Medizinrecht

Schmerzensgeld für 73 Jahre alte Unfallverletzte bei Oberarmamputation und unfallunabhängigem Tod nach drei Jahren

Aktenzeichen  8 O 6262/20

Datum:
24.2.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 18137
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
Nürnberg-Fürth
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
BGB § 253

 

Leitsatz

65.000 EUR Schmerzensgeld für 73 Jahre alte Geschädigte, die aus unfallunabhängigen Ursachen drei Jahre nach dem Unfall verstarb, bei Polytrauma, Amputation des rechten Oberarmes und diversen Frakturen mit langem Krankenhaus- und Rehaaufenthalt, Rollstuhlpflichtigkeit sowie psychischen Problemen bei Vorerkrankungen (Atemwege, Herz, Wirbelsäule). (Rn. 17 – 25) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird verurteilt, an die Kläger als Gesamtgläubiger ein weiteres Schmerzensgeld in Höhe von 15.000,00 Euro zuzüglich Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem Basiszinssatz seit 23.12.2019 zu zahlen.
II.Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III.Von den Kosten des Rechtsstreits tragen die Kläger gesamtschuldnerisch 2/5 und die Beklagte 3/5.
IV.Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages.

Gründe

Die zulässige Klage ist teilweise begründet.
I.
Unter Berücksichtigung der festgestellten Primärverletzungen und Unfall(spät) folgen ist ein Schmerzensgeld von insgesamt 65.000,00 € notwendig, aber auch ausreichend.
Bei der Festsetzung der Entschädigung dürfen und müssen grundsätzlich alle in Betracht kommenden Umstände des Falles berücksichtigt werden (Pardey in: Geigel, Haftpflichtprozess, 28. Aufl. 2020, Kapitel 6, Rn. 35). Gefordert wird daher eine ganzheitliche Betrachtung der den Schadensfall prägenden Umständen (BGH, Beschluss v. 16.09.2016, Az.: VGS 1/16 = r+s 2017, 101; Palandt-Grüneberg, BGB, 80. Aufl. 2021, § 253, Rn. 15 m.w.N.). Das Gericht hat bei dieser Betrachtung der den Schadensfall prägenden Umstände unter Einbeziehung der absehbaren künftigen Entwicklung des Schadensbilds in erster Linie die Ausgleichsfunktion des Schadensersatzes zu beachten. Insoweit kommt es auf die Höhe und das Maß der Lebensbeeinträchtigung an. Maßgeblich sind Größe, Heftigkeit und Dauer der Schmerzen, Leiden, Entstellungen und psychische Beeinträchtigungen, wobei Leiden und Schmerzen wiederum durch die Art der Primärverletzung, die Zahl und Schwere der Operationen, die Dauer der stationären und der ambulanten Heilbehandlung, den Zeitraum der Arbeitsunfähigkeit und die Höhe des Dauerschadens bestimmt werden (vgl. zum Vorstehenden nur OLG Nürnberg, Urteil v. 23.12.2015, Az.: 12 U 1263/14 = NJW-RR 2016, 593 m.w.N.).
Berücksichtigt wurde vom Gericht insbesondere die schweren und äußerst schmerzhaften Primärverletzungen, die einen langen Krankenhaus- und Rehaaufenthalt nach sich zogen. Ebenfalls waren die bleibenden erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Verstorbenen zu sehen. Neben den zahlreichen unstreitigen Verletzungsfolgen geht das Gericht auch davon aus, dass sich bei der Verstorbenen eine posttraumatische Anpassungsstörung bei noch nicht abgeschlossener Krankheitsverarbeitung entwickelt hatte. Diese wurde im Arztbrief der L.-klinik H. in B. K. vom 13.12.2016 diagnostiziert und ist für das Gericht aufgrund der außergewöhnlich schweren Verletzungen auch nachvollziehbar.
Auf der anderen Seite zu sehen war, dass die Verletzungen durch einen fahrlässigen Unfall verursacht wurden, sodass die Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes nur von untergeordneter Bedeutung war.
Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes berücksichtigte das Gericht insbesondere die nachstehenden Urteile:
LG Hanau Urteil vom 15.07.1992 (Az.: 4 O 926/90, veröffentlicht in BeckRS 1992, 12601, gelistet in beck-online.SCHMERZENSGELD Nr. 1632): Schmerzensgeld in Höhe von 69.024,40 (bei 90% Haftung).
Aus den Entscheidungsgründen:
„Infolge des Anpralls stürzte der [damals 29jährige] Kläger mit dem Motorrad und wurde nach etwa 50 Metern nach rechts in eine Böschung geschleudert. Das vom Beklagten zu 1. gesteuerte Fahrzeug geriet in seiner Fahrtrichtung nach rechts von der Fahrbahn ab und kam vor einem Feld zum Stehen.
Der Kläger erlitt sehr schwere Verletzungen.
Sein linker Arm mußte im Schultergelenk amputiert werden. Außerdem erlitt er einen Bruch des linken Ober- und Unterschenkels mit einem Verlust der linken Kniescheibe und einer Zerstörung des Streckapparats des linken Kniegelenks. Sein linkes Bein ist gegenüber dem rechten Bein um 3,4 cm verkürzt. Im linken Kniegelenk und im linken oberen Sprunggelenk besteht eine starke Bewegungseinschränkung. Stumpfweichteile im Bereich des linken Schultergelenks erforderten mehrere plastische Korrekturmaßnahmen.
Der Kläger befand sich vom 31. August 1988 bis 23. Dezember 1988 in stationärer Behandlung […], davon die ersten drei Wochen wegen Lebensgefahr in der Intensivstation.“
LG Dortmund, Urt. v. 14.4.2016 (Az.: 4 O 230/13, NJOZ 2016, 964, gelistet in beck-online.SCHMERZENSGELD Nr. 5048): Schmerzensgeld in Höhe von 60.000,- €
Sachverhalt:
43j. Frau. Längere stationäre Heilbehandlung sowie 50 Tage Rehabilitaionsaufenthalt. Arzthaftung infolge eines Behandlungsfehlers im Zusammenhang mit einer Lymphknotenentfernung (sog. „Lymphknotenexstirpation“ rechts cervical), nach deren Durchführung der Kläger an Schmerzen im rechten Arm sowie einer Armhebeschwäche litt. Dauerschaden: Bewegungseinschränkung und Schmerzen im Bereich des rechten Arms; Schmerzen sowie Pflegebedüftigkeit bzw. auf Dauer ein Pflegefall in Bezug auf täglich zu verrichtende Arbeiten, wie Essenszubereitung, Toilettengang, Einkaufen etc. Hobbyaufgabe: Ihren Hobbys wie Malen, Spazierengehen und Fahrrad fahren, kann die Klägerin nicht mehr nachgehen. [Anmerkung: Das LG sah 80.000 EUR für angemessen an und führte aus, dass die Beklagte zu 2. nur anteilig in Höhe von 60.000,00 EUR haftet.]
LG Köln, Urteil vom 15.04.2010 (Az.: 5 O 36/09, veröffentlicht BeckRS 2011, 2593, gelistet in beck-online.SCHMERZENSGELD Nr. 4149): Schmerzensgeld in Höhe von 50.000,00 €.
Sachverhalt:
Die Klägerin erlitt schwere Verletzungen, insbesondere eine Beckenringfraktur, Rippenserienfraktur, Oberarm- und Ellenbogenfraktur, Fraktur beider Schlüsselbeine und eine Fraktur der Kniescheibe. Einzelne weitere Verletzungen der Klägerin und Folge- bzw. Dauerschäden aus dem Unfallgeschehen sind streitig. Die Klägerin befand sich in der Zeit vom 28.05. bis 10.07.2008 in stationärer Krankenhausbehandlung. Weitere Krankenhausaufenthalte und Operationen folgten.
Schmerzensgeld 50.000,- €.
OLG Hamm, Urteil vom 13.06.2017 (Az.: I-26 U 59/16, veröffentlich in juris): Schmerzensgeld in Höhe von 50.000,00 €.
Aus den Urteilsgründen:
Der am … 1963 geborene Kläger hat von der Beklagten wegen vermeintlicher ärztlicher Behandlungsfehler in der Hauptsache die Zahlung eines mit mindestens 50.000,00 EUR für angemessen gehaltenen Schmerzensgeldes und die Feststellung weitergehender Ersatzpflicht begehrt.

Es ist davon auszugehen, dass bei rechtzeitigen Erkennen des Kompartmentsyndroms frühzeitiger eine chirurgische Intervention erfolgt wäre. Die schon vorhandene Nekrotisierung hätte zwar beseitigt werden müssen, sie wäre dann aber nicht weiter fortgeschritten und hätte in geringerem Umfang ausgeräumt werden müssen. Die Amputation des Unterarmes wäre nicht erforderlich geworden. Zuzurechnen sind darüber hinaus die aus der Amputation resultierenden andauernden Phantomschmerzen und sonstigen zeitweilige Beschwerden am Armstumpf – und Wundheilungsstörungen, die sich im Anschluss an die Amputation gebildet haben. Daraus resultiert darüber hinaus ein Krankenhausaufenthalt vom 20.11.2012 bis zum 1.12.2012, bei dem eine operative Nachresektion des distalen Radiusendes, Neurolyse des Nervus ulnaris und eine Neuromexstirpation erfolgten. Ein weiterer Krankenhausaufenthalt wurde für die Zeit vom 27.11.2013 bis zum 4.12.2013 erforderlich, um eine neoelektrische Unterarmprothese anzupassen, eine schmerztherapeutische Konsiliarbehandlung und eine neurologische Konsiliarbehandlung durchzuführen. Daneben sind fortlaufende ambulante Vorstellungen zur Kontrolle notwendig.
Das Gericht hat sich an veröffentlichen Schmerzensgeldentscheidungen zu orientieren, um Rechtssicherheit, das heißt Verlässlichkeit der Rechtsprechung, herzustellen. Eine rechtspolitisch motivierte Fortentwicklung von Schmerzensgeldbeträgen steht dem Gericht als Teil der rechtsprechenden Gewalt verfassungsmäßig nicht zu.
Nach alledem erscheint eine weitere Schmerzensgeldzahlung in Höhe von 15.000,00 Euro notwendig, aber auch ausreichend zu sein. Die Geschädigte war zum Zeitpunkt des Unfalles 73 Jahre alt und litt – auch wenn ihre Lendenwirbelbehandlung ausgeheilt war – an zahlreichen Vorerkrankungen. Zwischen dem Unfallereignis und dem Ableben von Frau W. lagen lediglich drei Jahre. Anders als in den zitierten Entscheidungen musste die Klägerin daher nur einen relativ kurzen Lebensabschnitt mit den Verletzungen zurechtkommen. Dass hierdurch ihre letzten Lebensjahre erheblich beeinträchtigt wurden, wird nicht in Abrede gestellt.
Der Anspruch war zumindest seit 23.12.2019 gem. §§ 286 Abs. 1, 288 BGB zu verzinsen, nachdem die Beklagte zuvor Zahlungen über 50.000,00 € ernsthaft und endgültig abgelehnt hatte.
Im Übrigen war die Klage abzuweisen.
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 709 Satz 1 und Satz 2 ZPO.


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