Medizinrecht

Leistungen der Pflegeversicherung – Hilfebedarf zur Grundpflege

Aktenzeichen  S 21 P 44/17

Datum:
13.4.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 49573
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB XI § 14

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

Die Klage auf Pflegegeld der Stufe II ist zulässig, jedoch nicht begründet. Die Leistungen der Pflegeversicherung nach der Pflegestufe II ablehnenden Bescheide der Beklagten vom 09.02.2016 und vom 06.09.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.03.2017 sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger kann das begehrte Pflegegeld der Pflegestufe II mangels Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen nicht beanspruchen.
1. Die Kammer konnte in der mündlichen Verhandlung vom 13.04.2018 auch in Abwesenheit des Klägers und seines Prozessbevollmächtigten entscheiden, da der Kläger mit Postzustellungsurkunde vom 20.01.2108 ordnungsgemäß geladen war und der Kläger in der Ladung darauf hingewiesen worden war, dass im Falle seines Ausbleibens ein Urteil nach Lage der Akten ergehen kann (§§ 110 Abs. 1 Satz 2, 126 Sozialgerichtsgesetz – SGG). Der Kläger hat sein Ausbleiben in der mündlichen Verhandlung vom 13.04.2018 mit Schreiben vom 12.04.2018 entschuldigt. Einen Antrag auf Vertagung hat der Kläger nicht gestellt, so dass das Gericht in der mündlichen Verhandlung vom 13.04.2018 über die Klage entscheide konnte.
2. Der Kläger ist Sonderrechtsnachfolger der Versicherten hinsichtlich des geltend gemachten Anspruchs auf Pflegegeld aus § 37 Elftes Buch Sozialgesetzbuch – Pflegeversicherung (SGB XI). Das folgt aus § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil (SGB I). Danach stehen beim Tode des Berechtigten fällige Ansprüche auf laufende Geldleistungen an erster Stelle dem Ehegatten zu, wenn dieser mit der Berechtigten zur Zeit ihres Todes in einem gemeinsamen Haushalt gelebt hat. So lag es beim Kläger. Zur Zeit des Todes der Versicherten lebte er als Ehegatte mit ihr in einem gemeinsamen Haushalt. Bei dem geltend gemachten Anspruch auf Pflegegeld handelt es sich auch um einen fälligen Anspruch auf laufende Geldleistungen.
3. Der Kläger hat den Antrag auf Pflegeleistungen bereits im Jahr 2015 gestellt. Gem. § 140 Abs. 1 SGB XI erfolgt die Feststellung des Vorliegens von Pflegebedürftigkeit oder einer erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz nach § 45a SGB XI in der am 31. Dezember 2016 geltenden Fassung jeweils auf der Grundlage des zum Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Rechts. Der Erwerb einer Anspruchsberechtigung auf Leistungen der Pflegeversicherung richtet sich gem. § 140 SGB XI ebenfalls nach dem zum Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Recht. Nach dieser Vorschrift beschränkt sich der Rechtsstreit daher auf die Frage, ob die Voraussetzungen für eine Pflegestufe nach der bis zum 31.12.2016 geltenden Rechtslage bestanden haben. Dies ist jedoch vorliegend nicht der Fall.
4. Die Klage ist zulässig. Gemäß § 87 Abs. 1 Satz 1 SGG ist eine Klage binnen eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts zu erheben. Die Frist beginnt, wenn ein Vorverfahren stattgefunden hat, mit der Bekanntgabe des Widerspruchsbescheids (vgl. § 87 Abs. 2 SGG). Die Bekanntgabe eines schriftlichen Verwaltungsaktes erfolgt mit dessen Zugang. Unter Anwesenden ist dies die Übergabe des Verwaltungsaktes an den Adressaten. Für die Bekanntgabe unter Abwesenden kommt es in entsprechender Anwendung von § 130 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) darauf an, wann der Verwaltungsakt so in den Bereich des Empfängers gelangt ist, dass dieser unter normalen Verhältnissen die Möglichkeit hat, vom Inhalt der Erklärung Kenntnis zu nehmen. Tatsächliche Kenntnisnahme ist nicht erforderlich (BSG, Urteil vom 16. Dezember 2008 – B 4 AS 48/07 R -, Rn. 16, juris). Zugang ist hier – wie der Klägerbevollmächtigte mitgeteilt hat – frühestens am Samstag 18.03.2017 erfolgt.
Die Beklagte kann sich nicht auf die Bekanntgabefiktion des § 37 Abs. 2 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) berufen. Für formlose schriftliche Verwaltungsakte, die im Inland durch die Post übermittelt werden, normiert § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X eine Zugangsfiktion. Hiernach gilt der Verwaltungsakt am dritten Tag nach seiner Aufgabe zur Post als bekanntgegeben und zwar auch dann, wenn er dem Empfänger tatsächlich bereits früher zugegangen ist. Unbeachtlich ist, ob dieser Tag auf einen Samstag, Sonntag oder Feiertag fällt. Aufgrund der gesetzlichen Zugangsfiktion in § 37 Abs. 2 S. 2 SGB X gilt ein Verwaltungsakt, der im Inland oder Ausland elektronisch übermittelt wird, am dritten Tag nach der Absendung als bekannt gegeben. Die Beklagte hat auf Nachfrage des Gerichts bestätigt, dass der Bescheid am 16.03.2017 zur Post gegeben wurde. Einen Auslaufvermerk der Poststelle oder Ähnliches konnte die Beklagte jedoch nicht vorlegen. Voraussetzung für die Bekannntgabefiktion ist jedoch die Feststellung des Zeitpunktes, zu dem der maßgebende Verwaltungsakt zur Post gegeben wurde (vgl. E., Urteil vom 11. Juni 2015 – L 10 AL 159/14 -, Rn. 15, juris). Regelmäßig erfolgt die Dokumentation durch einen Vermerk in den Verwaltungsakten, wann der Bescheid zur Post gegeben worden ist. Fehlt ein entsprechender Vermerk über den Tag der Postaufgabe, tritt grundsätzlich keine Bekanntgabefiktion ein (vgl. BSG, Urteil vom 03.03.2009 – B 4 AS 37/08 R – SozR 4-4200 § 22 Nr 15; E., Beschluss vom 31. Mai 2016 – L 11 AS 329/16 B PKH -, Rn. 11, juris). Hier hat die Beklagte eine Aufgabe zur Post nicht dokumentiert. Es ist nicht einmal dokumentiert, wann der Bescheid zentral gedruckt worden und von dort ausgelaufen sein soll. Die Zugangsfiktion greift daher in diesem Fall nicht ein.
Der Kläger beruft sich insoweit darauf, dass der Bescheid frühestens am 18.03.2017 zugegangen ist. Wäre der Bescheid tatsächlich am Samstag, 18.03.2017 zugegangen, so wäre die Klage wegen Fristablaufs unzulässig gem. § 87 SGG. Nach Maßgabe von § 64 SGG begänne dann die einmonatige Klagefrist am 19.03.2017 und endete mit Ablauf des 18.04.2017. Die Klage wurde am 20.04.2017 und wäre damit verfristet erhoben. Da jedoch ein Zugang des Bescheids am Samstag, 18.03.2017 nicht zweifelsfrei nachgewiesen ist, sondern „frühestens“ erfolgt ist, geht das Gericht zu Gunsten des Klägers von einer fristgerechten Klageerhebung aus.
5. Die Klage ist jedoch unbegründet. Nach § 37 SGB XI (bis zum 31.12.2016 geltende Fassung) setzt der Anspruch auf Gewährung von Pflegegeld für eine selbst beschaffte Pflegehilfe unter anderem voraus, dass der Anspruchssteller pflegebedürftig ist und einer Pflegestufe zugeordnet werden kann. Pflegebedürftigkeit liegt nach § 14 Abs. 1 SGB XI (bis zum 31.12.2016 geltende Fassung) vor, wenn der Betroffene wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate in erheblichen oder höheren Maße der Hilfe bedarf, die nach § 14 Abs. 3 SGB XI (bis zum 31.12.2016 geltende Fassung) in der Unterstützung in der teilweisen oder vollständigen Übernahme der Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens oder in der Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme dieser Verrichtungen besteht.
Als gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen im vorgenannten Sinne gelten nach § 14 Absatz 4 SGB XI (bis zum 31.12.2016 geltende Fassung) im Bereich der Körperpflege, der neben den Bereichen der Ernährung und der Mobilität zur Grundpflege gehört, das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren und die Darm- oder Blasenentleerung, im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung, im Bereich der Mobilität das selbstständige Aufstehen und das Zu-Bett-Gehen, das An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung sowie im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung, das Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung oder das Beheizen.
Welche Art der Hilfeleistung für die Zuordnung einer Pflegestufe dabei von Bedeutung ist, regelt § 14 Abs. 3 SGB XI (bis zum 31.12.2016 geltende Fassung). Danach ist als Hilfe die Unterstützung, die teilweise oder vollständige Übernahme der Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens oder die Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme dieser Verrichtungen zu sehen. Die Pflegebedürftigkeit einer bestimmten Pflegestufe kann nicht bereits daraus abgeleitet werden, dass die Schwerbehinderteneigenschaft und/oder die Voraussetzungen von Hilflosigkeit im Sinne des Schwerbehinderten-, Versorgungs- oder Einkommensteuerrechtes festgestellt sind (vgl. BSG SozR 3-2500 §53 Nr. 8). Maßgebend ist, ob Funktionsdefizite bei den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens bestehen.
Nach § 15 Abs. 1 Nr. 2 SGB XI (bis zum 31.12.2016 geltende Fassung) liegt Pflegebedürftigkeit der Pflegestufe II (Schwerpflegebedürftigkeit) bei Personen vor, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder Mobilität mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Dabei muss nach § 15 Abs. 3 Nr. 2 SGB XI (bis zum 31.12.2016 geltende Fassung) der Zeitaufwand den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Person für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, wöchentlich im Tagesdurchschnitt mindestens drei Stunden betragen. Auf die Grundpflege müssen mindestens zwei Stunden entfallen (§ 15 Abs. 3 Nr. 2 SGB XI (bis zum 31.12.2016 geltende Fassung)). Die Grundpflege erfasst diejenigen Verrichtungen, die für die Körperpflege, die Ernährung und die Mobilität im Sinne von § 14 Abs. 4 Nr. 1 bis 3 SGB XI (bis zum 31.12.2016 geltende Fassung) erforderlich sind (vgl. nur BSG, 18.9.2008, B 3 P 5/07 R, Juris, st. Rspr.).
Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Die Versicherte konnte sich zwar nicht ohne Hilfe selbst versorgen und bedarf sowohl im Bereich der Grundpflege als auch bei der hauswirtschaftlichen Versorgung der Hilfe. Die Kammer ist jedoch nach umfassender Würdigung der Gesamtumstände sowie unter Würdigung der Feststellungen sämtlicher eingeholter MDK – Gutachten nicht davon überzeugt, dass der Hilfebedarf der Versicherten im Bereich der Grundpflege zu irgendeiner Zeit seit Antragstellung bis 31.12.2016 mehr als 120 Minuten oder mehr täglich betrug.
Nach den schlüssigen Ausführungen und nachvollziehbaren Feststellungen des MDK in vier Sachverständigengutachten, davon zwei nach Hausbesuch, bestand im Jahr 2016 ein Pflegebedarf in der Grundpflege nach der Pflegestufe I. Die für eine Pflegestufe II notwendigen 120 Minuten Hilfebedarf bei den Verrichtungen der Grundpflege werden damit nicht erreicht. Die Einwendungen der Pflegeperson gegen das Gutachten vermögen nicht zu überzeugen. Diese beschränken sich darauf, dass die vom MDK angesetzten Zeiten zu niedrig seien ohne jedoch konkret auf die Pflegesituation der Klägerin einzugehen. Zum Vorliegen der Voraussetzungen der Pflegestufe bis 31.12.2016 obliegt dem Kläger die volle Beweislast. Der Vollbeweis erfordert, dass die Tatsachen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorliegen müssen (vgl. BayLSG, Urteil vom 26.07.2006, Az.: L 16 R 100/02; BSG, Urteil vom 14.12.2006, Az.: B 4 R 29/06 R). Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bedeutet, dass bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden kann (vgl. BSG, Urteil vom 30.04.1985, Az.: 2 RU 43/84). Oder in anderen Worten gesagt – das Gericht muss von der zu beweisenden Tatsache mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit ausgehen können (vgl. BSG, Urteil vom 02.02.1978, Az.: 8 RU 66/77). Es darf kein vernünftiger, in den Umständen des Einzelfalles begründeter Zweifel mehr bestehen (vgl. BayLSG, Urteil vom 26.07.2006, Az.: L 16 R 100/02).
Allein die Möglichkeit bzw. Vortrag der Pflegeperson oder der Pflegebedürftigen, es wären mehr Minuten bei den einzelnen Verrichtungen der Grundpflege notwendig angefallen, reicht für einen Vollbeweis nicht aus. Verschlechterungen, welche im Jahr 2016 offensichtlich hinzugetreten sind, wurden vom MDK berücksichtigt und führten zu einem im November 2016 erhöhten Pflegebedarf von 96 min. Es ist hier zu berücksichtigen, dass die Beklagte sich durch die Beauftragung von vier Gutachten des MDK in besonderer Weise bemüht hat, den Sachverhalt aufzuklären und den Pflegebedarf der Klägerin richtig festzustellen. Das Gericht hat keinen Zweifel an den Feststellungen des MDK. Konkrete Einwendungen, denen das Gericht in einem Sachverständigengutachten im gerichtlichen Verfahren nachgehen hätte können, wurden nicht vorgetragen und sind auch nicht ersichtlich. Aus diesem Grund hat die Kammer hat sich auch nicht gedrängt gesehen, weitere medizinische Sachaufklärung im Rahmen der ihr nach §§ 103, 106 SGG obliegenden Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts zu betreiben.
Die Klage auf Feststellung der Voraussetzungen von Pflegestufe II und Überführung in Pflegegrad 3 war nach alledem abzuweisen.
6. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 193 SGG.


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