Medizinrecht

Rehabilitationssport

Aktenzeichen  L 4 KR 395/14

Datum:
28.6.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 39953
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB IX § 64 Abs. 1 Nr. 3
SGB V § 43 Abs. 1 Nr. 1

 

Leitsatz

1. Die Notwendigkeit von Rehabilitationssport in Gruppen unter ärztlicher Betreuung und Überwachungnicht ist nicht nur im Hinblick auf die sportliche Betätigung als solche, sondern auch im Hinblick auf die Tatbestandsmerkmale „in Gruppen“ und „unter ärztlicher Betreuung und Überwachung“ zu prüfen.
2. Der rehabilitative Zweck des Gemeinschaftserlebnisses ist besonders bei Sportarten nachvollziehbar, die ihrer Natur nach von mehreren Personen gemeinsam ausgeübt werden, wie z.B. Bewegungsspiele oder Rollstuhl-Basketball. Dies trifft auf Gymnastik nicht zu.

Verfahrensgang

S 4 KR 285/12 2014-08-01 Urt SGLANDSHUT SG Landshut

Tenor

I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 01.08.2014 aufgehoben.
II. Die Klage gegen den Bescheid vom 20.06.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.07.2012 wird abgewiesen.
III. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Der Senat konnte in Abwesenheit der Klägerin verhandeln und entscheiden, da diese ordnungsgemäß geladen war und in der Ladung auf die Möglichkeit einer Entscheidung auch im Falle des Ausbleibens hingewiesen wurde (§§ 110, 126, 132 SGG). Im Übrigen hat der Bevollmächtigte der Klägerin mit Schriftsatz vom 22.05.2018 mitgeteilt, er werde den Termin am 28.06.2018 nicht wahrnehmen; es möge nichtsdestotrotz entschieden werden.
Die Berufung ist zulässig. Sie ist insbesondere ohne Rücksicht auf den Wert des Beschwerdegegenstandes statthaft, weil das SG sie in dem angefochtenen Urteil zugelassen hat (§ 144 Abs. 1 Satz 1 SGG). Die Berufung wurde form- und fristgerecht eingelegt (§ 151 SGG).
Die Berufung der Beklagten ist auch begründet.
Das Sozialgericht hat mit dem angefochtenen Urteil eine Kostenerstattung zugesprochen. Der Bevollmächtigte der Klägerin hatte jedoch seinen ursprünglich gestellten Klageantrag, „der Klägerin Mittel zur Gewährung von Rehabilitationssport zur Verfügung zu stellen“, mit Schriftsatz vom 05.05.2014 dahingehend konkretisiert, dass die Klägerin begehre, „zukünftig auf Kosten der Beklagten Rehabilitationssport betreiben zu können“. Sein Klageantrag war demnach auf einen Primärleistungsanspruch (Gewährung von Reha-Sport) gerichtet und nicht auf Erstattung der Kosten einer selbst beschafften Leistung. Damit hat das Sozialgericht nicht über den gestellten Klageantrag entschieden und der Klägerin etwas zugesprochen, was nicht beantragt war. Das Urteil konnte schon aus diesem Grund keinen Bestand haben und war daher aufzuheben.
Somit war noch über den offenen Klageantrag (Verurteilung der Beklagten, die Klägerin auf Grundlage der ärztlichen Verordnung vom 15.05.2012 mit Rehabilitationssport zu versorgen) zu entscheiden. Insoweit ist die Klage unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf eine weitere Versorgung mit Reha-Sport in Gruppen aufgrund der ärztlichen Verordnung vom 15.05.2012.
Versicherte haben nach § 11 Abs. 2 Satz 1 SGB V Anspruch auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation sowie auf unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen, die notwendig sind, um eine Behinderung abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern oder auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mindern. Diese Leistungen werden unter Beachtung des SGB IX erbracht, soweit im SGB V nichts anderes bestimmt ist (§ 11 Abs. 2 Satz 3 SGB V).
Die Krankenkasse kann neben den Leistungen, die nach § 64 Abs. 1 Nr. 2 bis 6 SGB IX sowie nach §§ 73 und 74 SGB IX (jeweils in der Fassung des Bundesteilhabegesetzes vom 23.12.2016, BGBl I 3234) als ergänzende Leistungen zu erbringen sind, weitere Leistungen zur Rehabilitation ganz oder teilweise erbringen oder fördern, wenn sie zuletzt Krankenbehandlung gewährt hat oder leistet (§ 43 Abs. 1 Nr. 1 SGB V). § 64 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX sieht als ergänzende Leistung u.a. zur medizinischen Rehabilitation „ärztlich verordneten Rehabilitationssport in Gruppen unter ärztlicher Betreuung und Überwachung“ vor.
Aus dem Wortlaut des § 43 Abs. 1 SGB V („zu erbringen … sind“) folgt, dass ein Rechtsanspruch auf die ergänzende Leistung „Reha-Sport in Gruppen“ besteht, wenn die in der Regelung genannten Voraussetzungen vorliegen. Die Verweisung des § 43 Abs. 1 SGB V auf die darin angesprochenen Regelungen des SGB IX über die Erbringung ergänzender Leistungen zur Rehabilitation bewirkt, dass diese Regelungen im Bereich der GKV Anwendung finden, weil das SGB V für den in § 64 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX geregelten Rehabilitationssport nichts Abweichendes i. S. v. § 11 Abs. 2 Satz 3 SGB V und § 7 SGB IX bestimmt (vgl. BSG, Urteil vom 17.06.2008, B 1 KR 31/07 R, Rn. 20).
Der von der Klägerin begehrte Reha-Sport im Sinne von § 64 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX setzt zunächst voraus, dass er ärztlich verordnet worden ist. Das ist hier der Fall. Es liegt eine entsprechende ärztliche Verordnung der Praxis Dr. M. vom 15.05.2012 vor. Allerdings stellt sich die Frage, ob die mittlerweile knapp sechs Jahre alte Verordnung noch eine sinnvolle Grundlage für eine aktuell durchzuführende medizinische Maßnahme sein kann oder ob sie nicht durch Zeitablauf als überholt anzusehen ist. Nach Auffassung des Senats kann die Verordnung vom 15.05.2012 nur dann als hinreichende Grundlage für künftig durchzuführenden Reha-Sport angesehen werden, wenn sich der Gesundheitszustand der Klägerin seit der Verordnung nicht in wesentlicher Hinsicht verändert hat. Sollte sich ihre gesundheitliche Verfassung in relevanter Weise verschlechtert haben, müsste die Verordnung jedenfalls als überholt betrachtet werden. Gleiches gilt für den Fall einer deutlichen Verbesserung ihres Gesundheitszustands. Den vorliegenden Akten sind jedoch konkrete Anhaltspunkte für eine relevante Veränderung des Gesundheitszustands der Klägerin nicht zu entnehmen. Entsprechendes ist von der Klägerin auch nicht vorgetragen worden. Der Senat geht daher zugunsten der Klägerin von einer weiter bestehenden Gültigkeit der Verordnung vom 15.05.2012 aus.
Der Rehabilitationssport muss ferner zumindest Maßnahmen der Krankenbehandlung einschließlich medizinischer Rehabilitation ergänzen, denn ergänzende Leistungen zur Rehabilitation sind von den Krankenkassen akzessorisch zu einer zuvor oder gleichzeitig von ihnen zu gewährenden Hauptleistung zu erbringen (BSG, Urteil vom 17.06.2008, B 1 KR 31/07 R, Rn. 35). Dies ist nach Auffassung des Senats im vorliegenden Fall zu bejahen. Die Klägerin leidet nach der Stellungnahme von Dr. M. vom 12.08.2012 unter Osteopenie, segmentaler Funktionsstörung LWS, Fersensporn, Fibrolmyalgie-Syndrom, vegetativer Dystonie, Lumbago, Spreizsenkfuß ausgeprägt beidseits und degenerativem LWS-Syndrom. Auch wenn im Zeitraum 2012/2013 eine Behandlung offensichtlich nur sporadisch durchgeführt wurde, geht der Senat zu Gunsten der Klägerin davon aus, dass der verordnete Reha-Sport die Behandlung unterstützen sollte.
Schließlich muss die begehrte Leistung im Einzelfall geeignet, notwendig und wirtschaftlich sein (§ 11 Abs. 2 Satz 1, § 43 Abs. 1 SGB V i.V.m. § 64 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX, § 12 Abs. 1 SGB V). Dies hat das BSG mit Beschluss vom 09.05.2018 (B 1 KR 55/17 B) nochmals bestätigt. Bei der Frage der Notwendigkeit des Reha-Sports sind auch dessen Zielsetzung und seine besondere Ausgestaltung zu berücksichtigen.
Wie das BSG in seinem Urteil vom 22.04.2009 (B 3 KR 5/08 R, Rn. 20) ausführt, ist der Rehabilitationssport eine Maßnahme, die über die spezifische Zielrichtung von § 1 Satz 1 und § 2 SGB V hinausgeht und der Aufgabenstellung in § 1 SGB IX entspricht, die Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft zu fördern. Anders als Krankengymnastik oder physikalische Therapie fällt Sport, der in allgemeiner Weise den körperlichen und psychischen Zustand positiv beeinflussen soll und bei dem der medizinische Zweck nicht überwiegt, nicht unter den krankenversicherungsrechtlichen Behandlungsbegriff. Weiter heißt es in der o.g. Entscheidung (Rn. 21):
„Unabhängig von der Art der Behinderung weisen behinderte oder chronisch kranke Menschen nämlich eine ausgeprägte körperliche Inaktivität mit einer Vielzahl negativer Folgen auf, die mit dem Behindertensport angegangen werden sollen (vgl. Schmid/Huber/Marschner/Zimmer, Medizinische Aspekte im Behindertensport, DÄBl 2004, A-2177). Dementsprechend dient ärztlich verordneter Behindertensport in Gruppen nicht unmittelbar der Therapie einer Krankheit, sondern soll wesentlich dazu beitragen, die körperliche Leistungsfähigkeit zu verbessern, Restfunktionen zu mobilisieren, die Ausdauer und Belastungsfähigkeit zu erhöhen und den Betroffenen bei der psychischen Bewältigung ihrer Krankheit und Behinderung sowie den Folgewirkungen zu helfen (so Bericht der Bundesregierung über die Lage behinderter Menschen und die Entwicklung ihrer Teilhabe, BT-Drucks 15/4575 S. 59 unter 3.27).“
Nach dem Urteil des BSG vom 02.11.2010 (B 1 KR 8/10 R, Rn. 18) ist außerdem zu berücksichtigen, dass die Leistung nicht nur als „Rehabilitationssport“, sondern als „Rehabilitationssport in Gruppen unter ärztlicher Betreuung und Überwachung“ bezeichnet wird. Weiter heißt es:
„Das Gesetz misst bereits durch die Leistungskennzeichnung der Betätigung behinderter Menschen gerade in einer rehabilitationsorientierten Sportgruppe einen besonderen Stellenwert im Zusammenhang mit ihren Auswirkungen auf die physische und psychische Gesundheit bei, der über denjenigen des gesundheitlichen Nutzens allgemeinen Sporttreibens und sinnvoller regelmäßiger körperteilbezogener gymnastischer Übungen hinausgeht. Die Hervorhebung des Sports „in Gruppen“ beruht hier offensichtlich auf der Erkenntnis, dass für behinderte Menschen – zumal für Menschen, die wie der Kläger in jungen Jahren auf einen Rollstuhl angewiesen sind – häufig nur eine begrenzte Zahl von Sportarten in Betracht kommen wird (vgl. hierzu allgemein die in Nr. 5 bis 5.3 Rahmenvereinbarung 2003 hervorgehobenen Reha-Sportarten). Insoweit wirkt gerade das Gemeinschaftserlebnis, mit anderen vergleichbar Betroffenen Sportliches leisten zu können, in besonderer Weise rehabilitativ.“
Rehabilitationssport ist dann notwendig, wenn der rehabilitationsbedürftige Versicherte nicht auf eine dem Rehabilitationssport in einer Gruppe gleichwertige sportliche Alternative verwiesen werden kann, insbesondere auch, weil diese nicht „unter ärztlicher Betreuung und Überwachung“ erfolgt (vgl. BSG, a.a.O, Rdnr. 18).
Abzustellen ist somit auf den Einzelfall und hierbei auf den Schweregrad der Beeinträchtigungen unter Berücksichtigung des rehabilitativen Zwecks des Gemeinschaftserlebnisses, mit anderen vergleichbar Betroffenen Sportliches leisten zu können (vgl. Bayer. LSG, Urteil vom 20.06.2017, L 4 KR 399/14).
Auch unter Beachtung der vorbeschriebenen weiten Zielsetzung des Reha-Sports ist im vorliegenden Fall die weitere Versorgung der Klägerin mit Rehabilitationssport in Gruppen unter ärztlicher Betreuung und Überwachung nicht notwendig. Dabei ist beachten, dass die Notwendigkeit nicht nur im Hinblick auf die sportliche Betätigung als solche, sondern auch im Hinblick auf die Tatbestandsmerkmale „in Gruppen“ und „unter ärztlicher Betreuung und Überwachung“ zu prüfen ist.
Zwar erscheint das weitere Betreiben von (Reha-)Sport bei der Klägerin durchaus sinnvoll, wie die Beklagte selbst angegeben hat. Entgegen der Auffassung des SG liegt aber eine Notwendigkeit im Sinne von § 11 Abs. 2 Satz 1 SBG V nicht schon dann vor, wenn die weitere Teilnahme am Reha-Sport in Gruppen medizinisch sinnvoll und empfehlenswert ist. Eine Notwendigkeit für die fortgesetzte Durchführung von Reha-Sport kann vielmehr nur dann bejaht werden, wenn die mit dem Reha-Sport anvisierten Ziele wie auch der rehabilitative Zweck desselben nur durch die weitere Teilnahme gerade am Rehabilitationssport erreicht werden können.
Das ist in Anbetracht der vorliegenden Erkrankungen und Funktionseinschränkungen der Klägerin nicht der Fall. Zum einen ist in keiner Weise erkennbar, dass die Klägerin Sport nur unter ärztlicher Betreuung und Überwachung in einer speziellen Rehabilitationsgruppe betreiben kann. Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb sie nicht auch die im Rahmen der Verordnung empfohlenen Aktivitäten – Gymnastik (auch im Wasser) – eigenständig etwa in einem Verein, Fitnessstudio oder bei einem anderen Anbieter betreiben könnte. Ein besonderes gesundheitliches Risiko, das jederzeit das Eingreifen eines Arztes erforderlich machen könnte, ergibt sich aus den vorliegenden Diagnosen nicht.
Außerdem ist angesichts der ärztlich festgestellten Funktionseinschränkungen bei der Klägerin (Wirbelsäule, Füße) nicht erkennbar, dass die Klägerin auf Reha-Sport angewiesen ist, um sich mit anderen vergleichbar Betroffenen gemeinsam sportlich betätigen zu können (rehabilitativer Zweck des Gemeinschaftserlebnisses). Auch wenn Reha-Sport keine Hilfe zur Selbsthilfe darstellt, die nur so lange gewährt werden kann, bis der Patient gelernt hat, die Übungen allein durchzuführen, bedeutet dies nicht, dass auf das Merkmal der Erforderlichkeit auch hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals „in Gruppen“ verzichtet werden könnte.
Der rehabilitative Zweck des Gemeinschaftserlebnisses ist besonders bei Sportarten nachvollziehbar, die ihrer Natur nach von mehreren Personen gemeinsam ausgeübt werden, wie z.B. Bewegungsspiele oder Rollstuhl-Basketball (letzteres im Fall des BSG, B 1 KR 8/10 R). Dies trifft auf Gymnastik nicht zu. Hier sind an die Darstellung der besonderen Bedeutung des Gemeinschaftserlebnisses hohe Anforderungen zu stellen, die im vorliegenden Fall nicht einmal ansatzweise erfüllt sind. So hat selbst der behandelnde Arzt Dr. M. im Verwaltungsverfahren auf die von der Beklagten gestellte Frage, ob die Verlängerung des Rehabilitationssports unter fachkundiger Anleitung und Überwachung in der Gruppe medizinisch notwendig sei, als Antwort „nein“ angekreuzt.
Unter diesen Umständen ist eine Beweiserhebung durch Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht geboten; es würde sich dabei um einen unzulässigen Ausforschungsbeweis, also um Ermittlungen ohne konkreten Anhaltspunkt („ins Blaue“) handeln (dazu B. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl., § 103 Rn. 8a m.w.N.).
Die Kostenentscheidung – die sich auf beide Rechtszüge bezieht – beruht auf § 193 SGG.
Gründe zur Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.


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