Medizinrecht

Soziale Pflegeversicherung: Zu den Voraussetzungen einer Verzögerungszahlung

Aktenzeichen  L 5 P 11/16

Datum:
6.11.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 36359
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB I § 14
SGB XI § 18 Abs. 3b

 

Leitsatz

Die Pflegekassen müssen die Verzögerungszahlung nach § 18 Abs. 3b SGB XI leisten, wenn sie auf einen Leistungsantrag hin nur Formblätter übersenden, im Übrigen aber untätig bleiben (Revision zugelassen).
Für die Frage, ob die Grundvoraussetzungen einer Verzögerungszahlung nach § 18 Abs. 3b SGB XI vorliegen, ist unerheblich, dass später rückwirkend ab dem Zeitpunkt der Antragstellung Leistungen erbracht worden sind. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 13 P 165/15 2016-02-19 GeB SGWUERZBURG SG Würzburg

Tenor

I. Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 19.2.2016 sowie der Bescheid vom 17.2.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.12.2015 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin 70,00 € für jede angefangene Woche in der Zeit vom 9.7.2014 – 2.2.2015 zu zahlen; im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
II. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Instanzen.
III. Die Revision wird zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 151 SGG) und im Wesentlichen begründet. Der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten vom 17.2.2015 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 10.12.2015 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihrem Anspruch auf Verzögerungszahlung gem. § 18 Abs. 3b SGB XI. Die Entscheidung der Beklagten wird daher ebenso aufgehoben wie der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 19.2.2016 und die Beklagte entsprechend verurteilt. Maßgeblich für den Fristbeginn ist wegen des Verschuldenserfordernisses nicht der 20.5.2014, das Datum des Antragsschreibens, sondern der 4.6.2014, der Tag nach Antragseingang durch die Beklagte. Nur für die Zeit vom 20.5.2014 bis 4.6.2014 bleibt die Berufung ohne Erfolg.
1. Über die allgemeine, in § 9 Satz 2 SGB X geregelte Pflicht hinaus, das Verwaltungsverfahren zügig durchzuführen, enthält § 18 Abs. 3 SGB XI für die Pflegekassen besondere Pflichten zur Verfahrensbeschleunigung wie die Pflicht zur unverzüglichen Weiterleitung eines Antrags an den Gutachter sowie eine allgemeine Frist von 25 Arbeitstagen nach Antragstellung für die Bekanntgabe der Entscheidung. Falls die Fristen überschritten werden verstärkt § 18 Abs. 3b SGB XI (seit der Einfügung durch das Gesetz zur Neuausrichtung der Pflegeversicherung (Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz – PNG) vom 23.10.2012, BGBl I 2012, S. 2246) auch über die Untätigkeitsklage (§ 88 SGG) hinaus diese Pflichten durch eine Verzögerungszahlung von pauschal 70 € pro angefangener Säumniswoche. Die Fristberechnung richtet sich nach § 26 SGB X, §§ 187 ff. BGB.
Die Pflicht zur Verzögerungszahlung besteht nicht, wenn die Pflegekasse die Verzögerung nicht zu vertreten hat, etwa wenn der Antragsteller nicht rechtzeitig mitgewirkt hat (Roller in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XI, 2. Aufl. 2017, § 18 SGB XI, Rn. 40). In Zweifelsfällen hat nicht der Versicherte das Vertretenmüssen zu belegen, vielmehr muss sich die Pflegekasse exkulpieren (Wagner in: Hauck/Notz, SGB VII/15, § 18 SGB XI, Rz. 23a).
2. In Auswertung der Beklagtenakten sowie der Gerichtsakten beider Rechtszüge ist zur Anwendung dieser Rechtsgrundsätze festzustellen, dass die Klägerin am 20.5.2014 erstmals einen Antrag bei der Beklagten auf Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung gestellt hat mit den Worten: „hiermit beantrage ich Pflegeversicherungsleistungen“. Der Antrag enthielt die vollständige Adresse der Klägerin, die Versicherten-Nr. der Krankenkasse, die der Beklagten zugeordnet ist sowie die eigenhändige Unterschrift. Damit war ein Antrag iSd § 33 Abs. 1 S. 1 SGB XI, § 16 SGB I, § 9 Abs. 1 S. 1 SGB X vorhanden, welcher tatsächlich den Leistungsberechtigten und den Leistungserbringer sowie das Leistungsbegehren zweifelsfrei und unmissverständlich bezeichnet hat.
Dieser Antrag ist nach den unbestrittenen Angaben der Beklagten am 3.6.2014 eingegangen; Anhaltspunkte an diesem Eingangsdatum zu zweifeln, bestehen nicht.
In der Folge war die Beklagte wegen der zum Antragszeitpunkt nach dem Akteninhalt tatsächlich erfüllten versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, insbesondere der Vorversicherungszeit sowie nach den Feststellungen des MDK erfüllten gesundheitlichen Voraussetzungen der Pflegebedürftigkeit die entsprechenden Leistungen nach dem SGB IX zu erbringen. Dieser Pflicht hat die Beklagte entsprochen und mit rechtskräftigem Bescheid vom 30.1.2015 Leistungen, insbesondere Pflegegeld nach der Pflegestufe I und zwar rückwirkend ab 20.5.2014 bewilligt. Dies ist auch zwischen den Beteiligten nicht streitig.
3. Mit diesem Sachverhalt waren zugleich die Grundvoraussetzungen der Verzögerungszahlung nach § 18 Abs. 3b SGB XI erfüllt. Auf die rückwirkend zum 20.5.2014 erfolgte Leistungsbewilligung kommt es dabei nicht an. Für den Beginn der fünfwöchigen Frist war nach § 26 SGB X, §§ 187 ff. BGB der Tag nach dem Antragseingang, also der 4.6.2014 maßgeblich. Da die Beklagte fünf Wochen später keine Leistung erbracht hatte, beginnt die Pflicht zur Verzögerungszahlung ab dem Donnerstag, 9.7.2014. Sie endet mit der Bekanntgabe des nach Blatt 74 der reproduzierten Verwaltungsakte der Beklagten per Post an die Klägerin übersandten schriftlichen Bescheides vom Freitag, den 30.1.2015 am Montag den 2.2.2015. Anhaltspunkte für eine frühere oder spätere Bekanntgabe oder Kenntnisnahme sind nicht vorhanden.
4. Für ein fehlendes Verschulden der Beklagten, welches die Verzögerungszahlung ausschließt, lassen sich keine Anhaltspunkte finden. Denn die Beklagte war nach Übersendung der Antragsformulare einschließlich der schriftlichen Auskunfts- und Einwilligungsanforderung iSd § 18 Abs. 4 SGB IX, § 67b Abs. 2 S. 3 SGB X am 4.6.2014, welche die Klägerin auch erreicht haben, untätig geblieben.
Mit der Übersendung dieser Formblätter allein hatte die Beklagte ihre Pflichten, die aus dem Pflichtenkanon der Leistungsträger in §§ 14 -17 SGB I folgen, vorwerfbar nicht erfüllt. Denn die Beklagte war als zuständiger Leistungsträger der Pflegeversicherung konkret verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass die Klägerin die ihr zustehenden Leistungen zur Pflege in zeitgemäßer Weise, umfassend und zügig erhält. Diese Pflichten sind in § 18 Abs. 3 SGB IX aufgrund der besonderen Schutzbedürftigkeit der Versicherten nochmals verstärkt. Die Beklagte durfte nicht davon ausgehen, dass mit der Formblattübersendung alles Erforderliche getan war. Mit dem unzweideutigen Antrag auf Pflegeleistungen hat die Klägerin zu erkennen gegeben, dass sie (wohl) gesundheitlich nicht nur unwesentlich beeinträchtigt ist. Die Beklagte wäre deshalb verpflichtet gewesen, durch ein Wiedervorlagesystem wenigstens einmal nachzufassen und zu klären, ob die Antragsformulare auch angekommen sind oder ob Gründe für die Nichtrückleitung bestehen, welche die Beklagte ohne Weiteres zu beseitigen in der Lage ist. Dass in der Regel und nahezu in allen Fällen die Pflegebedürftigen die Formblätter ausfüllen und zurücksenden, entbindet die Beklagte nicht von diesen Pflichten. Das gilt ebenso für den Einwand der Beklagten, dass sie ohne die angeforderten Angaben und Einwilligungen der Klägerin nicht in der Lage gewesen wäre, den MDK mit der für alle Leistungen nach dem SGB XI erforderlichen Begutachtung zu beauftragen.
5. Auf Seiten der Klägerin ist kein das Verschulden der Beklagten beseitigendes oder konsumierendes Mitverschulden festzustellen. Zwar wäre es der Klägerin, welche ihre Verfahrensbevollmächtigte in dieser Sache durch Vollmachterteilung am 12.9.2014 mandatiert hatte, mit Sicherheit möglich gewesen, die erst Anfang Januar 2015 vorgenommene Formblattausfüllung und Unterzeichnung bereits geraume Zeit vorher durchzuführen und das Angeforderte an die Beklagte zeitnah zurückzuleiten. Nach der Konzeption des § 18 Abs. 3b SGB XI kann ein reines, unangemahntes Untätig-Sein der Versicherten das Unterlassen des erforderlichen Nachfassens nicht verdrängen.
Auf die Berufung der Klägerin hin war daher die Beklagte zur entsprechenden Verzögerungszahlung zu verurteilen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Sache hat grundsätzliche Bedeutung, so dass die Revision zugelassen wird, § 160 SGG.


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