Medizinrecht

Streitigkeit über die Erhöhung des Grades der Behinderung und Erteilung des Merkzeichens G

Aktenzeichen  S 19 SB 199/17

Datum:
28.2.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 54590
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB IX § 2 Abs. 1 S. 1, S. 2, § 152 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1. Die Bemessung des Gesamt-GdB hat in mehreren Schritten zu erfolgen und ist tatrichterliche Aufgabe (Bundessozialgericht – BSG – Beschluss vom 09.12.2010 – B 9 SB 35/10 B m.w.N.; Landessozialgericht – LSG – Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 – L 13 SB 127/11 juris Rn. 32). (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
2. Schließlich ist unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen in einer Gesamtschau der Gesamt-GdB zu bilden (BSG Urteil vom 30.09.2009 – B 9 SB 4/08 R juris Rn. 18 m.w.N.; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 – L 13 SB 127/11 juris Rn. 32). (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage gegen den Bescheid vom 12. Mai 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Mai 2017 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

Die Kammer konnte auch ohne die Anwesenheit der Klägerin verhandeln und entscheiden, da sie in der ordnungsgemäßen Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs wäre nur dann verletzt, wenn die Klägerin ihren Willen zum Ausdruck gebracht hätte, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen. Dies ist jedoch nicht der Fall.
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Der Bescheid vom 12.05.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.05.2017 ist rechtmäßig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erhöhung des Gesamt-GdB von 50 auf 80. Die bei ihr vorliegenden Gesundheitsstörungen sind mit einem Gesamt-GdB von 50 ausreichend bewertet. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen G liegen nicht vor.
Nach § 2 Abs. 1 S. 1 Sozialgesetzbuch – Neuntes Buch (SGB IX) sind Menschen behindert, wenn sie körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Gemäß § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wird auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und der Grad der Behinderung zum Zeitpunkt der Antragstellung festgestellt. Gemäß Satz 5 der Vorschrift werden die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als Grad der Behinderung nach 10er Graden abgestuft dargestellt. Die Bemessung des Gesamt-GdB hat in mehreren Schritten zu erfolgen und ist tatrichterliche Aufgabe (Bundessozialgericht – BSG – Beschluss vom 09.12.2010 – B 9 SB 35/10 B m.w.N.; Landessozialgericht – LSG – Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 – L 13 SB 127/11 juris Rn. 32). Zunächst sind unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens die einzelnen, nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen, von der Norm abweichenden Zuständen gemäß § 2 Abs. 1 Satz 2 SGB IX festzustellen. Sodann sind diese den in den Teil A Ziffer 3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätzen genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. [Die Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) sind Anlage zu § 2 der aufgrund § 30 Abs. 16 Bundesversorgungsgesetzes (BVG) erlassenen Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (BGBl. I 2008, S. 2412 – Versorgungsmedizin-Verordnung) vom 10.12.2008. Diese kommen wegen §§ 153 Abs. 2 und 241 Abs. 5 SGB IX auch zur medizinischen Bewertung des Behindertengrades und der medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen zur Anwendung.] Schließlich ist unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen in einer Gesamtschau der Gesamt-GdB zu bilden (BSG Urteil vom 30.09.2009 – B 9 SB 4/08 R juris Rn. 18 m.w.N.; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 – L 13 SB 127/11 juris Rn. 32). Nach Teil A Ziffer 3 der VMG sind zur Ermittlung des Gesamt-GdB rechnerische Methoden, insbesondere eine Addition der Einzel-GdB, nicht zulässig. Vielmehr ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Hierbei ist gemäß Teil A Ziffer 3 lit. d) ee) der VMG zu beachten, dass leichtere Gesundheitsstörungen mit einem Einzel-GdB von 10 nicht zu einer Erhöhung des Gesamt-GdB führen, selbst wenn mehrere dieser leichteren Behinderungen kumulativ nebeneinander vorliegen. Auch bei Leiden mit einem Einzel-GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine Zunahme des Gesamtausmaßes der Behinderung zu schließen.
Die anspruchsbegründenden Tatsachen sind, dies gilt nach allgemeinen Grundsätzen des sozialgerichtlichen Verfahrens auch im Schwerbehindertenrecht, grundsätzlich im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachzuweisen (vgl. BSG Urteil vom 15.12.1999 – B 9 VS 2/98 R juris Rn. 14; Bayerisches LSG Urteile vom 18.06.2013 – L 15 BL 6/10 und vom 05.02.2013 – L 15 SB 23/10= juris). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000 – B 9 VG 3/99 R), d.h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993 – 9/9a RV 1/92 juris Rn. 14). Lässt sich der Vollbeweis nicht führen, geht die Nichterweislichkeit einer Tatsache zu Lasten dessen, der sich zur Begründung seines Anspruchs oder rechtlichen Handelns auf ihr Vorliegen stützen.
Im vorliegenden Fall steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass der Klägerin kein höherer Gesamt-GdB als 50 zusteht. Dem liegen folgende von der Kammer angenommene Einzel-GdB zu Grunde:
1. Somatoforme Schmerzstörung, 30.
2. Degenerative Veränderungen der Hals- und Lendenwirbelsäule mit mäßig gradigen Funktionseinschränkungen, ohne neurologische Auffälligkeiten, nach zweimaliger Bandscheibenoperation, 30.
Der Einzel-GdB für die seelische Störung ergibt sich aus dem vom Gericht auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 SGG eingeholten Gutachten des Dr. N. vom 09.11.2018. Der Einzel-GdB für die Wirbelsäule ergibt sich aus dem vom Gericht von Amts wegen eingeholten Gutachten des Dr. M. vom 08.11.2017.
Die von diesen Sachverständigen über den Gesundheitszustand der Klägerin abgegebenen Beurteilungen sind überzeugend, weil sie sich folgerichtig aus den nach den Regeln der medizinischen Wissenschaft erfolgten Würdigung der anamnestischen Angaben der Klägerin, den aktuellen klinischen Untersuchungsbefunden unter Berücksichtigung aller vorliegenden ärztlichen Befundberichte ergeben.
Die Einschätzung des Dr. M. hinsichtlich der seelischen Störung in Form der somatoformen Schmerzstörung mit einem Einzel-GdB von 40 wird für weniger überzeugend gehalten, wie die Einschätzung von Dr. N. mit einem Einzel-GdB von 30.
Es ist nach B 3.7 der VMG bei leichteren psychovegetativen oder psychischen Störungen ein Einzel-GdB von 0-20 anzunehmen, erst bei dem Hinzukommen von einer wesentlichen Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit ist ein Einzel-GdB von 30-40 zu vergeben. Der Einzel-GdB von 40 setzt voraus, dass die wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit sehr stark ausgeprägt ist. Erst ab dem Vorliegen von mittelgradigen Anpassungsschwierigkeiten ist von einem Einzel-GdB von 50 für eine seelische Störung auszugehen. Im vorliegenden Fall ist zwar noch von einer wesentlichen Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit auszugehen, aber nicht davon, dass diese besonders stark ausgeprägt ist.
Die Klägerin nimmt keinerlei Schmerzmittel ein, wie es von beiden Gutachtern festgestellt worden ist. Tilidin ist nach Angaben der Klägerin im März 2017 abgesetzt worden, Lyrika im Jahr 2015. Dr. N. führt aus, dass es unverständlich ist, warum im vorliegenden Fall kein Antidepressivum verordnet worden ist, was bei Schmerzpatienten zum Standard der Schmerztherapie gehört. Der Vortrag der Klägerin, dass aufgrund von Schmerzmitteln die Untersuchungsergebnisse verfälscht seien, ist damit nicht nachvollziehbar. Der Vortrag, dass die Klägerin aufgrund der Einnahme von Schmerzmitteln kein Auto fahren würde, wird nach der gutachterlichen Feststellung, dass die Klägerin keine entsprechende Medikation enthält, anders begründet. Sämtliche Schmerztherapeuten, die die Klägerin allesamt in der Zeit bis zum Jahr 2015 behandelt haben vertraten die Ansicht, dass eine psychotherapeutische Behandlung zur Traumabewältigung notwendig ist. Eine entsprechende Behandlung ist aber dann bis heute nicht durchgeführt worden. Seit 2015 wird keine Schmerztherapie mehr durchgeführt. Eine Anbindung an einen Arzt für Psychiatrie und Neurologie besteht nicht. Der Gutachter führt aus, dass er den Eindruck hat, dass die Klägerin auch keine Notwendigkeit für eine entsprechende Behandlung gesehen hat, da sie in ihrem Krankheitsmodell stark organisch orientiert ist. Die Angaben der Klägerin über ihren Tagesablauf sowie ihr Freizeitverhalten geben keinen Anlass, an der Einschätzung mit einem Einzel-GdB von 30 zu zweifeln. Dass Dr. N. bei der Untersuchung keine Hinweise für ein manifestes Schmerzverhalten gefunden hat, obwohl von der Klägerin starke Schmerzen angegeben worden sind sowie die fehlende Behandlung des Schmerz-Syndroms sprechen gegen einen hohen Leidensdruck und somit gegen einen höheren Einzel-GdB. Im Einzel-GdB von 30 für die seelische Störung enthalten ist mit dem Gutachter Dr. N. auch die Trigeminus-Neuropathie, sowie eine Stressinkontinenz. Es konnten von Dr. N. keine neurologischen Defizite nachgewiesen werden, die genannten Erkrankungen sind aus seiner Sicht psychosomatisch bedingt. Auch die Depressionen sind in dieser Bewertung bereits enthalten. Nach dem psychiatrischen Befund war die Klägerin bei der wach, bewusstseinsklar und zu den Grundqualitäten orientiert. Mnestische Defizite konnten nicht gefunden werden. Auch im Zeitgitter waren keine Störungen feststellbar. Die Konzentration und Aufmerksamkeit wirkten leichtgradig vermindert. Im formalen Denkablauf fand sich eine Tendenz zur Weitschweifigkeit. Die Klägerin war aber jederzeit in ihren Ausführungen begrenzbar. Es gab keinen Anhalt für inhaltliche Denkstörungen, Wahrnehmungsstörungen oder ich Störungen. Im täglichen Denken fand sich eine ausgeprägte Fixierung auf die körperlichen Beschwerden bei gleichzeitig bestehender Klagsamkeit. Psychomotorische wirkte die Klägerin in der Untersuchung bei Dr. N. eher ausgeglichen. Der Antrieb war ungestört. Die Stimmung war während der Untersuchung nicht erkennbar zum Depressiven verschoben, die affektive Schwingungsfähigkeit erhalten. Es gab keinen Anhalt für generalisierter Ängste oder Phobien. Keine Hinweise für Zwangsgedanken oder Zwangsverhalten. Keine latente oder manifeste Suizidalität. Im Rahmen der Befragung fanden sich keine Hinweise für manifestes Schmerzverhalten. Im Rahmen der Untersuchung fanden sich keine ausreichenden Hinweise für das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung. Von einer stark ausgeprägten, wesentlichen Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit ist damit insgesamt nicht auszugehen, ein Einzel-GdB von 30 ist ausreichend, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden.
Der Einschätzung von Dr. M. hinsichtlich eines Einzel-GdB von 30 für degenerative Veränderungen an der Wirbelsäule kann grenzwertig noch gefolgt werden.
Für die Bewertung der Funktionsbeeinträchtigung der Wirbelsäule ist Teil B 18.9 der VMG maßgeblich. Demnach ergibt sich der GdB bei angeborenen und erworbenen Wirbelsäulenschäden (einschließlich Bandscheibenschäden, Scheuermann-Krankheit, Spondylolisthesis, Spinalkanalstenose und dem sogenannten Postdiskotomiesyndrom) primär aus dem Ausmaß der Bewegungseinschränkung, der Wirbelsäulenverformung und -instabilität sowie aus der Anzahl der betroffenen Wirbelsäulenabschnitte.
Ein Einzel-GdB von 30 entspricht einem Wirbelsäulenschaden mit mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) in zwei Wirbelsäulenabschnitten. Begründet werden kann die Bewertung mit einem Einzel-GdB von 30 damit, dass die Beweglichkeit bei der Untersuchung durch Dr. M. am 12.01.2017 der Brustsowie der Lendenwirbelsäule die Drehung und Neigung nach beiden Seiten um ein Viertel eingeschränkt war, der Finger-Bodenabstand 30 betrug, Schober 10/13. Die Kammer verkennt nicht, dass der Einzel-GdB von 30 vor dem Hintergrund, dass zuvor in der Untersuchung bei Dr. N. am 08.03.2017 hinsichtlich aller Wirbelsäulenabschnitte eine uneingeschränkte Beweglichkeit festgestellt wurde, nicht voll ausgefüllt ist.
Nach der Feststellung von zwei Einzel-GdB in Höhe von 30, kann im vorliegenden Fall grenzwertig noch en Gesamt GdB von 50 angenommen werden, was er aktuellen Feststellung durch den Beklagten entspricht.
Die Voraussetzungen für das Merkzeichen G liegen nach Einschätzung beider Gutachter nicht vor. Dieses Merkzeichen steht schwer behinderten Menschen mit einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr im Sinne von § 229 Abs. 1 SGB IX zu. Demnach ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.
Dr. M. führt aus, dass das Gehvermögen der Klägerin nicht eingeschränkt ist. Es fanden sich weder an den Kniegelenken, an den Hüftgelenken, noch an den Sprunggelenken wesentliche Auffälligkeiten. Kardiologisch, pneumologisch oder neurologisch haben sich ebenfalls keine Befunde ergeben, die eine Einschränkung der Wegefähigkeit begründen ließe.
Die Klage war nach alledem abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.


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