Medizinrecht

Nichtbescheidung eines Antrags nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG

Aktenzeichen  L 17 U 340/18

Datum:
5.6.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 14353
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGG § 106, § 109, § 159 Abs. 1 Nr. 2
ZPO § 295 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Die Nichtbescheidung eines Antrags nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG begründet einen Verfahrensfehler. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
2. Auch wenn ein schriftsätzlich gestellter Antrag nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG in der mündlichen Verhandlung nicht nochmals ausdrücklich wiederholt wird, ist über den Antrag zu entscheiden; ein Rügeverlust nach § 295 Abs. 1 ZPO tritt nicht ein. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Nichtbescheidung eines Antrags nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG stellt einen wesentlichen Mangel dar, der das Landessozialgericht zu einer Zurückverweisung an das Sozialgericht berechtigen kann. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 13 U 293/17 2018-08-01 Urt SGWUERZBURG SG Würzburg

Tenor

I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 01.08.2018 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht Würzburg zurückverwiesen.
II. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der endgültigen Entscheidung in der Hauptsache vorbehalten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Der Senat konnte gem. § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, da die Beteiligten mit Schriftsätzen vom 24.04.2019 bzw. vom 06.05.2019 ihr Einverständnis hierzu erteilt haben.
1. Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist auch im Übrigen zulässig (§§ 143, 144, 151 SGG). Gegenstand des vorliegenden Verfahrens sind die Bescheide vom 19.05.2015 und vom 15.11.2017 (Widerspruchsbescheid), mit denen die Beklagte die Gewährung einer Verletztenrente wegen des Arbeitsunfalls des Klägers vom 19.02.1985 abgelehnt hat.
2. Die Berufung ist im Sinne einer Aufhebung des angegriffenen Urteils vom 01.08.2018 und einer Zurückverweisung der Sache an das SG auch begründet.
Rechtsgrundlage für die Entscheidung, das Urteil des SG aufzuheben und zurückzuverweisen, ist § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG. Hiernach kann das Landessozialgericht die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und aufgrund dieses Mangels eine umfassende und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist. Das Verfahren vor dem SG leidet an einem wesentlichen Mangel, denn das SG hat über den Antrag des Klägers auf gutachtliche Anhörung eines bestimmten Arztes – zuletzt war Dr. D. S., L-Stadt, benannt – nach § 109 SGG (zu § 109 SGG als Sonderregelung zu § 103 S. 2 SGG für das Recht der Beweiserhebung durch Sachverständige siehe BSG, Urteil vom 20.04.2010 – B 1/3 KR 22/08 R, juris Rn. 16; Urteil vom 14.03.1956 – 9 RV 226/54, juris Rn. 10 f.) nicht entschieden.
Nach § 109 Abs. 1 S. 1 SGG muss auf Antrag des Versicherten, des behinderten Menschen, des Versorgungsberechtigten oder Hinterbliebenen ein bestimmter Arzt gutachtlich gehört werden. Die Anhörung kann davon abhängig gemacht werden, dass der Antragsteller die Kosten vorschießt und vorbehaltlich einer anderen Entscheidung des Gerichts endgültig trägt (S. 2).
Der Antrag nach § 109 muss beschieden werden, er darf nicht übergangen werden. Über den Antrag kann durch nicht beschwerdefähigen Beschluss oder in den Entscheidungsgründen des Urteils entschieden werden; eine Ablehnung ist zu begründen (siehe dazu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage, § 109 Rn. 17a m.w.N.).
Der Kläger hat im erstinstanzlichen Verfahren die Anhörung des Arztes und Neurologen Dr. D. S., L-Stadt beantragt. Über den Antrag hat das SG verfahrensfehlerhaft nicht entschieden.
Der Senat kann dahingestellt sein lassen, ob das SG verfahrensgerecht über den mit Schriftsätzen des Klägers vom 15.05.2018 und vom 18.06.2018 zunächst gestellten Antrag nach § 109 SGG entschieden hat. Es erscheint allerdings äußerst fraglich, ob das gerichtliche Schreiben vom 21.07.2018, das auf richterliche Anordnung durch die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle erfolgt ist, die Voraussetzungen eines förmlichen Beschlusses nach § 109 SGG erfüllt. Denn ein solcher Beschluss ist vom Vorsitzenden zu unterschreiben (vergleiche § 142 Abs. 1 i.V.m. § 134 Abs. 1 SGG), was vorliegend nicht erfolgt ist. Im Übrigen hätte vor eine Ablehnung des Antrags nach § 109 SGG zunächst im Rahmen der Aufklärungs- bzw. Fürsorgepflicht nach § 106 Abs. 1 SGG ein Hinweis des SG erfolgen müssen, dass mit dem abgeänderten Antrag vom 18.06.2018 unzulässigerweise kein bestimmter Arzt benannt worden ist (siehe dazu Keller a.a.O. Rn. 10a, 9a). Der Kläger hatte sogar für den Fall, dass Bedenken gegen den Wechsel des Gutachters beständen, ausdrücklich um einen entsprechenden richterlichen Hinweis gebeten. Über diese Bitte hat sich das SG ohne Begründung hinweggesetzt.
Jedenfalls ist ein Verfahrensmangel aber darin zu sehen, dass das SG über den erneuten Antrag des Klägers nach § 109 Abs. 1 SGG auf Anhörung des Arztes und Neurologen Dr. D. S., L-Stadt – Fax vom 16.07.2018 – nicht entschieden hat. Nach den glaubhaften Angaben des Klägers im Berufungsverfahren ist an diesem Antrag im erstinstanzlichen Verfahren auch festgehalten worden, eine Rücknahme nicht erfolgt. Über diesen Antrag hat das SG weder durch gesonderten Beschluss noch in den Gründen seines Urteils vom 01.08.2018 entschieden (zu diesem Erfordernis siehe u.a. BSG v. 26.04.1967 – 9 RV 634/65, NJW 1967, 1534; v. 31.01.1973 – 9 RV 362/72, juris Rn. 10; v. 26.08.1998 – B 9 VS 7/98 B, juris Rn. 3). Dabei ist es nicht erforderlich, dass der Antrag nach § 109 SGG in der mündlichen Verhandlung nochmals ausdrücklich zu Protokoll gestellt wird (vgl. u.a. BSG v. 26.04.1967 – 9 RV 634/65, NJW 1967, 1534; v. 31.01.1973 – 9 RV 362/72, juris Rn. 10; Hessisches Landessozialgericht v. 04.05.2011 – L 6 AL 86/10, juris Rn.27). Insbesondere ist die Vorschrift des (§ 202 S. 1 SGG i.V.m.) § 295 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) nicht einschlägig. Danach kann die Verletzung einer das Verfahren und insbesondere die Form einer Prozesshandlung betreffenden Vorschrift nicht mehr gerügt werden, wenn die Partei auf die Befolgung der Vorschrift verzichtet, oder wenn sie bei der nächsten mündlichen Verhandlung, die auf Grund des betreffenden Verfahrens stattgefunden hat oder in der darauf Bezug genommen ist, den Mangel nicht gerügt hat, obgleich sie erschienen ist und ihr der Mangel bekannt war oder bekannt sein musste. Denn der Verfahrensmangel steht im Falle der Nichtverbescheidung eines Antrags nach § 109 SGG erst mit der gerichtlichen Hauptsachenentscheidung fest, da das Gericht, wie dargelegt, über den Antrag auch noch in den Gründen seines Urteils entscheiden kann.
Der beschriebene Verfahrensmangel ist auch wesentlich, weil die Entscheidung des SG auf ihm beruhen kann (zur Wesentlichkeit des Mangels siehe Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 159 Rn. 3a; zur Nichtentscheidung über einen Antrag nach § 109 SGG als wesentlichem Verfahrensmangel siehe u.a. BSG v. 26.04.1967 – 9 RV 634/65, NJW 1967, 1534). Hätte das SG dem Antrag des Klägers entsprochen, hätte es entgegen seiner getroffenen Entscheidung im Wege der Beweiswürdigung zu dem Ergebnis kommen können, dass unfallbedingte Gesundheitseinschränkungen des Klägers die Gewährung einer Verletztenrente begründen.
Es ist beim gegenwärtigen Sachstand davon auszugehen, dass der vorliegende Verfahrensmangel eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme erforderlich macht. Denn die Frage, ob der Kläger einen Anspruch auf Bewilligung einer Verletztenrente hat, kann nicht ohne weitere Sachverhaltsaufklärung entschieden werden. Das SG hat durch Einholung aktueller Befunde der behandelnden Ärzte des Klägers und eines Gutachtens nach § 109 SGG weiteren Beweis zu erheben. Dabei stellt schon allein die Einholung eines weiteren Gutachtens eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme dar, da sie einen erheblichen Einsatz von personellen und sächlichen Mitteln erfordert (std. Rechtsprechung des Senats vgl. u.a. Urteil v. 12.10.2017 – L 17 U 208/17, juris; v. 10.08.2017 – L 17 U 400/16, juris; siehe auch LSG Berlin-Brandenburg v. 09.03.2017 – L 13 SB 273/16, juris Rn. 21, und v. 14.01.2016 – L 27 R 824/15, juris Rn. 14; Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern v. 27.08.2014 – L 5 U 6/14, juris Rn. 82; a.A. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 159 Rn. 3a). Zudem zieht ein solches Gutachten erfahrungsgemäß weitere Stellungnahmen der Beteiligten nach sich und macht häufig auch eine ergänzende gutachtliche Stellungnahme des zunächst von Amts wegen gehörten ärztlichen Sachverständigen erforderlich.
Bei seiner Zurückverweisung nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG hat der Senat sein Ermessen dahingehend auszuüben, ob er die Sache selbst entscheiden oder zurückverweisen will. Die Zurückverweisung soll zwar in der Regel vermieden werden (Keller a.a.O. Rn. 5a). In Abwägung zwischen den Interessen der Beteiligten an einer möglichst schnellen Sachentscheidung und dem Grundsatz der Prozessökonomie einerseits sowie dem Verlust einer Instanz andererseits hält es der Senat jedoch vorliegend für angezeigt, den Rechtsstreit an das SG zurückzuverweisen. Dabei berücksichtigt der Senat, dass die Berufung des Klägers erst seit 11.10.2018 und somit seit relativ kurzer Zeit in der Berufungsinstanz anhängig ist. Dem Kläger entsteht durch die Zurückverweisung somit kein wesentlicher zeitlicher Nachteil. Auch ist der Rechtsstreit aus den genannten Gründen nicht entscheidungsreif. Vielmehr ist zunächst der medizinische Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären, um abschließend prüfen zu können, ob (nunmehr) die Voraussetzungen für die Bewilligung einer Verletztenrente beim Kläger vorliegen. Zudem kann nicht außer Acht bleiben, dass das SG bislang keine Befundberichte über den Kläger beigezogen hat, obwohl es von diesem einen ausgefüllten Fragebogen über medizinische Behandlung ab 2015 und eine Entbindungserklärung von der Schweigepflicht angefordert hat. Der Kläger hat im Übrigen mit Schriftsatz vom 24.04.2019 ausdrücklich sein Einverständnis mit der beabsichtigten Zurückverweisung erklärt; die Beklagte hat gegen die Zurückverweisung keine Einwände erhoben. Nach alledem fällt für den Senat der Umstand, dass dem Kläger durch eine Zurückverweisung an das SG eine Instanz zurückgegeben wird, wesentlich stärker ins Gewicht als die durch die Zurückverweisung eintretende kurze zeitliche Verzögerung im gerichtlichen Verfahren.
Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 u. 2 SGG), sind nicht ersichtlich.


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