Medizinrecht

Nächtliche Ausgangsbeschränkung in “Hotspots” infolge der Corona-Pandemie

Aktenzeichen  20 NE 20.2907

Datum:
14.12.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 34966
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 47 Abs. 6
IfSG § 28 Abs. 1, § 28a, § 32
10. BayIfSMV § 25 S. 1 Nr. 1
GG Art. 104 Abs. 2

 

Leitsatz

1. Die Untersagung des Aufenthalts außerhalb der Wohnung von 21 Uhr bis 5 Uhr (mit der Ausnahme, dass dieser gewichtigen und unabweisbaren Gründen dient) gemäß § 25 Satz 1 Nr. 1 10. BayIfSMV ist als Ausgangsbeschränkung nach § 28a Abs. 1 Nr. 3 IfSG einzuordnen. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die nächtliche Ausgangsbeschränkung dürfte sich als verhältnismäßig – also geeignet, erforderlich und angemessen – erweisen. (Rn. 31 – 42) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei summarischer Prüfung liegt auch keine Freiheitsentziehung im Sinn des Art. 104 Abs. 2 GG vor, so dass der Richtervorbehalt nicht eingreift. (Rn. 43) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Wert des Verfahrensgegenstands wird auf 10.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1. Mit seinem Eilantrag nach § 47 Abs. 6 VwGO begehrt der Antragsteller, § 25 Satz 1 Nr. 1 der Zehnten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 8. Dezember 2020 (10. BayIfSMV, BayMBl. 2020 Nr. 711, zuletzt geändert durch VO vom 10.12.2020, BayMBl. 2020 Nr. 734) vorläufig außer Vollzug zu setzen.
2. Der Antragsgegner hat am 8. Dezember 2020 durch das Staatsministerium für Gesundheit und Pflege die streitgegenständliche Verordnung erlassen, die in der geänderten Fassung auszugsweise folgenden Wortlaut hat:
㤠25
Regelungen bei einer Sieben-Tage-Inzidenz größer 200
Wird in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt der nach § 28a Abs. 3 Satz 12 IfSG bestimmte Inzidenzwert von 200 Neuinfektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen überschritten, so gilt ab dem auf die erstmalige Überschreitung folgenden Tag Folgendes:
1. Von 21 Uhr bis 5 Uhr ist der Aufenthalt außerhalb der Wohnung untersagt, es sei denn, dies ist begründet aufgrund
a) eines medizinischen oder veterinärmedizinischen Notfalls oder anderer medizinisch unaufschiebbarer Behandlungen,
b) der Ausübung beruflicher oder dienstlicher Tätigkeiten oder unaufschiebbarer Ausbildungszwecke,
c) der Wahrnehmung des Sorge- und Umgangsrechts,
d) der unaufschiebbaren Betreuung unterstützungsbedürftiger Personen und Minderjähriger,
e) der Begleitung Sterbender,
f) von Handlungen zur Versorgung von Tieren,
g) der Teilnahme an Gottesdiensten und Zusammenkünften von Glaubensgemeinschaften im Zeitraum vom 24. bis 26. Dezember 2020 oder 
h) von ähnlich gewichtigen und unabweisbaren Gründen.

Die zuständige Kreisverwaltungsbehörde hat die Überschreitung des Inzidenzwertes nach Satz 1 ortsüblich bekanntzumachen. Sie kann das Außerkrafttreten der Regelungen nach Satz 1 anordnen, wenn der in Satz 1 bestimmte Inzidenzwert seit mindestens sieben Tagen in Folge unterschritten worden ist. Die zuständige Kreisverwaltungsbehörde hat im Rahmen der zur Verfügung stehenden Testkapazität insbesondere in Einrichtungen wie Alten- und Pflegeheimen, Behinderteneinrichtungen, Krankenhäusern und Schulen freiwillige Reihentestungen durchzuführen und anzubieten.“
Die Verordnung tritt mit Ablauf des 5. Januar 2021 außer Kraft (§ 30 Satz 1 10. BayIfSMV).
3. Der Antragsteller lebt und arbeitet in München. Er trägt vor, durch das Ausgangsverbot am nächtlichen Joggen und der Anfahrt zu seiner Nebenwohnung beschränkt zu sein. Bei der Regelung handle es sich um eine echte Ausgangssperre, die nicht als „Aufenthaltsbeschränkung“ i.S.d. § 28 Abs. 1 Nr. 3 IfSG einzuordnen sei. Der Verordnungsgeber habe das Stufenprinzip des § 28 Abs. 2 IfSG missachtet, weil er es versäumt habe, zuvor die gleichzeitig eingeführten Maßnahmen in Hotspots (Ausgangsbeschränkung, Schutzbedingungen für Alten- und Pflegeheime, Wechselunterricht an Schulen) zu evaluieren. Da die Infektionszahlen nicht anstiegen, sondern sich „seitwärts“ bewegten, sei auch ohne die Maßnahme eine wirksame Eindämmung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 nicht erheblich gefährdet. Auf die Generalklausel des § 28 Abs. 1 IfSG ließe sich die Maßnahme nicht stützen, weil sonst der Adressatenkreis des § 30 IfSG (Beschränkung auf Störer) umgangen würde. Die Ausgangssperre sei eine unzulässige Freiheitsentziehung nach Art. 104 Abs. 2 GG, die nur durch einen Richter angeordnet werden könnte. Die Maßnahme sei unverhältnismäßig. Da nachts ohnehin viele Menschen zuhause seien, könne sie nicht zum Infektionsschutz beitragen. Die damit verbundenen negativen Auswirkungen für Psyche und Gesundheit der betroffenen Personen mache sie unverhältnismäßig. Die Regelung sei auch sachwidrig, weil der nächtliche Spaziergang mit dem Hund erlaubt, der Spaziergang seiner schwangeren Frau und sein Joggen aber untersagt seien. Auch eine Folgenabwägung fiele zu seinen Gunsten aus, da die Ausgangssperre seine nächtliche Bewegungsfreiheit völlig beseitige und den denkbar schwerwiegendsten Grundrechtseingriff darstelle, aber zur Infektionsbekämpfung wenig nütze.
4. Der Antragsgegner tritt dem Antrag entgegen und beantragt dessen Ablehnung. Die Maßnahme sei rechtlich als „Ausgangsbeschränkung“ i.S.d. § 28a Abs. 1 Nr. 3 zu qualifizieren, auch wenn sie vom Kabinett plakativ – in Abgrenzung zur allgemeinen Ausgangsbeschränkung (§ 3 10. BayIfSMV) – als „Ausgangssperre“ genannt worden sei. Die Voraussetzungen des § 28a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 IfSG lägen vor. Der Verordnungsgeber müsse nicht erst andere Maßnahmen ausprobieren, zumal er die Wirkung lokaler Ausgangsbeschränkungen in Hotspots beobachtet habe. Die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems sei nicht nur bei einem exponentiellen Anstieg, sondern auch bei einer Seitwärtsbewegung der Infektionszahlen gefährdet. Die Ausgangsbeschränkung erreiche nicht die für eine Freiheitsentziehung vorausgesetzte Intensität. Für freiheitsbeschränkende Maßnahmen liege mit § 28 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 28a Abs. 1 Nr. 3 IfSG ein förmliches Gesetz vor (vgl. auch § 28 Abs. 1 Satz 4 IfSG). Die „Ausgangssperre“ bei einer Inzidenz von mehr als 200 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern innerhalb von sieben Tagen sei auch nicht unverhältnismäßig. Die Maßnahme sei geeignet, um gesellige Zusammenkünfte im öffentlichen Raum einzuschränken. Die Maßnahme sei auch erforderlich und angemessen. Eine negative Wirkung auf Psyche und Gesundheit könne nicht unterstellt werden; vielen Menschen dürften nächtliche Ausgangsbeschränkungen nicht allzu viel ausmachen. Auch eine Folgenabwägung ginge angesichts der angespannten Situation in den bayerischen Krankenhäusern – vor allem auf Intensivstationen – zulasten des Antragstellers aus.
5. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag hat in der Sache keinen Erfolg.
Die Voraussetzungen des § 47 Abs. 6 VwGO, wonach das Normenkontrollgericht eine einstweilige Anordnung erlassen kann, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist, liegen nicht vor. Die Erfolgsaussichten eines Normenkontrollantrags in der Hauptsache gegen § 25 Satz 1 Nr. 1 10. BayIfSMV sind unter Anwendung des Prüfungsmaßstabs im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO (1.) bei der nur möglichen summarischen Prüfung voraussichtlich nicht gegeben (2.). Eine Folgenabwägung geht zudem zulasten des Antragstellers aus (3.).
1. Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache anhängigen Normenkontrollantrags, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen (BVerwG, B.v. 25.2.2015 ‒ 4 VR 5.14 u.a. ‒ ZfBR 2015, 381 – juris Rn. 12; zustimmend OVG NW, B.v. 25.4.2019 – 4 B 480/19.NE – NVwZ-RR 2019, 993 – juris Rn. 9). Dabei erlangen die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags eine umso größere Bedeutung für die Entscheidung im Eilverfahren, je kürzer die Geltungsdauer der in der Hauptsache angegriffenen Normen befristet und je geringer damit die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Entscheidung über den Normenkontrollantrag noch vor dem Außerkrafttreten der Normen ergehen kann. Das muss insbesondere dann gelten, wenn – wie hier – die in der Hauptsache angegriffenen Normen in quantitativer und qualitativer Hinsicht erhebliche Grundrechtseingriffe enthalten oder begründen, sodass sich das Normenkontrollverfahren (ausnahmsweise) als zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG geboten erweisen dürfte.
Ergibt demnach die Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag zulässig und (voraussichtlich) begründet sein wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten nicht absehen, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die begehrte Außervollzugsetzung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber später Erfolg hätte, und die Folgen, die entstünden, wenn die begehrte Außervollzugsetzung erlassen würde, der Normenkontrollantrag aber später erfolglos bliebe. Die für eine einstweilige Außervollzugsetzung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, also so schwer wiegen, dass sie – trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache – dringend geboten ist (vgl. BVerwG, B.v. 25.2.2015 – 4 VR 5.14 u.a. – ZfBR 2015, 381 – juris Rn. 12).
2. Nach diesen Maßstäben sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache bei der nur möglichen, aber ausreichenden summarischen Prüfung (vgl. BVerwG, B.v. 25.2.2015 – 4 VR 5.14 – ZfBR 2015, 381 – juris Rn. 14) voraussichtlich nicht gegeben.
a) Der Senat geht im einstweiligen Rechtsschutzverfahren davon aus, dass die angegriffene Maßnahme nach § 25 Satz 1 Nr. 1 10. BayIfSMV in § 28 Abs. 1, § 28a Abs. 1 Nr. 3 (Ausgangsbeschränkung) i.V.m. der Verordnungsermächtigung nach § 32 Satz 1 IfSG eine verfassungsgemäße Rechtsgrundlage hat. Auf die Ausführungen im Beschluss vom 8. Dezember 2020 (Az. 20 NE 20.2461, vgl. dort Rn. 22 ff., abrufbar unter https://www.vgh.bayern.de/media/bayvgh/presse/20a02461b.pdf) wird insoweit zur Vermeidung von Wiederholungen vollinhaltlich Bezug genommen.
b) § 25 Satz 1 Nr. 1 10. BayIfSMV dürfte auch materiell rechtmäßig sein, denn er hält sich bei summarischer Prüfung an die gesetzlichen Vorgaben des § 28a IfSG.
aa) Die Maßnahme in § 25 Satz 1 Nr. 1 10. BayIfSMV stellt eine „Ausgangsbeschränkung“ im öffentlichen Raum im Sinne des § 28a Abs. 1 Nr. 3 IfSG dar. Die gegenteilige Auffassung des Antragstellers, es handle sich um eine „Ausgangssperre“, die nicht von der bundesgesetzlichen Ermächtigungsgrundlage umfasst wäre, geht fehl.
Maßgebend für die Auslegung einer Norm ist der in ihr zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, wie er sich aus dem Wortlaut und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den sie hineingestellt ist (vgl. BVerfG, U.v. 30.3.2004 – 2 BvR 1520/01 u.a. – BVerfGE 110, 226 – juris Rn. 91; BVerwG, U.v. 25.1.2017 – 9 C 30.15 – BVerwGE 157, 203 – juris Rn. 14). Für die Erfassung des objektiven Willens des Normgebers sind alle anerkannten Auslegungsmethoden heranzuziehen, d.h. die grammatikalische, systematische, teleologische und historische Auslegung. Diese Methoden ergänzen sich gegenseitig, wobei keine einen unbedingten Vorrang vor einer anderen hat (vgl. BVerfG, B.v. 31.03.2016 – 2 BvR 1576/13 – NVwZ-RR 2016, 521 – juris Rn. 63 m.w.N.). Ausgangspunkt der Auslegung ist der Wortlaut der Vorschrift. Dieser ergibt allerdings nicht immer hinreichende Hinweise auf den Willen des Gesetzgebers. Unter Umständen wird erst im Zusammenhang mit Sinn und Zweck des Gesetzes oder anderen Auslegungsgesichtspunkten die im Wortlaut ausgedrückte, vom Gesetzgeber verfolgte Regelungskonzeption deutlich, der sich der Richter nicht entgegenstellen darf (vgl. BVerfG, B.v. 26.8.2014 – 2 BvR 2172/13 – EuGRZ 2014, 646 – juris Rn. 16).
Ausgehend davon ist die Untersagung des Aufenthalts außerhalb der Wohnung von 21 Uhr bis 5 Uhr (mit der Ausnahme, dass dieser gewichtigen und unabweisbaren Gründen dient) als Ausgangsbeschränkung nach § 28a Abs. 1 Nr. 3 IfSG einzuordnen. Der Katalog „gewichtiger“ und „unabweisbarer Gründe“, in denen § 25 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a bis h 10. BayIfSMV einen nächtlichen Aufenthalt außerhalb der Wohnung zulässt, ist nicht derart eng, dass die Regelung aus Sicht der Normadressaten als „Sperre“ des Ausgangs zu verstehen wäre. Für den Wortsinn einer „Sperre“ ist nach dem allgemeinen Sprachgebrauch prägend, dass ein Handeln unmöglich gemacht oder unterbunden wird. Die Untersagung des Verlassens der privaten Wohnung, die dennoch jede berufliche oder dienstliche Tätigkeit und z.B. auch Handlungen zur Versorgung von Tieren zulässt, kann nach diesem Wortsinn nicht als „Ausgangssperre“ im Rechtssinn begriffen werden. Dass die Maßnahme in der Begründung der Verordnung zur Änderung der 10. BayIfSMV vom 10. Dezember 2020 (BayMBl. 2020 Nr. 735 als „Ausgangssperre“ bezeichnet wird, ändert daran nichts. Vielmehr sollte damit offenbar das nächtliche Ausgangsverbot in „Hotspots“ von der allgemeinen Ausgangsbeschränkung (§ 3 10. BayIfSMV), die nur „triftige Gründe“ für das Verlassen der Wohnung verlangt, abgegrenzt werden. Dies entspricht der im politischen Raum verwendeten Terminologie (vgl. Dringlichkeitsantrag vom 8.12.2020, LT-Drs. 18/11872; Bericht aus der Kabinettssitzung vom 6.12.2020, vgl. https://www.bayern.de/berichtausderkabinettssitzungvom-6-dezember-2020/), die für die rechtliche Qualifikation der Maßnahme nicht ausschlaggebend ist.
Dass der Gesetzgeber derartige Maßnahmen als „Ausgangsbeschränkung“ i.S.d. § 28a Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 IfSG versteht, zeigen auch die Gesetzgebungsmaterialien. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit des Deutschen Bundestags vom 16. November 2020 stellen fest: „Die Anordnung einer Ausgangsbeschränkung nach Absatz 1 Nummer 3, wonach das Verlassen des privaten Wohnbereichs nur zu bestimmten Zeiten oder Zwecken zulässig ist, ist aufgrund der erheblichen Eingriffsintensität in Individualgrundrechte nur nach den qualifizierten Voraussetzungen nach Absatz 2 Satz 1 möglich.“ (vgl. BT-Drs. 19/24334 S. 81).
Auch der Sinn und Zweck der Ausgangs- oder Kontaktbeschränkungen nach § 28a Abs. 1 Nr. 3 IfSG sprechen dafür, nächtliche Ausgangsverbote wie § 25 Satz 1 Nr. 1 10. BayIfSMV als „Ausgangsbeschränkung“ zu verstehen. Mit dem Regelbeispiel zielt der Gesetzgeber darauf ab, physische Kontakte zwischen den Menschen, die potenziell zu einer Infektion führen, systematisch zu reduzieren (vgl. BT-Drs. 19/23944 S. 27). In diesem Sinn bezweckt die angegriffene Maßnahme insbesondere, die Möglichkeiten geselliger Zusammenkünfte in der Freizeit weiter einzuschränken (vgl. Begründung der 10. BayIfSMV vom 8.12.2020, BayMBl. 2020 Nr. 712, S. 6).
bb) Die streitgegenständliche Ausgangsbeschränkung dient dem Schutz von Leben und Gesundheit und der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems (§ 28a Abs. 3 Satz 1 IfSG). Sie erfolgt, um Kontakte zu reduzieren. Immer dann, wenn Menschen aufeinandertreffen und sich austauschen, ist das Risiko einer Ansteckung besonders groß. Die bisherigen Erfahrungen in der Bundesrepublik und in anderen Staaten zeigen, dass die exponentiell verlaufende Verbreitung des besonders leicht im Wege der Tröpfcheninfektion und über Aerosole von Mensch zu Mensch übertragbaren Virus nur durch eine strikte Minimierung der physischen Kontakte zwischen den Menschen eingedämmt werden kann. Daher müssen Kontakte, die potenziell zu einer Infektion führen, zeitweise systematisch reduziert werden. Die Ausgangsbeschränkung ist hierzu geeignet, wie die erste Welle der Pandemie gezeigt hat (vgl. BT-Drs. 19/23944 S. 27).
cc) Auch einen Verstoß der Maßnahme gegen § 28a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 IfSG vermag der Senat nicht zu erkennen. Hiernach ist die Anordnung einer Ausgangsbeschränkung nach § 28a Abs. 1 Nr. 3 IfSG, nach der das Verlassen des privaten Wohnbereichs nur zu bestimmten Zeiten oder zu bestimmten Zwecken erlaubt ist, nur zulässig, soweit auch bei Berücksichtigung aller bisher getroffenen anderen Schutzmaßnahmen eine wirksame Eindämmung der Verbreitung von COVID-19 erheblich gefährdet wäre.
Mit dieser Regelung wollte der Gesetzgeber Schutzmaßnahmen im Hinblick auf ihre spezifische Eingriffsintensität grundrechtsdeterminiert eingrenzen (vgl. BT-Drs. 19/24334 S. 80). Die Regelung betont das Gebot der Erforderlichkeit der Maßnahme, indem sie klarstellt, dass von besonders grundrechtsintensiven Maßnahmen erst dann Gebrauch gemacht werden darf, wenn mildere Mittel zur wirksamen Eindämmung der Verbreitung von COVID-19 nicht ebenso erfolgversprechend sind (vgl. hierzu allgemein etwa BVerfG, B.v. 8.3.2011 – 1 BvR 47/05 – NVwZ 2011, 743 – juris Rn. 21; BayVerfGH, E.v. 29.10.2018 – Vf. 21-VII-17 – BayVBl 2019, 374 – juris Rn. 47).
(1) Die Frage, ob eine wirksame Eindämmung der Verbreitung von COVID-19 ohne die Ausgangsbeschränkung erheblich gefährdet wäre, verlangt eine auf die jeweilige Pandemiesituation abstellende Gefährdungsprognose des Verordnungsgebers, der eine exante Betrachtung zugrunde liegt (vgl. BayVGH, B.v. 11.11.2020 – 20 NE 20.2485 – juris Rn. 25; OVG NW, B.v. 27.8.2020 – 13 B 1220/20.NE – juris Rn. 37). Die der 10. BayIfSMV zugrundeliegende Gefährdungsprognose erweist sich in Anbetracht der aktuell sehr angespannten Pandemielage nicht als rechtsfehlerhaft.
Anlass für die erneute Verschärfung in Gestalt der 10. BayIfSMV ist die sich fortsetzende Stagnation des Infektionsgeschehens auf sehr hohem Niveau mit vereinzelt regionalen Sieben-Tage-Inzidenzwerten von über 500. Die bisher ergriffenen Maßnahmen (u. a. „Lockdown Light“ und „Hotspotstrategie“) haben keinen Rückgang der Fallzahlen herbeigeführt. Das Ziel einer Sieben-Tage-Inzidenz von 50 Fällen pro 100.000 Einwohner ist damit weiterhin unerreicht (vgl. Begründung der 10. BayIfSMV vom 8.12.2020, BayMBl. 2020 Nr. 712, S. 1). Die Erforderlichkeit weiterer Verschärfungen wird auf die sehr hohe und über dem Bundesdurchschnitt (147) liegende Sieben-TageInzidenz für Bayern von 177 (jeweils am 8.12.2020), den starken Anstieg der COVID- 19-Patienten in bayerischen Krankenhäusern (Anstieg der mit COVID-19-Erkrankten belegten Intensivbetten von 133 am 28.10.2020 auf aktuell 657), den starken Anstieg der Todesfälle durch und mit COVID-19 (106 neue Fälle am 3.12.2020) und das weiter zu starke, diffuse Infektionsgeschehen mit zahlreichen regionalen Hotspots gestützt. Bei seiner prognostischen Einschätzung kommt der Verordnungsgeber zu dem Schluss, dass nur durch eine weitere Verschärfung der Maßnahmen gewährleistet werden könne, dass es zu dem erforderlichen spürbaren und dauerhaften Rückgang der Infektionszahlen kommt, um das Gesundheitssystem vor einer Überlastung zu schützen, welche wiederum Todesfälle infolge nicht mehr hinreichender Behandlungskapazitäten erwarten ließe. Diese negativen Auswirkungen könnten nur durch die vorliegend getroffenen Maßnahmen verhindert werden (vgl. Begründung der 10. BayIfSMV vom 8.12.2020, a.a.O., S. 2). Speziell in Hotspots mit Sieben-TageInzidenzen (pro 100.000 Einwohner) über 200 geht er davon aus, dass eine wirksame Eindämmung der Verbreitung von COVID-19 durch alle andere Maßnahmen nicht zielführend ist und eine Ausgangsbeschränkung, die insbesondere die Möglichkeiten geselliger Zusammenkünfte in der Freizeit weiter einschränkt, erforderlich ist, um dieses Ziel nicht zu gefährden (vgl. Begründung der 10. BayIfSMV, a.a.O., S. 6).
(2) Diese Gefahrenprognose ist bei einer exante Betrachtung nicht zu beanstanden. Soweit der Antragsteller einwendet, eine wirksame Eindämmung der Verbreitung von COVID-19 sei nicht erheblich gefährdet, solange die Infektionszahlen nicht anstiegen, sondern sich „seitwärts“ bewegten, verkennt er die Erfordernisse eines effektiven Infektionsschutzes. Eine solche Interpretation des Gesetzeswortlauts würde dazu führen, dass eine Intensivierung von Maßnahmen nur zum Abbremsen bzw. der Stabilisierung des Infektionsgeschehens, nicht aber zu deren Absenkung (von einem hohen Niveau) erfolgen dürfte. Dies widerspräche der in § 28a Abs. 3 IfSG normierten Prämisse, dass Entscheidungen über Schutzmaßnahmen insbesondere an dem Schutz von Leben und Gesundheit und der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems auszurichten sind. Beides ist nicht nur durch ansteigende Infektionszahlen, sondern auch durch ein stabiles Infektionsgeschehen auf zu hohem Niveau gefährdet, zumal das Infektionsgeschehen schnell kippen und es wieder zu einem exponentiellen Wachstum der Neuinfektionen in Deutschland kommen kann.
Der Verordnungsgeber war entgegen der Auffassung des Antragstellers auch nicht gezwungen, erst die Auswirkungen der weiteren mit der 10. BayIfSMV neu eingeführten oder intensivierten Maßnahmen auf das Infektionsgeschehen zu beobachten, bevor er Ausgangsbeschränkungen nach § 28a Abs. 1 Nr. 3 IfSG anordnet. Allein maßgeblich ist, dass bei Verordnungserlass absehbar ist, dass die Ausgangsbeschränkung – neben anderen Maßnahmen (Gesamtkonzept) – notwendig ist, um die Verbreitung von COVID-19 wirksam einzudämmen (vgl. auch § 28a Abs. 6 Satz 1 IfSG). Im Übrigen konnte (nur) mit den bisher geltenden Kontaktbeschränkungen, die als mildere Mittel zur Ausgangsbeschränkung eingeordnet werden können (vgl. auch BayVerfGH, E.v. 8.5.2020 – Vf. 34-VII-20 – juris Rn. 116), keine Reduzierung der Neuansteckungen mit dem neuartigen Coronavirus in der Bevölkerung erreicht werden. Inzwischen haben die Bundeskanzlerin und die Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder am 13. Dezember 2020 in diesem Sinn beschlossen, dass lokale Maßnahmen nach § 28a Abs. 2 IfSG, darunter weitgehende Ausgangsbeschränkungen, spätestens erwogen werden sollen, wenn die Inzidenz von über 200 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern pro Woche überschritten wird (vgl. unter Nr. 12, https://www.bundesregierung.de/resource/blob/997532/1827366/69441fb68435a719 9b3d3a89bff2c0e6/2020-12-13-beschlussmpkdata.pdf?download=1).
dd) Die nächtliche Ausgangsbeschränkung dürfte sich auch sonst als verhältnismäßig – also geeignet, erforderlich und angemessen – erweisen.
(1) Zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit ist nach dem Willen des Gesetzgebers, der in § 28a Abs. 3 IfSG zum Ausdruck kommt, ein gestuftes Vorgehen geboten, das sich an dem tatsächlichen regionalen Infektionsgeschehen orientieren soll (vgl. BT-Drs. 19/23944 S. 31). Bei Überschreitung eines Schwellenwertes von über 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen sind umfassende Schutzmaßnahmen zu ergreifen, die eine effektive Eindämmung des Infektionsgeschehens erwarten lassen (§ 28a Abs. 3 Satz 5 IfSG). Bei einer landesweiten Überschreitung eines Schwellenwertes von über 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen sind landesweit abgestimmte umfassende, auf eine effektive Eindämmung des Infektionsgeschehens abzielende Schutzmaßnahmen anzustreben (§ 28a Abs. 3 Satz 10 IfSG). Mit einer landesweiten Inzidenz von 177 bei Verordnungserlass, die sich im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats im Wesentlichen nicht verändert hat, bestand und besteht hiernach akuter Handlungsbedarf zur effektiven Eindämmung des Infektionsgeschehens. Gleichwohl wurde die Ausgangsbeschränkung nur in sog. Hotspots mit einer Inzidenz von 200, der über dem landesweiten Wert liegt, angeordnet. Dies entspricht dem gebotenen – am regionalen Infektionsgeschehen orientierten – abgestuften Vorgehen. Dass der Schwellenwert von 200 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner pro Woche nicht in § 28a Abs. 3 IfSG vorgesehen ist, ändert daran nichts.
(2) Die Ausgangsbeschränkung ist auch geeignet, den mit ihr verfolgten Zweck, die Ausbreitung von COVID-19 einzudämmen und eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden, zu fördern. Die Eignung eines Mittels zur Erreichung eines Gemeinwohlziels im Sinne des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist bereits dann gegeben, wenn mit seiner Hilfe der gewünschte Erfolg gefördert werden kann (BVerfG, B.v. 27.1.2011 – 1 BvR 3222/09 – NJW 2011, 1578 – juris Rn. 38), also die Möglichkeit einer Zweckerreichung besteht (vgl. BVerfG, U.v. 30.7.2008 – 1 BvR 3262/07 u.a. – BVerfGE 121, 317 – juris Rn. 114). Dies ist bei Ausgangsbeschränkungen der Fall, auch wenn sie während der Nachtzeit deutlich weniger Menschen betreffen. Die Erwartung des Verordnungsgebers, damit vor allem besonders infektionsgefährdende gesellige Zusammenkünfte zu unterbinden, ist insbesondere im Hinblick auf den erheblichen Beitrag privater Feiern zum Infektionsgeschehen in den vergangenen Monaten plausibel.
(3) Die angegriffene Ausgangsbeschränkung erweist sich voraussichtlich auch nicht als unangemessen. Die Folgen für die Normbetroffenen stehen nicht außer Verhältnis zum angestrebten Zweck der Maßnahme. Bei der Entscheidung über die Schutzmaßnahmen hat der Verordnungsgeber auch soziale, gesellschaftliche und wirtschaftliche Auswirkungen auf den Einzelnen und die Allgemeinheit einbezogen und berücksichtigt, soweit dies mit dem Ziel einer wirksamen Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) vereinbar ist (vgl. § 28a Abs. 6 Satz 2 IfSG). Dass sich der Verordnungsgeber hieran orientiert hat, zeigt bereits der Katalog der Ausnahmetatbestände, bei denen ein Verlassen der Wohnung zwischen 21 Uhr und 5 Uhr möglich bleibt, der durch einen Auffangtatbestand „ähnlich gewichtiger und unabweisbarer Gründe“ (§ 25 Satz 1 Nr. 1 Buchst. h IfSG) abgerundet wird.
Der Antragsteller ist durch die angegriffene Ausgangsbeschränkung in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG beeinträchtigt und in seiner Bewegungsfreiheit beschränkt (vgl. hierzu näher unten Rn. 43 f.). Da die nächtliche Ausgangsbeschränkung nur in Landkreisen und kreisfreien Städten mit einer SiebenTage-Inzidenz von über 200 gilt, überwiegen die öffentlichen Interessen an einer Eindämmung des dortigen drastischen Infektionsgeschehens, um Gefahren für Leib und Leben der Bevölkerung (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) abzuwenden. Die zeitlich befristete Einschränkung der Möglichkeit der Normbetroffenen, sich zwischen 21 Uhr und 5 Uhr nicht ohne gewichtigen Grund außerhalb ihrer Wohnung aufzuhalten, erweist sich demgegenüber voraussichtlich nicht als unangemessen.
c) Bei summarischer Prüfung liegt auch keine Freiheitsentziehung im Sinn des Art. 104 Abs. 2 GG vor, so dass der Richtervorbehalt nicht eingreift. Das Bundesverfassungsgericht grenzt Freiheitsbeschränkung (Art. 104 Abs. 1 GG) und Freiheitsentziehung (Art. 104 Abs. 2 GG) nach der Intensität des Eingriffs ab. Eine Freiheitsbeschränkung liegt vor, wenn jemand durch die öffentliche Gewalt gegen seinen Willen daran gehindert wird, einen Ort aufzusuchen oder sich dort aufzuhalten, der ihm an sich (tatsächlich und rechtlich) zugänglich ist. Der Tatbestand der Freiheitsentziehung kommt nur in Betracht, wenn die – tatsächlich und rechtlich an sich gegebene – körperliche Bewegungsfreiheit nach jeder Richtung hin aufgehoben wird (BVerfG, B.v. 15.5.2002 – 2 BvR 2292/00 – BVerfGE 105, 239 – juris Rn. 23). Gemeinsames Merkmal der Freiheitsentziehung im oben genannten Sinn ist die Beeinträchtigung der Bewegungsfreiheit durch physischen Zwang. Hiervon ausgehend schützt das im Grundgesetz verbürgte Grundrecht auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) nur gegen Maßnahmen des (unmittelbaren) Zwangs (vgl. BVerfG, U.v. 24.7.2018 – 2 BvR 309/15 u.a. – BVerfGE 149, 293 – juris Rn. 65; B.v. 15.05.2002 – 2 BvR 2292/00 – BVerfGE 105, 239 – juris Rn. 22; vgl. hierzu auch Di Fabio in Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Stand April 2020, Art. 2 Abs. 2 Satz 2 Rn. 31 und 38).
Unter Anwendung dieser Maßstäbe stellt sich die Ausgangsbeschränkung in § 25 Satz 1 Nr. 1 10. BayIfSMV nicht als Freiheitsentziehung nach Art. 104 Abs. 2 GG dar. Die Ausgangsbeschränkung erstreckt sich nur auf die Zeit von 21 Uhr bis 5 Uhr, also einen Zeitraum, zu dem – wie der Antragsteller selbst zugesteht – die meisten Menschen in den Wintermonaten ohnehin in ihrer Wohnung verbringen. Das Ausgangsverbot gilt auch nicht absolut, sondern enthält zahlreiche Ausnahmen. Dass nicht jede Tätigkeit – wie das Joggen oder ein Spaziergang – hierunter fällt, führt nicht zu einer Freiheitsentziehung. Der Ausnahmekatalog „gewichtiger und unabweisbarer Gründe“, die ein Verlassen der Wohnung erlauben, lässt nicht die Annahme zu, dass die körperliche Bewegungsfreiheit nach jeder Richtung hin aufgehoben wäre (vgl. oben Rn. 43). Auch eine Bewachung der betroffenen Personen erfolgt nicht, sodass diese nicht die wirksam daran gehindert wären, ihre Wohnung zu verlassen. Dass dies ohne Glaubhaftmachung eines gewichtigen und unabweisbaren Grundes den Ordnungswidrigkeitstatbestand des § 29 Nr. 19 10. BayIfSMV erfüllt, ändert daran nichts.
Soweit mit der Maßnahme die Bewegungsfreiheit beschränkt wird, weil Betroffene durch die öffentliche Gewalt ggf. gegen ihren Willen daran gehindert werden, einen Ort aufzusuchen oder sich dort aufzuhalten, der ihnen an sich (tatsächlich und rechtlich) zugänglich ist, geschieht dies gemäß Art. 104 Abs. 1 Satz 1 auf Grund eines förmlichen Gesetzes (§ 28 Abs. 1 Satz 1 und Satz 4, § 28a Abs. 1 Nr. 3 IfSG).
3. Aber selbst wenn man von offenen Erfolgsaussichten in der Hauptsache ausginge, würde die im Rahmen des Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vorzunehmende Folgenabwägung ergeben, dass die Interessen der Gesamtbevölkerung am Schutz von Leib und Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) die Interessen des Antragstellers an einem Aufenthalt außerhalb seiner Wohnung zwischen 21 Uhr und 5 Uhr (Art. 2 Abs. 1 GG), z.B. zur sportlichen Betätigung im Freien, überwiegen.
Das pandemische Geschehen hat sich erheblich verstärkt. Nach dem Situationsbericht des Robert-Koch-Instituts (RKI) vom 13. Dezember 2020 (vgl. abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/D ez_2020/2020-12-13-de.pdf? _blob=publicationFile) ist weiterhin eine hohe Anzahl an Übertragungen in der Bevölkerung in Deutschland zu beobachten. Die Inzidenz der letzten sieben Tage liegt deutschlandweit bei 169 Fällen pro 100.000 Einwohner. In Sachsen liegt sie mehr als doppelt hoch, in Baden-Württemberg und Bayern deutlich, in Berlin, Hessen und Thüringen leicht über der Gesamtinzidenz. Seit Anfang September nimmt der Anteil älterer Personen unter den COVID-19-Fällen wieder zu. Die Sieben-Tage-Inzidenz bei Personen ≥ 60 Jahre liegt bei aktuell 157 Fällen pro 100.000 Einwohner. Die hohen bundesweiten Fallzahlen werden verursacht durch zumeist diffuse Geschehen, mit zahlreichen Häufungen insbesondere in Haushalten sowie in Alten- und Pflegeheimen, aber auch in beruflichen Settings, in Gemeinschaftseinrichtungen und ausgehend von religiösen Veranstaltungen. Für einen großen Anteil der Fälle kann das Infektionsumfeld nicht ermittelt werden. Nach dem starken Anstieg der intensivmedizinisch behandelten COVID-19-Fälle bis Mitte November (von 879 Fällen am 20.10 [abrufbar unter https://www.divi.de/diviintensivregistertagesreportarchiv] auf 3.615 Fälle am 20. November 2020), hat sich dieser mittlerweile etwas verlangsamt, die Gesamtzahl steigt aber derzeit weiter an (4.552 Fälle am 13.12.2020). Am 13. Dezember 2020 wurden dem RKI im Vergleich zum Vortag 20.200 neue Fälle und 321 neue Todesfälle übermittelt. Die Risikobewertung des RKI wurde angepasst. Das RKI schätzt nunmehr die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland insgesamt als sehr hoch ein (vgl. Risikobewertung vom 11.12.2020, abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.htm).
In dieser Situation ergibt die Folgenabwägung, dass die zu erwartenden Folgen einer Außervollzugsetzung der angegriffenen Normen – im Hinblick auf die damit einhergehende mögliche Eröffnung weiterer Infektionsketten – schwerer ins Gewicht fallen als die Folgen ihres weiteren Vollzugs für die Handlungsfreiheit des Antragstellers. Gegenüber den somit bestehenden Gefahren für Leib und Leben, vor denen zu schützen der Staat nach dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichtet ist, müssen die Interessen der von den Ausgangsbeschränkungen Betroffenen derzeit zurücktreten (vgl. auch BVerfG, B.v. 15.7.2020 – 1 BvR 1630/20 – juris Rn. 25; BayVerfGH, E.v. 12.8.2020 – Vf.-34-VII-20 – juris Rn. 24 m.w.N.; BVerfG, B.v. 11.11.2020 – 1 BvR 2530/20 – juris Rn. 12 ff.).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Gegenstandswertes ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG. Da die von dem Antragsteller angegriffene Verordnung bereits mit Ablauf des 5. Januar 2021 außer Kraft tritt (§ 30 Satz 1 10. BayIfSMV), zielt der Eilantrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, weshalb eine Reduzierung des Gegenstandswertes für das Eilverfahren auf der Grundlage von Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit hier nicht angebracht ist.


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