Medizinrecht

originäre sozialpädagogische Familienhilfe nach § 31 SGB VIII

Aktenzeichen  L 18 SO 18/19

Datum:
22.4.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 17661
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB IX § 55;
SGB VIII § 10 Abs. 4 S. 2;
SGB VIII § 31;
SGB XII § 19 Abs. 3;
SGB XII § 53;
SGB XII § 54

 

Leitsatz

1. Die originäre sozialpädagogische Familienhilfe nach § 31 SGB VIII stellt keine über die reine Erziehungshilfe hinausgehende Förderung der Leistungsberechtigten dar, die die Zielsetzung der Eingliederungshilfe (§ 53 Abs. 3 SGB XII) verfolgt, nämlich der Leistungsberechtigten das Leben in der Gesellschaft außerhalb der Familie zu ermöglichen und sie in die Gesellschaft einzugliedern.
2. Gegen die Rechtsauffassung, dass im Fall einer Mehrfachbehinderung einer Leistungsberechtigten die Kollisionsregel des § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII stets anzuwenden ist, spricht die grammatikalische, systematische und teleologische Interpretation dieser Vorschrift.

Verfahrensgang

S 15 SO 107/16 2018-12-12 Urt SGWUERZBURG SG Würzburg

Tenor

I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 12.12.2018 wird zurückgewiesen.
II. Die Klägerin trägt die Kosten auch des Berufungsverfahrens.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden hat (§ 124 Abs. 2 SGG), ist zulässig, jedoch nicht begründet.
I.
Die form- und fristgerecht (Eingang der Berufung beim LSG am 14.01.2019) eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig (§§ 143, 144, 151 SGG). Zwar ist der Zeitpunkt der Zustellung des Urteils des SG vom 12.12.2018 strittig. Insoweit trägt die Klägerin vor, dass das Urteil ihrem Prozessbevollmächtigten erst am 08.01.2019 per Fax zugestellt worden sei. Dies kann jedoch dahinstehen, weil auch dann, wenn das in der SG-Akte eingetragene Auslaufdatum „13.12.2018“ (Zustellung per eEB) zugrunde gelegt wird – die Berufung am 14.01.2019 jedenfalls fristgerecht eingelegt wurde (§ 151 Abs. 1 SGG). Denn der 13.01.2019 war ein Sonntag, die Frist lief gemäß § 64 Abs. 3 SGG somit erst mit Ablauf des 14.01.2019 ab. Die Klage ist als allgemeine Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG statthaft.
Einer Zulassung der Berufung bedurfte es nicht, weil der Wert des bezifferten Beschwerdegegenstandes 10.000,00 € übersteigt (§ 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG).
Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist nur noch die Erstattung von Aufwendungen der Klägerin in Höhe von 34.880,69 € für die jeweils als Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII in Form der ambulanten Einzelbetreuung für die Leistungsberechtigten H bezeichneten Hilfsmaßnahmen im Zeitraum vom 03.08.2015 bis 31.10.2018. Den erstinstanzlich unter Ziffer 2. gestellten Antrag, festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin die in Sachen H seit dem 01.11.2018 rechtmäßig erbrachten und bis zur Übernahme des Leistungsfalls durch den Beklagten noch rechtmäßig zu erbringenden Leistungen der Sozialhilfe zu erstatten, hat die Klägerin im Berufungsverfahren nicht aufrechterhalten.
Einer Beiladung der Leistungsberechtigten H bzw. deren Eltern nach § 75 Abs. 2 1. Alt. SGG (sog. echte notwendige Beiladung) bedurfte es nicht, weil es sich bei dem von der Klägerin als Trägerin der Jugendhilfe geltend gemachten Erstattungsanspruch nicht um einen von der Rechtsposition eines Leistungsempfängers abgeleiteten, sondern um einen eigenständigen Anspruch handelt, der nur die Verteilung leistungsrechtlicher Verpflichtungen zwischen der Klägerin und dem Beklagten betrifft (vgl. zu § 14 SGB IX: BSG, Urteile vom 25.04.2013 – B 8 SO 6/12 R, juris Rn. 10 m.w.N. und vom 23.07.2020 – B 8 SO 7/14 R -, juris Rn. 9). Durch die Weiterleitung des Antrags nach § 14 Abs. 1 S. 2 SGB IX wird eine eigene gesetzliche Verpflichtung des sog. „zweitangegangenen“ Leistungs- und Rehabilitationsträgers im Außenverhältnis begründet. Vorliegend wird die Position der Leistungsberechtigten H bzw. ihrer Eltern als Personensorgeberechtigte durch den Erstattungsstreit der Sozialleistungsträger nicht berührt (vgl. BSG, Urteile vom 25.09.2014 – B 8 SO 7/13 R -, juris Rn. 18, und vom 25.04.2013 – B 8 SO 6/12 R -, juris Rn. 10).
II.
Die Berufung ist jedoch unbegründet. Das SG hat mit Urteil vom 12.12.2018 zu Recht und mit zutreffender Begründung die Klage abgewiesen. Zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen nimmt der Senat gemäß § 153 Abs. 2 SGG auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils vom 12.12.2018 Bezug, die auch der Überzeugung des Senats entsprechen. Ergänzend ist auch mit Blick auf die Berufungsbegründung der Klägerin das Folgende auszuführen:
Die Klägerin kann vom Beklagten nicht die Erstattung der Kosten in Höhe von 34.880,69 € verlangen, die sie in der Zeit vom 03.08.2015 bis 31.10.2018 für die mit den angefochtenen Bescheiden bewilligten und jeweils als ambulante Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII in Form der ambulanten Einzelbetreuung für die Leistungsberechtigte H bezeichneten Leistungen aufgewandt hat.
Als Anspruchsgrundlage für die geltend gemachte Erstattung kommt vorliegend nur § 14 Abs. 4 SGB IX (i.d.F. vom 23.04.2004, gültig ab 01.05.2004 bis 31.12.2017) bzw. § 16 Abs. 1 SGB IX (i.d.F. vom 23.12.2016, gültig vom 01.01.2018 bis 31.12.2023) in Betracht. Die Vorschrift räumt dem zweitangegangenen Rehabilitationsträger gegenüber dem materiell-rechtlich originär zuständigen Träger einen spezialgesetzlichen Anspruch ein, der die allgemeinen Erstattungsansprüche verdrängt (BSG, Urteil vom 25.04.2013 – B 8 SO 12/12 R, juris Rn. 10).
Nach § 14 Abs. 1 S. 2 SGB IX a.F. hat der mit einem Rehabilitationsantrag angegangene Rehabilitationsträger nach einer Prüfung seiner Zuständigkeit bei deren Fehlen den Antrag unverzüglich an den zuständigen Rehabilitationsträger weiterzuleiten. Wird der Antrag weitergeleitet, stellt der Rehabilitationsträger, an den der Antrag weitergeleitet worden ist, den Rehabilitationsbedarf unverzüglich und umfassend fest und erbringt die Leistungen (Abs. 2 S. 3 ).
Für die Anwendbarkeit des § 14 Abs. 1 und 2 SGB IX genügt es, dass die Klägerin als kreisfreie Stadt ein Rehabilitationsträger (dazu §§ 69 Abs. 1, 85 SGB XII in Verbindung mit Art. 15 S. 1 des Gesetzes zur Ausführung der Sozialgesetze des Freistaates Bayern vom 8.12.2006 – Gesetz- und Verordnungsblatt 942) im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 6 SGB IX ist und der maßgebliche Antrag an sie weitergeleitet worden ist. Vorliegend war nach dem Grundsatz der Meistbegünstigung der Antrag der Eltern der Leistungsberechtigten H beim Beklagten zumindest auch als Rehabilitationsantrag auszulegen. Dieser Antrag wurde vom Beklagten innerhalb der Frist des § 14 Abs. 1 S. 1 SGB IX an die Klägerin weitergeleitet. Für die Anwendbarkeit des § 14 SGB IX war nicht entscheidungserheblich, ob die nach dem SGB VIII erbrachten Leistungen tatsächlich auch solche der Teilhabe waren (BSG, Urteil vom 25.09.2014 – B 8 SO 7/13 R -, juris Rn. 23).
Die Erstattungsregelung nach § 14 Abs. 4 S. 1 SGB IX a.F. bzw. § 16 Abs. 1 SGB IX n.F., die Ansprüche dieses zweitangegangenen Trägers betrifft, geht als „lex specialis“ den allgemeinen Erstattungsansprüchen zwischen Sozialleistungsträgern nach den §§ 102ff. SGB X vor und verdrängt diese in ihrem Anwendungsbereich (BSG, Urteil vom 25.04.2013 – B 8 SO 12/12 R, Rn. 10; Luik in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX , § 14 Rn. 7, 119; Ulrich in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX , § 16 Rn. 2, 24 jeweils m.w.N.).
Der Beklagte ist vorliegend nicht materiell-rechtlich originär zuständiger Träger. Aus demselben Grund besteht im Übrigen auch kein Anspruch nach § 104 SGB X. Denn diese Vorschrift setzt als Grundkonstellation voraus, dass gestufte Leistungspflichten (mindestens) zweier Leistungsträger nebeneinander bestehen (BSG, Urteil vom 25.09.2014 – B 8 SO 7/13 R, juris Rn. 24). Die Voraussetzungen der Kollisionsregel des § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII liegen hier jedoch nicht vor.
Nach § 10 Abs. 4 S. 1 SGB VIII gehen Leistungen nach diesem Buch Leistungen nach dem Zwölften Buch vor. Abweichend von Satz 1 gehen Leistungen nach § 27a Absatz 1 in Verbindung mit § 34 Absatz 6 des Zwölften Buches und Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Zwölften Buch für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, den Leistungen nach diesem Buch vor (§ 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII).
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts, der der Senat aufgrund eigener Überzeugung folgt, ist Voraussetzung für das Rangverhältnis zwischen Jugendhilfe und Sozialhilfe nach § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII, dass sowohl ein Anspruch auf Jugendhilfe als auch ein Anspruch auf Sozialhilfe gegeben und beide Leistungen gleich, gleichartig, einander entsprechend, kongruent, einander überschneidend oder deckungsgleich sind (BSG, Urteil vom 25.09.2014 – B 8 SO 7/13 R, juris Rn. 26, und vom 24.03.2009 – B 8 SO 29/07 R, juris Rn. 17; BVerwG, Urteile vom 13.06.2013 – 5 C 30/12 -, vom 19.10.2011 – 5 C 6/11 – und vom 23.09.1999 – 5 C 26/98; vgl. auch Urteil des Senats vom 30.10.2019 – L18 SO 259/18 und Beschluss des Senats vom 04.05.2020 – L 18 SO 17/19 NZB). Für die Anwendbarkeit des § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII ist maßgebend die Art der Leistung bzw. die daraus folgende Leistungspflicht (BVerwG, Urteil vom 22.10.2009 – 5 C 19/08; BSG, Urteil vom 24.03.2009 – B 8 SO 29/07 R).
Zur vollen Überzeugung des Senats steht fest, dass der Beklagte keine Leistungspflicht bezüglich der aufgrund der für den streitgegenständlichen Zeitraum erlassenen Bewilligungsbescheide gewährten Leistungen hat, für die Kostenerstattung von der Klägerin geltend gemacht wird. Denn die im streitigen Zeitraum gewährte, jeweils als Eingliederungshilfe in Form der ambulanten Einzelbetreuung gemäß § 35a SGB VIII in den angefochtenen Bescheiden bezeichnete Hilfsmaßnahme war ihrer Art nach eine originäre sozialpädagogische Familienhilfe nach § 31 SGB VIII, nicht jedoch bzw. nicht zumindest auch eine Leistung der Eingliederungshilfe nach den §§ 19 Abs. 3 (i.d.F. vom 27.12. 2003, gültig vom 01.01.2005 bis 31.12.2007), 53 Abs. 1 (i.d.F. vom 27.12.2003, gültig vom 01.01.2005 – 31.12.2019, 54 Abs. 1 (i.d.F. vom 29.08.2013, gültig vom 03.12.2013 bis 31.12.2017, und i.d.F. vom 23.12.2016, gültig vom 01.01.2018 bis 31.12.2018) SGB XII i.V.m. § 55 SGB IX (i.d.F. vom 23.04.2004, gültig vom 01.05.2004 – 31.12.2017). Die als originäre sozialpädagogische Familienhilfe nach § 31 SGB VIII von der Klägerin erbrachten Leistungen waren nach ihrer Zielsetzung als Eingliederungshilfe nach dem SGB XII nicht möglich. Ein darüber hinaus gehender Bedarf der Leistungsberechtigten H für Eingliederungshilfemaßnahmen nach dem SGB XII wurde mit der streitgegenständlichen sozialpädagogischen Familienhilfe nach § 31 SGB VIII nicht gedeckt. Vielmehr wurde mit dieser Leistung das Ziel verfolgt, den Bedarf der Eltern der Leistungsberechtigten H zu decken, nämlich ihre Erziehungsfähigkeit als Personensorgeberechtigte der Leistungsberechtigten H zu stärken und zu verbessern, sie hinsichtlich Entlastungsmöglichkeiten (z. B. Kurzzeitinternat) zu beraten, sie bei der Vernetzung mit dem Körperbehindertenzentrum, Ärzten, der Sozialstation und dem Beklagten und bei behördlichen Angelegenheiten zu beraten und zu unterstützen, sie hinsichtlich der notwendigen Geräte (z. B. Wannenlift) und Dienstleistungen zu beraten und damit letztendlich den Verbleib der Leistungsberechtigten H in der Familie zu sichern. Somit stellt die streitgegenständliche sozialpädagogische Familienhilfe gerade keine über die reine Erziehungshilfe hinausgehende Förderung dar, die die Zielsetzung der Eingliederungshilfe (§ 53 Abs. 3 SGB XII) verfolgt hätte, nämlich der Leistungsberechtigten H das Leben in der Gesellschaft außerhalb der Familie zu ermöglichen und sie in die Gesellschaft einzugliedern. Derartige „reine Erziehungshilfen“ im Sinne des § 31 SGB VIII gibt es auch nur im SGB VIII (vgl. Luthe in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl. 2018, Stand 17.12.2020, § 10 Rn. 16).
Eine Kongruenz oder zumindest eine Überschneidung der streitgegenständlichen originären Jugendhilfeleistungen mit Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII als Voraussetzung der Anwendbarkeit der Kollisionsregel des § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII liegt daher nicht vor. Zwar ist dafür nicht erforderlich, dass der Schwerpunkt des Hilfebedarfs bzw. -zwecks im Bereich einer der den Eingliederungshilfebedarf auslösenden Behinderungen liegt oder eine von ihnen für die konkrete Maßnahme ursächlich ist (vgl. BVerwG, Urteile vom 09.02.2012 – 5 C 3/11 -, juris Rn. 31 m.w.N. und vom 23.09.1999 – 5 C 26/98). Allerdings reicht es vorliegend nicht aus, dass die gewährten Leistungen der Familienhilfe nach § 31 SGB VIII für die Leistungsberechtigte H lediglich förderlich sind, weil es sich deshalb insoweit – worauf das SG zutreffend hinweist – lediglich um eine zwangsläufig mit der gewährten Familienhilfe einhergehende Annexleistung für die Leistungsberechtigte H handelt. Die sozialpädagogische Familienhilfe nach § 31 SGB VIII ist vielmehr eine originäre Aufgabe der Jugendhilfe, die von der Kollisionsregel des § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII nicht erfasst wird.
Die streitgegenständliche Familienhilfe nach § 31 SGB VIII ist nicht deshalb zumindest auch eine Leistung der Eingliederungshilfe nach §§ 19 Abs. 3, 53 Abs. 1, 54 Abs. 1 SGB XII i.V.m. § 55 SGB IX, weil in den angefochtenen Bescheiden die jeweilige Hilfe als „Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII“ bezeichnet wurde. Denn maßgeblich ist insoweit nur – wie bereits ausgeführt -, welcher Leistungsart die streitgegenständliche Hilfsmaßnahme zuzuordnen ist. Zudem verkennt die Klägerin, dass die Vorschriften über die Eingliederungshilfe für einen behinderten Menschen nach den §§ 53 ff SGB XII auf Eingliederung des behinderten Menschen durch Leistung an diesen abzielen, nicht jedoch auf eine Leistung an dritte Personen, wenn nichts anderes ausdrücklich im Gesetz geregelt ist (so zu Recht LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 18.07.2013 – L 7 SO 4642/12, juris, Orientierungssatz Ziff. 1. und Rn. 36 mit Verweis auf § 54 Abs. 2 SGB XII – „ihnen oder ihren Angehörigen“ – und dessen Vorgängernorm § 40 Abs. 2 BSHG – „den behinderten oder von einer Behinderung bedrohten Menschen oder an seine Angehörigen“ – oder in § 68 Abs. 1 S. 1 SGB XII – „für die Leistungsberechtigten und ihre Angehörigen“ und auf die Vorgängernorm § 72 Abs. 2 BSHG; vgl. auch BayVGH, Urteil vom 29.03.2010 – 13 BV 08.942; VG München, Beschluss vom 09.09.2014 – M 18 E 14.3520, juris Rn. 45). Hingegen ist bei der Hilfe zur Erziehung – was sich aus § 27 Abs. 1 SGB VIII ergibt – der Personensorgeberechtigte leistungsberechtigt.
Überzeugend führt das BSG in seiner Entscheidung vom 24.03.2009 (B 8 SO 29/07 R, juris Rn. 20) in diesem Zusammenhang aus, dass die Vorschriften über die sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe keinesfalls den „Ganzheitlichkeitsanspruch“, wie z.B. in § 19 SGB VIII, der im Gegensatz zur Eingliederungshilfe die Förderung aller von der Bedarfssituation betroffenen Personen in der Familie im Auge hat, erheben. Hieran ändert auch § 16 SGB XII mit dem Gebot zur Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse in der Familie nichts. Diese Norm enthält nur einen Programmsatz, aus dem sich keine unmittelbaren Rechte der Familienangehörigen ableiten (BSG, Urteil vom 24.09.2009, a.a.O.; LSG Baden-Württemberg, a.a.O., Rn. 36). Für diese Auslegung des Bundessozialgerichts spricht ferner die Systematik der von § 54 SGB XII in Bezug genommenen §§ 55 ff. SGB IX, die die Teilhabeleistungen allein dem Behinderten vorbehalten.
Die hier streitgegenständliche sozialpädagogische Familienhilfe nach § 31 SGB VIII, die im Übrigen von den sozialpädagogischen Stellungnahmen, die von der Klägerin vor den Leistungsbewilligungen eingeholt wurden, jeweils als solche empfohlen wurde, hatte hingegen nicht die in § 53 Abs. 3 SGB XII normierte Zielsetzung, den Bedarf der Leistungsberechtigten H für eine Eingliederung in die Gesellschaft zu decken, sondern die Zielsetzung der bereits dargestellten Beratung und Unterstützung der Eltern der Leistungsberechtigten H als Personensorgeberechtigte. Deshalb kann sich die Klägerin auch nicht darauf berufen, dass R in seiner Stellungnahme vom 03.02.2015 eine heilpädagogisch-therapeutische Einrichtung für die Leistungsberechtigte H mit enger Elternarbeit für erforderlich gehalten hat. Eine solche Leistung ist vorliegend nämlich nicht streitgegenständlich, sondern es wurden die streitgegenständlichen Leistungen mit der Zielsetzung des Verbleibs der Leistungsberechtigten H in der Familie gewährt.
Die Annahme der Klägerin, ohne die gewährten Leistungen wäre im streitgegenständlichen Zeitraum eine vollstationäre Unterbringung der Leistungsberechtigten H erforderlich gewesen, ist – auch wenn deren Richtigkeit unterstellt wird – im Hinblick auf die Zielsetzung der gewährten konkreten Hilfsmaßnahmen, auf die abzustellen ist, rechtlich nicht maßgeblich. Im Übrigen lässt sich ein solches Erfordernis nach den in den Akten enthaltenen Unterlagen und Stellungnahmen nicht mit der zu fordernden an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit feststellen. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die stationäre Unterbringung der H im Wohnheim der G Schule ab September 2019 erfolgt ist und damit nicht den hier streitgegenständlichen Zeitraum betrifft.
Entgegen der Rechtsauffassung der Klägerin ergibt sich auch nicht aus § 60 SGB XII i.V.m. § 20 Eingliederungshilfe-Verordnung (EinglHV i.d.F. vom 27.12.2003, gültig vom 01.01.2005 bis 31.12.2019), dass die streitgegenständlichen Leistungen solche der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII waren. § 20 EinglHV regelt auf der Grundlage der Verordnungsermächtigung des § 60 SGB XII unter der Überschrift „Anleitung von Betreuungspersonen“, dass – wenn ein behinderter Mensch wegen der Schwere der Behinderung in erheblichem Umfang der Betreuung bedarf – zu den Maßnahmen der Eingliederungshilfe auch gehört, Personen, denen die Betreuung obliegt, mit den durch Art und Schwere der Behinderung bedingten Besonderheiten der Betreuung vertraut zu machen. Voraussetzung für die Anwendbarkeit dieser Vorschriften ist daher, dass es sich um eine Maßnahme der Eingliederungshilfe handelt; dann ist die Anleitung zur Betreuung des behinderten Menschen Teil der Eingliederungshilfe. Folglich kann mit der rechtlichen Bewertung der „Anleitung zur Betreuung“ bei einer Maßnahme nicht begründet werden, dass die Maßnahme eine solche der Eingliederungshilfe ist. Vielmehr setzt die Anwendbarkeit dieser Vorschriften eine Eingliederungshilfe nach dem SGB XII voraus.
Die Klägerin kann sich auch nicht mit Erfolg auf die Entscheidung des Bayerischen Landessozialgerichts vom 16.11.2017 (L 8 SO 284/16) berufen. Im dortigen Fall wurde im Rahmen einer Vollzeitpflege der gesamte Bedarf der leistungsberechtigten Person gedeckt. Die Unterbringung in einer Pflegefamilie kann eine Leistung der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII sein (§ 54 Abs. 3 SGB XII). Vorliegend war die sozialpädagogische Familienhilfe nach § 31 SGB VIII jedoch – wie bereits dargelegt – keine Maßnahme der Eingliederungshilfe. Damit liegt nach Art und Zielsetzung der streitgegenständlichen Leistungen – im Gegensatz zur Deckung des gesamten Bedarfs der leistungsberechtigten Person im Rahmen der Vollzeitpflege nach § 54 Abs. 3 SGB XII – gerade keine Überschneidung der Hilfen vor.
Schließlich vermag der Senat auch nicht der Argumentation der Klägerin zu folgen, dass im Falle einer Mehrfachbehinderung eines Leistungsberechtigten die Kollisionsregel des § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII stets anzuwenden sei, weil mit Hilfsmaßnahmen nach dem SGB VIII bei mehrfach behinderten Menschen auch gleichzeitig das Ziel verfolgt werde, den behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern, insbesondere, ihm die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern (§ 53 Abs. 3 S. 1 und 2 SGB XII).
Gegen diese Rechtsauffassung spricht nämlich sowohl die grammatikalische Interpretation des § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII als auch die systematische und teleologische Interpretation dieser Vorschrift.
Bereits der Wortlaut des § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII („Abweichend von Satz 1 gehen Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Zwölften Buch für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, den Leistungen nach diesem Buch vor“) stellt grammatikalisch ausdrücklich auf die Art der Hilfsmaßnahmen ab – d. h. es muss sich um Leistungen der Eingliederungshilfe handeln – und lässt das Vorliegen einer Mehrfachbehinderung für die Bewertung, ob eine Maßnahme der Jugendhilfe nach dem SGB VIII – zwangsläufig – auch eine Eingliederungshilfemaßnahme nach dem SGB XII ist, nicht genügen. Allein das Vorliegen einer Mehrfachbehinderung ist somit für die Anwendbarkeit der Kollisionsregel des § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII nicht ausreichend. Die Rechtsauffassung der Klägerin, dass es sich bei Vorliegen einer Mehrfachbehinderung letztlich stets auch um eine Maßnahme der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII handele – wenn der mehrfach behinderte Mensch auch einen Anspruch auf Eingliederungshilfe habe -, ist dem Wortlaut des § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII gerade nicht zu entnehmen.
Ebenso wenig lässt sich aus der Systematik der Hilfen zur Erziehung nach den §§ 27 ff. SGB VIII einerseits und der Eingliederungshilfe nach den §§ 19 Abs. 3, 53, 54 SGB XII i.V.m. § 55 SGB IX andererseits ableiten, dass es für die Anwendbarkeit des § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII ausschließlich darauf ankommen soll, ob die Hilfsmaßnahme aufgrund einer Mehrfachbehinderung gewährt wird. Die Klägerin verkennt insoweit, dass die nach § 31 SGB VIII im Rahmen der Hilfe zur Erziehung gemäß §§ 27ff SGB VIII streitgegenständliche originäre Familienhilfe im SGB VIII eigenständig geregelt ist (vgl. auch die Vorschrift des § 35a Abs. 4 SGB VIII, die ausdrücklich zwischen Erfüllung der Aufgaben der Eingliederungshilfe und Deckung des erzieherischen Bedarfs unterscheidet) und auch bei mehrfach behinderten Menschen nicht zwangsläufig eine Hilfsmaßnahme im Rahmen des Leistungsspektrums der Eingliederungshilfe nach den §§ 53, 54 SGB XII darstellt.
Schließlich spricht auch die teleologische Interpretation des § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII dagegen, für die Anwendbarkeit dieser Vorschrift maßgeblich auf das Vorliegen einer Mehrfachbehinderung abzustellen. Denn die von der Klägerin im Fall der Mehrfachbehinderung angesprochenen Abgrenzungsschwierigkeiten und Rechtsunsicherheiten sind entgegen der Rechtsauffassung der Klägerin nämlich nur dann vermeidbar, wenn man – worauf das Bundesverwaltungsgericht zu Recht hinweist (Urteile vom 22.10.2009 – 5 C 19.08 – juris Rn. 25 und vom 19.10.2011 – 5 C 6.11, juris Rn. 18) – die Gleichartigkeit der Leistungen bzw. die Überschneidung der Leistungen für die Anwendbarkeit der Kollisionsregel des § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII für maßgeblich erachtet.
Somit spricht zusammenfassend vorliegend gegen die Anwendbarkeit der Kollisionsregel des § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII die Art der streitgegenständlichen Hilfsmaßnahmen, nämlich, dass mit der originären Familienhilfe nach § 31 SGB VIII als Hilfe zur Erziehung gemäß §§ 27 ff SGB VIII nicht ein darüber hinausgehender Bedarf der Leistungsberechtigten H für eine Eingliederungshilfe nach den §§ 19 Abs. 3, 53, 54 SGB XII i.V.m. § 55 SGB IX mit der Zielsetzung ihrer Eingliederung in die Gesellschaft gedeckt wurde, es eine originäre sozialpädagogische Familienhilfe in der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII aufgrund der unterschiedlichen Zielsetzungen nicht gibt und darüber hinaus mit der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII nicht der Bedarf dritter Personen, hier der Personensorgeberechtigten der Leistungsberechtigten H, gedeckt werden kann. Bei den von dem Beklagten an die Leistungsberechtigte H erbrachten Eingliederungshilfeleistungen und der hier streitgegenständlichen originären Familienhilfe liegen daher voneinander völlig abgrenzbare Leistungen mit unterschiedlichen Zielsetzungen vor, sodass die Vorschrift des § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII trotz Vorliegens einer Mehrfachbehinderung der Leistungsberechtigten H hier nicht anwendbar ist.
Nach alledem war die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 12.12.2018 zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 S. 1, 3. Halbsatz SGG i.V.m. § 154 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Sie trägt dem Umstand Rechnung, dass die Klägerin auch im Berufungsverfahren unterlag.
Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG), sind nicht ersichtlich.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen


Nach oben