Medizinrecht

Massenentscheidungen des Normgebers in Sachen Covid – Schließung eines EMS-Fitnessstudios aufgrund der 11. BayIfSMV

Aktenzeichen  20 NE 20.2698

Datum:
18.12.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 36150
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
IfSG § 28 Abs. 1, Abs. 6 S. 3, § 28a, § 32
BayIfSMV § 4, § 10 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 S. 1, § 11 Abs. 3 S. 1, § 12 Abs. 2, Abs. 3 S. 1
VwGO § 47 Abs. 6
GG Art. 2 Abs. 1, Abs. 2 S. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 12

 

Leitsatz

1.  Püfungsmaßstab bei der Frage, ob eine einstweilige Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO zu erlassen ist, sind die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags in der Hauptsache, die eine umso größere Bedeutung erlangen, wenn die Geltungsdauer der angegriffenen Norm begrenzt ist und eine Entscheidung in der Hauptsache ggf. nicht mehr erlangt werden kann. Bei unklaren Erfolgsaussichten ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden.  (Rn. 9 – 10) (redaktioneller Leitsatz)
2.  Die Regelung des § 10 Abs. 3 S. 1 der 11. BayIfSMV steht mit der Ermächtigungsgrundlage der § 32 S. 1, § 28a Abs. 1 Nr. 8, § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG im Einklang. Der Verordnungsgeber kann davon ausgehen, dass die körperliche Aktivität beim Sport mit einer erhöhten Produktion von Aerosolen verbunden ist und ein erhöhtes Ansteckungsrisiko besteht, ohne dass konkret für die einzelnen Sportstätten geprüft werden muss, ob es dort zu Infektionen gekommen ist.  (Rn. 12 – 15) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Tatsache, dass ein EMS-Fitnessstudio geschlossen bleiben muss, während Physiotherapeuten und Reha-Einrichtungen den Patienten weiterhin EMS-Training anbieten dürfen, verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Nach § 28 Abs. 6 S. 3 IfSG beurteilt sich die sachliche Rechtfertigung und Differenzierung einzelner Schutzmaßnahmen nicht nur nach dem Gefahrengrad der betroffenen Tätigkeit, sondern auch nach anderen Belangen, z.B. dem Bedarf an therapeutischen und medizinischen Maßnahmen bei entsprechender medizinischer Indikation. (Rn. 16 – 18) (redaktioneller Leitsatz)
4. Auch die Folgenabwägung ergibt, dass die Schließung des EMS-Fitnessstudios hinzunehmen ist, da das pandemische Geschehen weiterhin sehr angespannt ist und eine mögliche Eröffnung weiterer Infektionsketten durch eine Öffnung des Studios nicht hingenommen werden kann.  (Rn. 20 – 22) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens als Gesamtschuldner.
III. Der Streitwert wird auf 10.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1. Der Antragsteller zu 1 ist wirtschaftlicher Berechtigter der Antragstellerin zu 2, die ein EMS-Fitnessstudio in Bayern betreibt. Sie beantragen, § 10 Abs. 3 Satz 1 der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 15. Dezember 2020 (11. BayIfSMV; BayMBl. 2020 Nr. 737) einstweilen außer Vollzug zu setzen.
2. Die angegriffene Regelung hat folgenden Wortlaut:
㤠10
Sport

(3) Der Betrieb und die Nutzung von Sporthallen, Sportplätzen, Fitnessstudios, Tanzschulen und anderen Sportstätten ist untersagt. Abs. 2 bleibt unberührt.“
3. Die Antragsteller tragen zur Begründung ihres zunächst gegen Bestimmungen der 8. BayIfSMV vom 12. November 2020 gerichteten und zuletzt mit Schriftsatz vom 16. Dezember 2020 auf die 11. BayIfSMV umgestellten Eilantrags im Wesentlichen vor, die Betriebs- und Nutzungsuntersagung von „anderen Sportstätten“ verstoße gegen den Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG. Physiotherapeuten und Reha-Einrichtungen dürften ihren Patienten EMS-Training bei Einhaltung von Hygieneauflagen weiterhin anbieten. Dem Antragsteller zu 1 sei sogar die Nutzung seines eigenen EMS-Studios untersagt. Die Antragstellerin zu 2 erleide schwere finanzielle Nachteile, auch weil sie durch eine länger andauernde Betriebsschließung ihre Kunden verliere. Die Ausübung von Individualsportarten wie dem EMS-Personaltraining sei unter Beachtung der Kontaktbeschränkung nach § 10 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 4 11. BayIfSMV erlaubt. Das Staatsministerium für Gesundheit und Pflege sehe, wie auf den Internetseiten erkennbar, ein EMS-Studio nicht als Fitnessstudio an, sondern als Dienstleister im Sinne von § 12 Abs. 3 Satz 1 11. BayIfSMV. Die Antragstellerin zu 2 könne das EMS-Training als Dienstleistung im Sinne des § 12 Abs. 2 11. BayIfSMV betreiben, da keine körperliche Nähe zum Kunden unabdingbar sei. Seit 1. Dezember 2020 habe sie das EMS bei Kunden wieder zugelassen, soweit diese eine ärztliche Verordnung für EMS-Training beibrächten; die Antragstellerin führe insoweit physiotherapeutische Behandlungen in einer „sonstigen Praxis“ (§ 11 Abs. 3 Satz 1 11. BayIfSMV) durch.
4. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag hat keinen Erfolg.
Die Voraussetzungen des § 47 Abs. 6 VwGO, wonach das Normenkontrollgericht eine einstweilige Anordnung erlassen kann, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist, liegen nicht vor. Der Normenkontrollantrag in der Hauptsache gegen § 10 Abs. 3 Satz 1 11. BayIfSMV hat unter Anwendung des Prüfungsmaßstabs im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO (1.) bei summarischer Prüfung bereits keine durchgreifende Aussicht auf Erfolg (2.). Unabhängig davon ginge auch eine Folgenabwägung zulasten der Antragsteller aus (3.).
1. Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache anhängigen oder noch zu erhebenden Normenkontrollantrags, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen (BVerwG, B.v. 25.2.2015 ‒ 4 VR 5.14 u.a. ‒ ZfBR 2015, 381 – juris Rn. 12; zustimmend OVG NW, B.v. 25.4.2019 – 4 B 480/19.NE – NVwZ-RR 2019, 993 – juris Rn. 9). Dabei erlangen die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags eine umso größere Bedeutung für die Entscheidung im Eilverfahren, je kürzer die Geltungsdauer der in der Hauptsache angegriffenen Normen befristet und je geringer damit die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Entscheidung über den Normenkontrollantrag noch vor dem Außerkrafttreten der Normen ergehen kann. Ergibt die Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag zulässig und (voraussichtlich) begründet sein wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist (BVerwG, B.v. 25.2.2015 ‒ 4 VR 5.14 u.a. ‒ ZfBR 2015, 381 – juris Rn. 12).
Lassen sich die Erfolgsaussichten nicht absehen, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die begehrte Außervollzugsetzung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber später Erfolg hätte, und die Folgen, die entstünden, wenn die begehrte Außervollzugsetzung erlassen würde, der Normenkontrollantrag aber später erfolglos bliebe. Die für eine einstweilige Außervollzugsetzung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, also so schwer wiegen, dass sie – trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache – dringend geboten ist (vgl. BVerwG, B.v. 25.2.2015 – 4 VR 5.14 u.a. – juris Rn. 12; Ziekow in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 47 Rn. 395; Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 47 Rn. 106).
2. Nach diesen Maßstäben ist der Eilantrag auf einstweilige Außervollzugsetzung der angegriffenen Regelung abzulehnen, weil der in der Hauptsache gestellte Normenkontrollantrag bei summarischer Prüfung voraussichtlich keinen Erfolg haben wird.
a) Die vom Antragsteller angegriffene Regelung in § 10 Abs. 3 Satz 1 11. BayIfSMV steht mit der Ermächtigungsgrundlage der § 32 Satz 1, § 28a Abs. 1 Nr. 8, § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG im Einklang und erweist sich bei summarischer Prüfung weder als offensichtlich unverhältnismäßig noch als gleichheitswidrig (vgl. auch bereits BayVGH, B.v. 5.11.2020 – 20 NE 20.2468 – juris Rn. 14 ff.; B.v. 12.11.2020 – 20 NE 20.2463 – juris Rn. 33 ff. betreffend § 10 8. BayIfSMV i.d.F.v. 30.10.2020).
Notwendige Schutzmaßnahmen im Sinne des § 28 Absatz 1 Satz 1 und 2 IfSG zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) können für die Dauer der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Abs. 1 Satz 1 IfSG durch den Deutschen Bundestag insbesondere die Untersagung oder Beschränkung von Einrichtungen, die der Freizeitgestaltung zuzurechnen sind (§ 28a Abs. 1 Nr. 6 IfSG) und von Sportveranstaltungen und der Sportausübung sein (vgl. § 28a Abs. 1 Nr. 8 IfSG). Entscheidungen über Schutzmaßnahmen sind nach § 28a Abs. 3 Satz 1 IfSG insbesondere an dem Schutz von Leben und Gesundheit und der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems auszurichten. Dabei sind soziale, gesellschaftliche und wirtschaftliche Auswirkungen auf den Einzelnen und die Allgemeinheit einzubeziehen und zu berücksichtigen, soweit dies mit dem Ziel einer wirksamen Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 vereinbar ist. Einzelne soziale, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Bereiche, die für die Allgemeinheit von besonderer Bedeutung sind, können von den Schutzmaßnahmen ausgenommen werden, soweit ihre Einbeziehung zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 nicht zwingend erforderlich ist (§ 28a Abs. 6 Satz 2 und 3 IfSG).
b) Für die Ausübung von Amateursport schreibt § 10 Abs. 3 Satz 1 11. BayIfSMV die mit der 9. und 10. BayIfSMV ergriffenen Maßnahmen fort (vgl. Begründung der 11. BayIfSMV vom 15.12.2020, BayMBl. 2020 Nr. 738, S. 1). Hintergrund der Beschränkungen ist die (typisierende) Erwägung des Verordnungsgebers, dass es sich beim Betrieb und der Nutzung von Sportstätten – im Innen- und Außenbereich (anders noch § 10 Abs. 3 Satz 2 8. BayIfSMV i.d.F.d. Änderungsverordnung vom 12.11.2020 [BayMBl. 2020 Nr. 639] für die Nutzung von Sportstätten unter freiem Himmel) – um kontaktintensive Bereiche handelt, wo das Infektionsgeschehen durch eine Verminderung der persönlichen Kontakte effektiv begrenzt werden könne. Der Normgeber hält es seitdem für unerheblich, ob sich der Anteil der betroffenen Bereiche am Infektionsgeschehen genau und im Einzelnen sicher feststellen lässt, da die Ermittlung der Umstände einer Infektion ohnehin nur schwer möglich sei (vgl. Begründung zur 9. BayIfSMV vom 30.11.2020, BayMBl. 2020 Nr. 684, S. 4). Vielmehr geht er davon aus, dass die körperliche Aktivität beim Sport mit einer erhöhten Produktion von Aerosolen verbunden ist und in Innenräumen deshalb ein erhöhtes Risiko der Anreicherung von Aerosolen besteht, die eine mögliche Infektionsübertragung auch bei Einhalten von Mindestabständen begünstigen kann. Aus diesen Gründen ist er davon ausgegangen, dass die Infektionsgefahr bei der Ausübung von Sport in Innenräumen auch bei Beachtung von Schutz- und Hygienekonzepten nicht vollständig vermieden werden kann (vgl. Begründung zur 9. BayIfSMV vom 30.11.2020, a.a.O., S. 4).
Der Senat hat die Ausdehnung der Maßnahmen mit § 10 Abs. 3 Satz 1 8. BayIfSMV (i.d.F. der Änderungsverordnung vom 12.11.2020) auf alle Sportanlagen, soweit sie sich nicht unter freiem Himmel befinden (§ 10 Abs. 3 Satz 2 8. BayIfSMV), nicht beanstandet. Sie steht in Einklang mit dem Gesamtkonzept, Kontakte, die freizeitbedingt in Innenräumen stattfinden, einzuschränken, um das Infektionsgeschehen abzuschwächen (vgl. BayVGH, B.v. 25.11.2020 – 20 NE 20.2567 – juris Rn. 25). Nichts Anderes gilt für § 10 Abs. 3 Satz 1 11. BayIfSMV. Die Zahl der Neuinfektionen hat sich seitdem nicht verringert; für einen großen Anteil der Fälle kann das Infektionsumfeld weiterhin nicht ermittelt werden. Auf die Frage, ob es in EMS-Fitnessstudios nachweislich zu Infektionen mit SARS-CoV-2 gekommen ist, kommt es deshalb derzeit nicht an.
c) Soweit der Verordnungsgeber das Angebot medizinischer, therapeutischer und pflegerischer Leistungen bzw. medizinisch notwendiger Behandlungen unter bestimmten Schutz- und Hygieneauflagen weiter zulässt (§ 12 Abs. 3 Satz 1 11. BayIfSMV), bedeutet dies demgegenüber keinen Gleichheitsverstoß nach Art. 3 Abs. 1 GG.
Die Differenzierung, die Ausübung von Rehabilitationssport und Funktionstraining zuzulassen, wenn für sie eine medizinische Indikation gegeben ist (vgl. Begründung der 11. BayIfSMV vom 15.12.2020, BayMBl. 2020 Nr. 738, S. 4), erweist sich bei summarischer Prüfung nicht als gleichheitswidrig. Art. 3 Abs. 1 GG verwehrt dem Normgeber nicht jede Differenzierung. Für die Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sein müssen, gilt grundsätzlich ein stufenloser am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen (BVerfG, U.v. 26.05.2020 – 1 BvL 5/18 – BVerfGE 153, 358 – juris Rn. 94). Dieser kann von gelockerten auf das Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitserfordernissen reichen (BVerfG, B.v. 18.7.2012 – 1 BvL 16/11 – BVerfGE 132, 179 – juris Rn. 30 f.). Der Umstand, dass ein Normgeber zur Bewältigung neuartiger Gefahrenlagen und Entwicklungen, die ein schnelles Eingreifen erfordern, für die es aber bisher an einem zuverlässigen Erfahrungswissen fehlt, Massenentscheidungen trifft, kann dabei Rückwirkungen auf die Maßstabsbildung entfalten (vgl. BayVerfGH, E.v. 21.10.2020 – Vf. 26-VII-20 – juris Rn. 24).
Mit § 28 Abs. 6 Satz 3 IfSG hat der Gesetzgeber den Infektionsschutzbehörden bei bereichsspezifischen Differenzierungen in einem Gesamtkonzept einen Gestaltungsspielraum eingeräumt. Die sachliche Rechtfertigung und Differenzierung einzelner Schutzmaßnahmen ist hiernach nicht allein anhand des infektionsschutzrechtlichen Gefahrengrades der betroffenen Tätigkeit zu beurteilen. Vielmehr sind alle sonstigen relevanten Belange zu berücksichtigen (vgl. BT-Drs. 19/24334 S. 82). Im Hinblick auf den herausgehobenen Bedarf medizinischer und therapeutischer Maßnahmen für die Behandelten ist die Ungleichbehandlung des Angebots von EMS-Training in Praxen für Physiotherapie einerseits und andererseits in EMS-Fitnessstudios, in denen das EMS-Training ohne medizinische Indikation angeboten wird, nicht evident sachwidrig (vgl. auch SächsOVG, B.v. 24.11.2020 – 3 B 361/20 – juris Rn. 56). Die Antragstellerin zu 2 nimmt die Möglichkeit, EMS-Training auf ärztliche Verordnung anzubieten, seit 1. Dezember 2020 auch in Anspruch (vgl. Schriftsatz vom 16.12.2020 S. 2).
d) Ob EMS-Training im Einzelfall als Ausübung von Individualsport nach § 10 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 4 11. BayIfSMV verstanden werden kann und ob die Nutzungsuntersagung in § 10 Abs. 3 Satz 1 11. BayIfSMV so weit geht, dass selbst der Antragsteller zu 1 als (wirtschaftlicher) Inhaber des EMS-Fitnessstudios dieses auch nicht mehr selbst nutzen darf, kann nicht im vorliegenden (Eil-)Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO geklärt werden. Den Antragstellern bleibt es unbenommen, die diesbezüglichen Fragen der Reichweite der Normen ggf. mit einer gegen den Antragsgegner gerichteten Feststellungsklage nach § 43 VwGO klären zu lassen (vgl. BayVGH, B.v. 19.11.2020 – 20 NE 20.2513 – juris Rn. 19; B.v. 26.8.2020 – 20 CE 20.1806 – juris Rn. 14).
3. Auch eine Folgenabwägung ergibt, dass die betroffenen Schutzgüter der Normadressaten, insbesondere ihre Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 12 GG, derzeit hinter den Schutz von Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) einer Vielzahl von Menschen zurücktreten müssen (vgl. BVerfG, B.v. 11.11.2020 – 1 BvR 2530/20 – juris Rn. 12 ff.; BayVerfGH, E.v. 16.11.2020 – Vf. 90-VII-20 – juris Rn. 41); eine Außervollzugsetzung der Regelung kommt daher auch insofern nicht in Betracht.
a) Das pandemische Geschehen ist weiterhin sehr angespannt. Nach dem Situationsbericht des Robert-Koch-Instituts (RKI) vom 17. Dezember 2020 (vgl. abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Dez_2020/2020-12-17-de.pdf? blob=publicationFile) ist weiterhin eine hohe Anzahl an Übertragungen in der Bevölkerung in Deutschland zu beobachten. Seit dem 4. Dezember 2020 ist ein starker Anstieg der Fallzahlen zu beobachten. Die Inzidenz der letzten sieben Tage liegt deutschlandweit bei 179 Fällen pro 100.000 Einwohner. In Sachsen und Thüringen liegt sie sehr deutlich über der Gesamtinzidenz und steigt weiter an. Seit Anfang September nimmt der Anteil älterer Personen unter den COVID-19-Fällen wieder zu. Die Sieben-Tage-Inzidenz bei Personen ≥ 60 Jahre liegt bei aktuell 173 Fällen pro 100.000 Einwohner. Die hohen bundesweiten Fallzahlen werden verursacht durch zumeist diffuse Geschehen, mit zahlreichen Häufungen insbesondere in Haushalten sowie in Alten- und Pflegeheimen, aber auch in beruflichen Settings, in Gemeinschaftseinrichtungen und ausgehend von religiösen Veranstaltungen. Für einen großen Anteil der Fälle kann das Infektionsumfeld nicht ermittelt werden. Nach dem starken Anstieg der intensivmedizinisch behandelten COVID-19-Fälle bis Mitte November (von 879 Fällen am 20.10 [abrufbar unter https://www.divi.de/divi-intensivregister-tagesreport-archiv] auf 3.615 Fälle am 20. November 2020), hat sich dieser mittlerweile etwas verlangsamt, die Gesamtzahl steigt aber derzeit weiter an (4.856 am 17.12.2020). Das RKI schätzt die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland insgesamt als sehr hoch ein (vgl. Risikobewertung vom 11.12.2020, abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/ Risikobewertung.htm).
b) In dieser Situation ergibt die Folgenabwägung, dass die zu erwartenden Folgen einer Außervollzugsetzung der angegriffenen Regelung – im Hinblick auf die damit einhergehende mögliche Eröffnung weiterer Infektionsketten – schwerer ins Gewicht fallen als die Folgen ihres weiteren Vollzugs für die Rechte der Normadressaten. Gegenüber den bestehenden Gefahren für Leib und Leben, vor denen zu schützen der Staat nach dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) verpflichtet ist, müssen die Interessen der von der Schließung von Sportstätten Betroffenen derzeit zurücktreten (vgl. auch BVerfG, B.v. 15.7.2020 – 1 BvR 1630/20 – juris Rn. 25; B.v. 11.11.2020 – 1 BvR 2530/20 – juris Rn. 12 ff.).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 159 Satz 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG. Da die von den Antragstellern angegriffene Bestimmung bereits mit Ablauf des 10. Januar 2021 außer Kraft tritt (§ 29 Abs. 1 11. BayIfSMV), zielt der Eilantrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, sodass der Streitwert für das Eilverfahren nicht nach Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit zu verringern ist.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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