Medizinrecht

Mehrfachabrechnung von Untersuchungen bei Mehrlingsschwangerschaften

Aktenzeichen  S 38 KA 361/17

Datum:
15.5.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 10688
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
BMV-Ä § 21 Abs. 1 S. 9
SGB V § 27, § 87 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1. Auch vor der Änderung der Präambel zum 01.04.2019 durch den Bewertungsausschuss (432. Sitzung; Teil B Ziffer 13 des Beschlusses) mit Wirkung zum 1. April 2019 ist ein Mehrfachansatz der Gebührenordnungspositionen 11355 und 11356 bei Mehrlingsschwangerschaften zulässig. (Rn. 25 – 28)
2. Es handelt sich bei der Änderung der Präambel lediglich um eine Klarstellung ohne eine Änderung der Leistungslegenden. (Rn. 27)
3. Der Wortlaut der Gebührenordnungspositionen 11355 und 11356 ist nicht eindeutig genug, so dass nicht lediglich der Wortlaut maßgeblich ist, sondern die sonstigen Auslegungsregeln ergänzend zur Anwendung kommen ( vgl. grundsätzlich BSG, SozR 3-5535 Nr. 119 Nr. 1 S. 5; anders BayLSG, Urteile jeweils vom 16.05.2018, Az. L 12 KA 17/16 und L 12 KA 16/16 zur Auslegung der GOP`s 11410, 11370, 11390 und 11391). (Rn. 21 – 22)

Tenor

I. Die sachlich-rechnerische Richtigstellung im Honorarbescheid für das Quartal 3/2016 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28.06.2017, abgeändert durch den Widerspruchsbescheid vom 26.09.2018 wird aufgehoben, soweit sie den Widerspruch vom 28.02.2017 zurückweist und sich das Verfahren nicht auf die Leistungen der GOP 01787 bezieht. Die Beklagte wird insoweit verpflichtet, die Leistungen nach den GOP`s 11355 und 11356 entsprechend nachzuvergüten.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

Die zum Sozialgericht München eingelegte Klage ist zulässig und erweist sich auch als begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten.
Die Absetzung der Leistungen erfolgte bei einer Zwillingsschwangerschaft. Die Beklagte bezog sich auf die Leistungslegenden der GOP`s 11355 und 11356, insbesondere auf die Beschränkung „einmal im Krankheitsfall“, weshalb sie die Möglichkeit, die Gebührenordnungspositionen mehrfach in Ansatz zu bringen und abzurechnen, verneinte.
Der Wortlaut der Leistungslegende der GOP 11355 lautet wie folgt:
„Noonan-Syndrom -Mutationssuche Abrechnungsbestimmung einmal im Krankheitsfall.“
Die Leistung der GOP 11356 es wie folgt beschrieben:
„Noonan-Syndrom – weitere Gene Abrechnungsbestimmung einmal im Krankheitsfall.“
In § 21 Abs. 1 S. 9 Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) wird festgelegt, dass ein Krankheitsfall das aktuelle sowie die nachfolgenden drei Kalendervierteljahre, die der Berechnung der krankheitsfallbezogenen Leistungsposition folgen, umfasst. Im Gegensatz dazu bezieht sich der „Behandlungsfall“ lediglich auf ein Kalendervierteljahr. Nach Auffassung des Gerichts handelt es sich hierbei jedoch nicht um eine exakte Definition des „Krankheitsfalls“, sondern nur um eine zeitliche Bestimmung.
Grundsätzlich zutreffend und vereinbar mit der langjährigen Rechtsprechung der Sozialgerichte zur Auslegung von Gebührenordnungspositionen im Vertrags-(zahn) arztrecht ist, dass es für eine Auslegung in erster Linie auf den Wortlaut der Leistungslegenden ankommt. Eine systematische Interpretation im Sinne einer Gesamtschau der im inneren Zusammenhang stehenden vergleichbaren oder ähnlichen Gebührenregelungen kommt nur bei unklaren oder mehrdeutigen Regelungen ergänzend in Betracht (BSG, SozR 3-5535 Nr. 119 Nr. 1 S. 5). Bei eindeutigem Wortlaut der Leistungslegende ist auch eine teleologische Reduktion nicht angezeigt.
Die 38. Kammer des Sozialgerichts München vertritt entgegen der Auffassung der Beklagten die Meinung, dass der Wortlaut der oben genannten Leistungslegenden auch unter Zuhilfenahme von § 21 Abs. 1 S. 9 Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) nicht eindeutig ist, da Klarheit lediglich insofern besteht, als der Krankheitsfall maximal vier Quartale umfasst. Deshalb erscheint es angezeigt, ergänzend eine teleologische Auslegung der Leistungslegenden vorzunehmen. Nachdem bei einer Mehrlingsschwangerschaft in der Regel zwei und mehr Plazentas vorliegen und die Föten unterschiedliche Chromosomensätze aufweisen, ist es in Verdachtsfällen medizinisch indiziert und wäre als Behandlungsfehler zu werten, wenn die Leistungen „Noonan-Syndrom -Mutationssuche (= GOP 11355) und „Noonan-Syndrom – weitere Gene“ (= GOP 11356) lediglich für einen Fötus, nicht aber für alle anderen Föten bei Mehrlingsschwangerschaften erbracht würden. Die Versicherte hat nach § 27 SGB V Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern.
Der Sachverhalt ist zwar nicht vergleichbar mit dem in dem von der Prozessbevollmächtigten der Klägerin zitierten Entscheidungen des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen (LSG NRW, Urteil vom 10.03.2011, Az. L 5 KR 177/10) und des Sozialgerichts Koblenz (SG Koblenz, Beschluss vom 07.06.2013, Az. S 8 KR 272/13 ER). Denn dort ging es um die Verordnungsfähigkeit eines Medikaments, während im streitgegenständlichen Verfahren die Behandlungsweise durch die Klägerin Streitgegenstand ist. Allerdings ist nicht ersichtlich, weshalb nicht auch im streitgegenständlichen Verfahren die Überlegungen des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen und des Sozialgerichts Koblenz Geltung besitzen sollten. Somit ist auch hier von einer erheblichen Regelungslücke auszugehen, die es zu schließen gilt. Vor dem Hintergrund der staatlichen Schutzpflichten für das ungeborene Leben, abgeleitet aus Art. 1 und 2 GG (vgl. BVerG, Urteil vom 18.05.1993, Az. 2 BvF 2/90) erscheint es zwingend geboten, die Erkrankung des Fötus einer entsprechenden Erkrankung der Mutter gleichzustellen. Hier bestand für das Ungeborene Lebensgefahr im Mutterleib (intrauterin), insb. die Gefahr von Herzfehlern (Pulmonalstenose). Eine nachträgliche Korrektur war nach den Angaben der Klägerin nicht möglich.
Der Staat würde seine Schutzpflichten aus Art. 1, 2 GG nur unvollständig erfüllen, würden die streitgegenständlichen pränatalen Untersuchungen lediglich auf einen Fötus bei Mehrlingsschwangerschaften begrenzt. Dies wäre auch mit Art. 3 GG nicht zu vereinbaren. Dabei kann nicht darauf verwiesen werden, die Leistungen könnten erbracht werden, nicht jedoch im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung, sondern privatärztlich. Denn es handelt sich um Leistungen, die eine relativ hohe Vergütungsforderung auslösen (GOP 11355 = € 469,70; GOP 11356 = € 4.116,59). Das Abstellen allein auf den Versichertenstatus ist kein taugliches Kriterium.
Für dieses Ergebnis spricht auch der Umstand, dass der Bewertungsausschuss nach § 87 Abs. 1 S. 1 SGB V in seiner 432. Sitzung (Teil B Ziffer 13 des Beschlusses) mit Wirkung zum 1. April 2019 eine Änderung der Präambel 11.4 Nr. 2 EBM beschlossen hat. Dort wurde folgendes festgehalten:
„Sofern die Untersuchungen als vorgeburtliche Untersuchungen erbracht werden, sind die Leistungen je Fötus gesondert berechnungsfähig und nach Maßgabe der Kassenärztlichen Vereinigungen zu kennzeichnen.“
Zur Änderung Nr. 13 wurde unter „Entscheidungserhebliche Gründe“ Teil B folgendes ausgeführt:
„Der Leistungsinhalt der Gebührenordnungspositionen insbesondere des Unterabschnitts 11.4.2 EBM beschreibt den für die Untersuchung eines Individuums notwendigen Leistungsumfang. Diese Leistungen sind auch als vorgeburtliche Untersuchungen ebenfalls nur einmal im Krankheitsfall berechnungsfähig. In dieser Konstellation werden alle Leistungen im Krankheitsfall der Mutter zugerechnet. Mit der vorliegenden Änderung wurde klargestellt, dass die Leistungen je Fötus gesondert berechnungsfähig sind, um Mehrlingsschwangerschaften zu berücksichtigen.“
Einer Klarstellung bedarf es nur dann, wenn hierfür eine Notwendigkeit besteht, wenn also die Leistungslegende nicht eindeutig ist. Dem Beschluss, insbesondere den „Entscheidungserheblichen Gründen“ Teil B ist zu entnehmen, dass selbst für den Bewertungsausschuss als den Normgeber des EBM der Wortlaut der streitgegenständlichen Gebührenordnungsziffern bislang nicht eindeutig genug war, ob bei Mehrlingsschwangerschaften auch ein mehrfacher Ansatz der GOP`s 11355 und 11356 möglich war. Aus diesem Grund sah sich der Bewertungsausschuss zu der Klarstellung mit Wirkung zum 01.04.2019 veranlasst. Nachdem es sich um eine Klarstellung handelt, der Wortlaut der Gebührenordnungspositionen aber nicht verändert wurde und nach der Abrechnungsbestimmung nach wie vor die Leistungen „einmal pro Krankheitsfall“ abrechenbar ist, kann sich die Beklagte auch nicht darauf berufen, es handle sich um eine Stichtagsregelung, die erst Wirkung zum 01.04.2019 entfalten würde.
Vor diesem Hintergrund kann den von der Beklagten zitierten Entscheidungen des Bayerischen Landessozialgerichts (BayLSG, Urteile jeweils vom 16.05.2018, Az. L 12 KA 17/16 und L 12 KA 16/16) nicht gefolgt werden; dies auch deshalb, weil Gegenstand der Entscheidungen andere Gebührenordnungspositionen waren, nämlich die GOP`s 11410, 11370, 11390 und 11391. Dabei ist einzuräumen, dass auch bei diesen Gebührenordnungsziffern eine Beschränkung auf den „Krankheitsfall“ besteht. Dass damit die Leistungslegenden eindeutig beschrieben sind und ergänzend andere Auslegungsregeln nicht heranzuziehen sind, ist aus den oben genannten Gründen nicht ersichtlich und widerspricht auch der Beschluss des Bewertungsausschusses in seiner 432. Sitzung.
Folglich waren die Bescheide insoweit aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die abgesetzten Leistungen nachzuvergüten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 VwGO.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen


Nach oben