Medizinrecht

Krankenversicherung, Krankenkasse, Kostenerstattung, Bescheid, Krankenhausbehandlung, Leistung, Verwaltungsverfahren, Krankenhaus, Anerkennung, Erstattung, Verfahren, Behandlung, Klage, Anpassung, gesetzlichen Krankenversicherung, Erstattung der Kosten, nicht ausreichend

Aktenzeichen  S 15 KR 927/21

Datum:
17.3.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 8120
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Zum Systemversagen bei einer ambulant durchgeführten bzw. durchzuführenden Mamillenpigmentierung entsprechend dem OPS 5-882.6 (Plastische Rekonstruktion durch Tätowierung).

Tenor

I. Der Bescheid vom 08.02.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 02.06.2021 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1.208,38 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
III. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Gründe

Die zulässige Klage ist auch begründet. Die streitgegenständlichen Bescheide halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand und beschweren die Klägerin im Sinne von § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Erstattung der streitgegenständlichen Kosten nach § 13 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) aufgrund Systemversagens.
Die Kosten für die Beschaffung der ärztlichen Behandlung sind dadurch entstanden, dass die Beklagte eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat.
Wie sich aus § 13 Abs. 1 SGB V ergibt, tritt der Kostenerstattungsanspruch an die Stelle des Anspruchs auf eine Sach- oder Dienstleistung; er besteht deshalb nur, soweit die selbst beschaffte Leistung ihrer Art nach zu den Leistungen gehört, die von den gesetzlichen Krankenkassen als Sachleistung zu erbringen sind. Mit der Durchbrechung des Sachleistungsgrundsatzes (§ 2 Abs. 2 SGB V) trägt § 13 Abs. 3 SGB V dem Umstand Rechnung, dass die gesetzlichen Krankenkassen eine umfassende medizinische Versorgung ihrer Mitglieder sicherstellen müssen (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1, § 27 Abs. 1 Satz 1, § 70 Abs. 1 Satz 1 SGB V) und infolgedessen für ein Versagen des Beschaffungssystems – sei es im medizinischen Notfall (vgl. § 76 Abs. 1 Satz 2 SGB V) oder infolge eines anderen unvorhergesehenen Mangels – einzustehen haben. Wortlaut und Zweck der Vorschrift lassen die Abweichung vom Sachleistungsprinzip nur in dem Umfang zu, in dem sie durch das Systemversagen verursacht ist (vgl. Bundessozialgericht (BSG) in SozR 3-2500 § 135 Nr. 4 S. 10, 11 m.w.N). Die Bestimmung erfasst hier nur Kosten, die dem Versicherten bei regulärer Leistungserbringung nicht entstanden wären. Andere Kosten, etwa die Verpflichtung gegenüber einem anderen als dem krankenversicherungsrechtlich zulässigen Leistungserbringer oder Zahlungen, die einem Leistungserbringer ohne Rechtsgrund zugewendet werden, lösen keinen Kostenerstattungsanspruch aus, weil sonst die krankenversicherungsrechtliche Bindung an die zulässigen Formen der Leistungserbringung durch den Anspruch auf Kostenerstattung ohne weiteres durchbrochen werden könnte (vgl. BSG, Urteil vom 2. November 2007 – Az.: B 1 KR 14/07 m.w.N., nach juris). Voraussetzung für eine Kostenerstattung in beiden Fällen des § 13 Abs. 3 SGB V ist auch, dass zwischen dem die Haftung der Krankenkasse begründenden Umstand (bei Alternative 1: Unvermögen zur rechtzeitigen Leistung; bei Alternative 2: rechtswidrige Ablehnung) und dem Nachteil des Versicherten (Kostenlast) ein Kausalzusammenhang besteht, ohne den die Bedingung des § 13 Abs. 1 SGB V für eine Ausnahme vom Sachleistungsgrundsatz nicht erfüllt ist.
Dies bedeutet einmal, dass Kosten für eine selbstbeschaffte Leistung, soweit diese nicht ausnahmsweise unaufschiebbar war, nur zu ersetzen sind, wenn die Krankenkasse die Leistungsgewährung abgelehnt hatte; ein Kausalzusammenhang und damit eine Kostenerstattung scheiden aus, wenn der Versicherte sich die streitige Behandlung außerhalb des vorgeschriebenen Beschaffungsweges selbst besorgt, ohne sich vorher mit seiner Krankenkasse ins Benehmen zu setzen und deren Entscheidung abzuwarten. Einer der Beschaffung vorgeschalteten Entscheidung der Krankenkasse bedarf es unabhängig davon, welcher Art die in Anspruch genommene Leistung ist und in welcher Höhe dafür Kosten anfallen (vgl. BSG, Urteil vom 15. April 1997 – Az.: 1 BK 31/96 und vom 14. Dezember 2006 – Az.: B 1 KR 8/06, nach juris).
Die Klägerin hat vorliegend den Beschaffungsweg eingehalten, da der Antrag mit Bescheid vom 08.02.2021 abgelehnt, die Behandlung selbst erst danach am 22.04.2021 begonnen wurde.
Es besteht auch ein Sachleistungsanspruch gegenüber der Beklagten.
Der Kostenerstattungsanspruch reicht nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch des Versicherten gegen seine Krankenkasse. Er setzt voraus, dass die selbstbeschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (ständige Rechtsprechung des BSG 14.12.2006, B 1 KR 12/06 R, SozR 4-2500 § 31 Nr. 8; BSG 27.03.2007, B 1 KR 17/06 R, juris). Die von der Klägerin selbstbeschaffte Leistung zählt wegen Systemversagens (vgl. BSG, Urt. v. 07.05.2013 – B 1 KR 44/12 R -, juris Rn. 17 ff. m.w.N., stRspr) dazu, so dass es auf die fehlende positive Empfehlung des G-BA nicht ankommt.
Zunächst ist festzustellen, dass es im Bereich der Krankenhausbehandlung mit dem OPS 5-882.6 (Plastische Rekonstruktion durch Tätowierung) – nicht 5-882.5 – eine abrechenbare Leistung gibt, die der hier durchgeführten Leistung Ziffer 2419a GOÄ (interdermale Pigmentierung der Brustwarze) im Hinblick auf den gewünschten Erfolg – optische Angleichung der beiden Brustwarzen – entspricht. Dieser OPS könne gem. dem Vortrag der Klägerin sowohl im Rahmen einer ambulanten oder stationären Operation durchgeführt werden. Dieses Argument ist zum einen rechtlich unzutreffend, da ambulantes Operieren im Krankenhaus nur im Rahmen von § 115b SGB V möglich ist und die Mamillentätowierung nicht im AOP-Katalog aufgeführt ist (lediglich der OPS 5-882.5 Operationen an der Brustwarze: Plastische Rekonstruktion durch Hauttransplantation ist gelistet). Zum anderen muss es aber der medizinischen Einschätzung der Ärzte überlassen bleiben, welche konkrete Leistung zur optischen Angleichung mit der geringsten gesundheitlichen Belastung für die Klägerin durchzuführen ist. Sollte es medizinische Gründe für die spätere Einfärbung gegeben haben, so hätte die Tätowierung gem. OPS 5-882.6 ohnehin nicht während der plastischen Operationen durchgeführt werden dürfen. Sollte hingegen eine Tätowierung während der durchgeführten Operationen möglich gewesen und gleichwohl nicht durchgeführt worden sein, so wäre die Nichtdurchführung der Beklagten zuzurechnen, da das Krankenhaus für die Beklagte als Sachleistungserbringer tätig wurde und mithin ein Fehler des Krankenhauses insoweit der Beklagten zuzurechnen ist. Eines Sachverständigengutachtens bedarf es daher zur Klärung der Frage, ob die farbliche Angleichung auch im Rahmen der vorgenommenen plastischen Operationen möglich gewesen wäre, nicht.
Auf eine Entstellungswirkung kommt es im Gegensatz zur Auffassung der Beklagten vorliegend nicht an, da die farbliche Angleichung der beiden Brustwarzen zum Gesamtkomplex der lege artis vorgenommenen Brustrekonstruktion gehört, die die Beklagte der Klägerin im Rahmen des Sachleistungsanspruchs der Klägerin geschuldet hat und die erst mit Durchführung der farblichen Angleichung beendet wurde. Es handelt sich nicht um eine bloße Schönheitsoperation, bei der es auf das Merkmal der Entstellung rechtlich ankommt. Vielmehr wurde der Klägerin mit Bescheid vom 17.07.2020 die Kostenübernahme für den (gesamten) Brustaufbau zugesagt. Dieser ist erst mit einer optischen Angleichung der beiden Mamillen abgeschlossen.
Nach allem war die Leistung der farblichen Anpassung der beiden Mamillen nach der Brustaufbauoperation in einer ambulanten Durchführung von der Beklagten geschuldet. Die Nichtaufnahme der Mamillenpigmentierung im Einheitlichen Bewertungsmaßstab stellt mithin ein Systemversagen dar. Entsprechend wird der Eingriff von vielen Krankenkassen auch genehmigt (vgl. https://mammazentrum-hamburg.de/medizinische-kosmetik-permanent-pigmentierung-tattoo/: Mit einem Kostenvoranschlag werden die Kosten von den meisten Krankenkassen übernommen, da die Pigmentierung eine Komplettierung der operativen Rekonstruktion darstellt und somit medizinisch indiziert ist. – Unterstreichung durch die erkennende Kammer).
Der materielle Gesetzgeber hat den Fall des im medizinischen Einzelfall notwendigen zweischrittigen Behandlungsvorgangs (operativer Brustaufbau mit nachfolgender ambulanter Pigmentierung), der auch ein anerkanntes medizinisches Verfahren zur Rekonstruktion des Brustwarzenvorhofes darstellt (vgl. https://www.klinikumbielefeld.de/Rekonstruktion-der-Brustwarze-und-des Warzenv Klinik-fuer-Plastische-Wiederherstellungs-und-Aesthetische-Chirurgie-Handchirurgie.html), mithin schlicht übersehen. Medizinische Gründe für das Leistungsangebot im stationär-operativen Bereich, nicht aber im ambulanten Bereich, sind nicht ersichtlich und wurden von der Beklagten auch nicht vorgebracht. Auch die Sozialgerichtsbarkeit hat die grundsätzliche Erstattungsfähigkeit einer ärztlich ambulant durchgeführten Mamillenpigmentierung vorausgesetzt und nicht weiter angezweifelt (vgl. BayLSG, Urteil vom 27.02.2020, L 20 KR 306/19, Rn. 68 juris).
Es hätte der Beklagten nach allem oblegen, der Klägerin auf ihren Antrag hin anstelle der Ablehnung durch den angegriffenen streitgegenständlichen Bescheid eine vertragsärztliche Behandlung anzubieten. Dies ist nicht erfolgt.
Nach allem ist die Klage begründet. Die Verzinsung folgt aus §§ 291, 288 BGB in entsprechender Anwendung.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen


Nach oben