Ehemann erloschen wäre. Denn der Entscheidung des BSG kann allenfalls entnommen werden, dass die vollständige Erfüllung des Anspruchs gegen die private Krankenversicherung den gleichgerichteten, sich inhaltlich überschneidenden Anspruch gegen die gesetzliche Krankenversicherung erlöschen lässt (kritisch zum Begriff des Erlöschens LSG Berlin-Brandenburg vom 24.04.2015 – L 9 KR 9/13). So liegt der vorliegende Fall aber nicht: Eine 100-prozentige (= vollständige) Kostendeckung war durch die Leistungen der privaten Versicherung des Ehemannes der Klägerin gerade nicht gegeben, sondern nur eine 50-prozentige. Damit überschneiden sich die Ansprüche der Klägerin und ihres Ehemannes aber nicht, sondern sie ergänzen sich (in diesem Sinne wohl auch Brosius-Gersdorf in Berchtold/Huster/Rehborn, § 27a SGB V Rn. 38; siehe dazu auch BSG vom 03.04.2001 – B 1 KR 22/00 R).
Das Gericht folgt daher – unabhängig davon, dass im streitgegenständlichen Sachverhalt bereits ein bestandskräftiger Leistungsbescheid der Beklagten vorliegt und nicht ein Kostenerstattungs- oder Kostenfreistellungsanspruch geltend gemacht wird – auch nicht der vom LSG Berlin-Brandenburg in seiner Entscheidung vom 24.04.2015 – L 9 KR 9/13 vertretenen Auffassung, wonach erstattungsfähige Aufwendungen des gesetzlich Versicherten für medizinische Behandlungen nach § 27a SGB V nicht mehr gegeben sein sollen, wenn dem Ehepartner bereits 50% der Behandlungskosten durch eine private Krankenkasse erstattet worden sind. Das LSG Berlin-Brandenburg beruft sich nach Auffassung des Gerichts zum einen zu Unrecht auf die zitierte Entscheidung des BSG, da diese nicht den Fall einer nur hälftigen Kostenerstattung durch die private Krankenversicherung betraf. Zum anderen nennt das LSG in seiner Entscheidung keine Begründung für die Schlussfolgerung, dass bei einer nur 50-prozentigen Erstattung der Gesamtkosten keine erstattungsfähigen Aufwendungen mehr vorliegen sollen.
Auch dem Wortlaut des § 27a Abs. 3 S. 3 SGB V sind keinerlei Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, dass eine Kostenerstattung in Höhe von 50% durch die Krankenkasse nur unter der Bedingung erfolgen darf, dass dem gesetzlich Versicherten ein Eigenanteil in Höhe von 50% verbleibt, der nicht durch Zahlungen Dritter bzw. Leistungsansprüche außerhalb des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung gedeckt ist. Eine solche Einschränkung ist zum Erreichen des Normzwecks, Reduzierung der Kostenlast für die gesetzliche Krankenversicherung, auch nicht erforderlich. Diese Zielsetzung wird vielmehr auch dann erreicht, wenn der Versicherte die Tragung der bei ihm verbleibende Kostenlast in Höhe von 50% anderweitig absichert oder absichern lässt, z.B. durch eine vom Ehegatten aus eigenen Beiträgen finanzierte private Krankenversicherung (wie im vorliegenden Fall). Auch in der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drucks. 15/1525, S. 83) finden sich keine Hinweise für ein anderes Verständnis. Dort wird nur ausgeführt, dass sich die Krankenkasse höchstens zu 50% an den Kosten beteiligen darf.
Nach alledem stand der Klägerin aufgrund des Bewilligungsbescheids vom 23.01.2019 ein Geldleistungsanspruch gegenüber der Beklagten in Höhe von letztlich 3.575,22 € wegen der Aufwendungen für die bei ihr durchgeführte Behandlung einer ICSI zu.
Soweit die Beklagte diesen Leistungsanspruch mit dem angefochtenen Bescheid vom 23.05.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.09.2019 abgelehnt bzw. auf 0 € beschränkt hat, sind die Bescheide rechtswidrig und daher aufzuheben.
Der Leistungsanspruch der Klägerin i.H.v. 3.575,22 € ist nach § 44 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) zu verzinsen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.


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