Medizinrecht

Verpflichtungsklage auf Aufhebung einer Radwegbenutzungspflicht

Aktenzeichen  M 23 K 20.467

Datum:
11.8.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 21029
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVO § 45 Abs. 1 S. 1, Abs. 9 S. 1

 

Leitsatz

1. Ändern sich nach Aufstellung eines Verkehrszeichens die tatsächlichen Verkehrsverhältnisse, kann ein Verkehrsteilnehmer trotz Ablaufs der für eine Anfechtungsklage eigentlich geltenden Klagefrist von grundsätzlich einem Jahr gegen das – aus seiner Sicht nunmehr nachteilige – Verkehrszeichen bei der zuständigen Behörde die Aufhebung der Anordnung oder eine ermessensfehlerfreie Neuentscheidung beantragen und so eine Überprüfung bereits bestandskräftiger verkehrsrechtlicher Anordnungen mittels einer auf § 45 StVO gestützten Verpflichtungsklage als Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung erreichen (vgl. OVG Lüneburg, B. v. 5.12.2003 – 12 LA 467/03, BeckRS 2004, 20163; OVG NRW, B. v. 22.3.2017 – 8 A 1256/14, BeckRS 2017, 105656).(Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei der Beurteilung der örtlichen Gefahrenlage maßgeblich zu berücksichtigen ist, ob die Mitbenutzung der Fahrbahn durch Radfahrer zu einer Gefährdungssituation führen würde, die auch mit Blick auf eine Gefährdung bei Benutzung des Radwegs (etwa durch dessen Wegführung und Konfliktpotenzial mit anderen Verkehrsarten) nicht hinnehmbar ist, also sich die aus der Mitbenutzung der Fahrbahn durch Radfahrer ergebende Gefahr gegenüber der sich aus der Radwegbenutzung ergebenden Gefahr deutlich steigert (vgl. BVerwG, B. v. 16.4.2012 – 3 B 62/11, BeckRS 2012, 51761; BayVGH, U. v. 6.4.2011 – 11 B 08.1892,BeckRS 2011, 49779; B. v. 4.12.2014 – 11 ZB 14.189, BeckRS 2014, 59679).     (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird verpflichtet, den Antrag des Klägers vom 17. September 2019 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts ermessensfehlerfrei zu bescheiden.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Der Klageantrag war sachdienlich (§ 86 Abs. 1, § 88 VwGO) als Verpflichtungsklage in Form der Versagungsgegenklage gem. § 42 Abs. 1 Var. 2 VwGO auszulegen. Zwar hat die Beklagte den Antrag des Klägers nicht förmlich verbeschieden. Indem sie sich aber schriftsätzlich und auch in der mündlichen Verhandlung inhaltlich mit der Sache befasst und kundgetan hat, dass sie an der verkehrsrechtlichen Anordnung bzw. an der vorhandenen Beschilderung festhält, liegt eine verbindliche ablehnende Sachentscheidung vor, die keinen Raum (mehr) für die ursprünglich erhobene reine Untätigkeitsklage gem. § 75 VwGO lässt.
Die nach dieser Maßgabe auszulegende Klage hat auch Erfolg.
Die Klage ist zulässig. Der Kläger ist für die begehrte und statthafte Bescheidungsklage klagebefugt (§ 42 Abs. 1 Var. 2, Abs. 2 VwGO), da er geltend macht, durch die auf dem streitgegenständlichen Straßenabschnitt angebrachten Zeichen 237 der Anlage 2 zu § 41 Abs. 1 StVO als Verkehrsteilnehmer in seinem aus Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz folgendem Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit verletzt zu sein.
Ändern sich nach Aufstellung eines Verkehrszeichens – wie unstreitig hier mit Einführung der sog. unechten Einbahnregelung – die tatsächlichen Verkehrsverhältnisse, kann ein Verkehrsteilnehmer trotz Ablaufs der für eine Anfechtungsklage eigentlich geltenden Klagefrist von grundsätzlich einem Jahr gegen das – aus seiner Sicht nunmehr nachteilige – Verkehrszeichen bei der zuständigen Behörde die Aufhebung der Anordnung oder eine ermessensfehlerfreie Neuentscheidung beantragen und so eine Überprüfung bereits bestandskräftiger verkehrsrechtlicher Anordnungen mittels einer auf § 45 StVO gestützten Verpflichtungsklage als Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung erreichen (vgl. OVG Lüneburg, B.v. 5.12.2003 – 12 LA 467/03 – juris; OVG NRW, B.v. 22.3.2017 – 8 A 1256/14 – juris; VG Freiburg, U.v. 15.3.2007 – juris Rn. 22 ff.; VG Gelsenkirchen, U.v. 1.12.2009 – 14 K 5458/08 – juris Rn. 56; BeckOK StVR, 7. Ed. 1.4.2020, StVO § 39 Rn. 75).
Diese Klage ist auch vorliegend begründet, da der Kläger nach wie vor Anspruch auf Bescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts gemäß § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO hat.
Die in der Klageerwiderung kundgetane Ablehnung ist rechtswidrig, weil die Beklagte unrichtige Tatsachen zugrunde gelegt hat und damit die gerichtlich überprüfbaren gesetzlichen Grenzen des ihr zustehenden Ermessens überschritten hat, § 114 Satz 1 VwGO. Der klägerische Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung wurde somit in der Folge noch nicht erfüllt.
Da die Beklagte mit ihrer in der Klageerwiderung kundgetanen Ablehnung des Antrags verkennt, dass für die Straße „O.-platz“ seit 1998 entgegen ihrer ursprünglichen Annahme keine Radwegbenutzungspflicht mehr besteht, ist sie von unzutreffenden Tatsachengrundlagen ausgegangen. Denn tatsächlich hat die Beklagte mit der verkehrsrechtlichen Anordnung vom … Juni 1998 lediglich für die L.-straße, nicht aber für den O.-platz, eine Radwegbenutzungspflicht angeordnet. Alle nicht in dieser Anordnung aufgeführten Straßen hat die Beklagte von der Radwegbenutzungspflicht ausgenommen. Dass die für die L.-straße angeordnete Radwegbenutzungspflicht auch für die Straße „O.-platz“ gelten sollte, ist mangels ihrer Nennung im abschließenden Straßenkatalog nicht – auch nicht durch Auslegung – ersichtlich bzw. ermittelbar, selbst wenn die Straße „O.-platz“ – möglicherweise in unrichtiger landläufiger Annahme, es handle sich bei dem gesamten Straßenabschnitt um die L.-straße – lediglich versehentlich nicht benannt wurde. Auch die verkehrsrechtliche Anordnung vom … Mai 2016 enthält ersichtlich keine Radwegbenutzungspflicht. Es hätte einer ausdrücklichen Anordnung der Radwegbenutzungspflicht durch die Zeichen 237, 240 oder 241 für konkret benannte und bestimmte Straßen(abschnitte) bedurft. Hieran fehlt es beiden Anordnungen jedenfalls im Hinblick auf die Straße „O.-platz“. Die sich aus der fehlenden Anordnung ergebende Folge ist die Unwirksamkeit der örtlich aufgestellten Zeichen 237 auf der Straße „O.-platz“. Es handelt sich mithin bei den betroffenen Verkehrszeichen lediglich um Scheinverwaltungsakte, die von den Verkehrsteilnehmern (bereits seit 22 Jahren) nicht befolgt werden müssen und auf deren Grundlage keine Ordnungswidrigkeit geahndet werden kann und konnten (vgl. BayVGH, B.v. 22.4.2013 – 11 B 12.2671 – juris Rn. 24 m.w.N.; BeckOK StVR, 8. Ed. 1.7.2020, StVO § 39 Rn. 35).
Diese fehlerhafte Annahme der Beklagten einer wirksamen Radwegbenutzungspflicht auf der Straße „O.-platz“ wirkt sich in der Folge auf die Entscheidung über die Aufrechterhaltung der tatsächlich am … Juni 1998 angeordneten Radwegbenutzungspflicht, nämlich im nördlichen Bereich auf der L.-straße zwischen der V.-Straße und G.-straße, aus, da die Beklagte ihrer einheitlich getroffenen Ablehnungsentscheidung den gesamten streitgegenständlichen Straßenabschnitt zugrunde gelegt hat und dabei als wesentlichen Gesichtspunkt eine Gefahrenlage im Knotenpunkt „B.- Straße/O.-platz/H.-straße/R.-straße“ herangezogen hat. Ohne erfolgte verkehrsrechtliche Anordnung im südlich der G.-straße gelegenen Straßenabschnitt „O.-platz“, lässt sich die für diesen Bereich von der Beklagten angenommene Gefahrenlage nicht ohne weiteres auf den – dann nämlich isoliert zu betrachtenden – nördlichen Teil übertragen, da die Beklagte ausweislich ihrer in der Klageerwiderung kundgetanen Ablehnung erkennbar von einem einheitlich zu betrachtenden Regelungsabschnitt ausgegangen ist, dessen Gefahrenlage vorwiegend im südlichen Bereich begründet ist. Der klägerische Anspruch wurde daher bislang nicht rechtsfehlerfrei erfüllt.
Bei einer erneuten Befassung und Entscheidung wird die Beklagte zu berücksichtigen haben, dass die aktuell vorzufindende Verkehrssituation bis zum Kreuzungsbereich L.-straße/V.-Straße eine Radwegbenutzungspflicht bei isolierter Betrachtung mangels Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzung des § 45 Abs. 9 Satz 1 und 3 StVO schwerlich tragen dürfte, um eine auf Grund besonderer örtlicher Verhältnisse bestehende Gefahrenlage, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung geschützter Rechtsgüter erheblich übersteigt, zu beseitigen. Vielmehr hat die Inaugenscheinnahme gezeigt, dass die Fahrbahn im streitgegenständlichen Straßenabschnitt Richtung Norden aufgrund der Einbahnregelung auf der B.- Straße allenfalls eine mäßige bis sehr geringe Auslastung mit Kraftfahrzeugen aufweist, ohne dass diese ein gefahrenträchtiges Konfliktpotential mit dem auf der Fahrbahn potentiell möglichen Radverkehr birgt. Ein sich bei Zulassung des Radverkehrs auf der Fahrbahn ergebender Mischverkehr wird zudem durch die mehrspurige Fahrbahn entzerrt. Die Beklagte wird insoweit – etwa durch Einholung einer polizeilichen Stellungnahme oder sonstiger sachverständiger Beurteilung – zu prüfen haben, ob eine Steigerung der Unfallgefahr zwischen dem Radverkehr und dem rechtsabbiegenden sonstigen Kraftfahrzeugverkehr gegenüber der aktuellen verkehrsrechtlichen Regelung zu erwarten ist, etwa durch einen toten Winkel bzw. inwieweit die Trennung zwischen motorisiertem und muskelbetriebenem Verkehr trotz der Mehrspurigkeit der L.-straße noch zu rechtfertigen ist. Insoweit ist aber anzumerken, dass alleine das seit Einführung der unechten Einbahnregelung erheblich zurückgegangene (Kraftfahrzeug-)Verkehrsaufkommen keine besonderen örtlichen Verhältnisse i.S.d. § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO begründen dürfte, da der signalisierte Kreuzungsbereich gegenüber anderen innerstädtischen Kreuzungsbereichen keine gefahrerhöhenden Besonderheiten aufweist.
Der Beklagten bleibt es weiterhin unbenommen, erneut und unter Zugrundelegung eines einheitlichen Regelungsabschnitts eine Gesamtbetrachtung (BVerwG, U.v. 18.11.2010 – 3 C 42.09 – juris) der örtlichen Gefahrenlage vorzunehmen und der Neuverbescheidung die jeweils aktuelle verkehrsrechtliche Lage zugrunde zu legen. Dabei wird die Beklagte aber zu berücksichtigen haben, ob der durch Rad- und Fußgängerverkehr stark frequentierte Fußgänger- und Radfahrerbereich unmittelbar vor der Kreuzung H.–/R.-straße und das dort somit auch aktuell ersichtlich bestehende Konfliktpotential entzerrt werden kann, indem der aus der B.- Straße stadtauswärts Richtung Norden verkehrende Radverkehr auf der Fahrbahn des O.-platz geführt wird. Denn maßgeblich zu berücksichtigen ist, ob die Mitbenutzung der Fahrbahn durch Radfahrer zu einer Gefährdungssituation führen würde, die auch mit Blick auf eine Gefährdung bei Benutzung des Radwegs (etwa durch dessen Wegführung und Konfliktpotenzial mit anderen Verkehrsarten) nicht hinnehmbar ist, also sich die aus der Mitbenutzung der Fahrbahn durch Radfahrer ergebende Gefahr gegenüber der sich aus der Radwegbenutzung ergebenden Gefahr deutlich steigert (vgl. BVerwG, B.v. 16.4.2012 – 3 B 62/11 – juris Rn. 8; BayVGH, U.v. 6.4.2011 – 11 B 08.1892 – juris Rn. 38; B.v. 4.12.2014 – 11 ZB 14.189 – juris Rn. 11). Angemerkt sei zudem, dass es aufgrund des baulich bereits angelegten Radwegs neben der Straße „O.-platz“ Richtung Norden nicht fernliegend erscheint, dass der aus der R.-straße oder der H.-straße Richtung Norden verkehrende Radverkehr diesen nördlich führenden Radweg auch ohne Radwegbenutzungspflicht benutzen wird. Die Beklagte ist ohne verkehrsrechtliche Anordnung ohnehin vom Amts wegen verpflichtet, die unwirksamen Zeichen 237 auf der Straße „O.-platz“ zu entfernen bzw. abzudecken. Diesen Umstand könnte die Beklagte sinnvoll nutzen, um die tatsächliche Erforderlichkeit vor der bereits angekündigten Anordnung einer Radwegbenutzungspflicht für die Straße „O.-platz“ durch Erprobung zu prüfen.
Aufgrund des auf unzutreffendem Tatsachenmaterial fußenden Ermessensdefizits war der Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO und mit dem Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 ff. ZPO stattzugeben und die Beklagte zu verpflichten, über den Antrag des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu und ermessensfehlerfrei zu entscheiden.
Da der Kläger in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich keine Verpflichtung der Beklagten zur Entfernung der unwirksamen Zeichen 237 beantragt hat, bedurfte es hierzu keines Ausspruchs nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Gleichwohl ist von der Beklagten als Hoheitsträger zu erwarten, umgehend einen rechtskonformen Zustand herzustellen, der derzeit bei weiterhin fehlender verkehrsrechtlicher Anordnung einzig in der Entfernung bzw. Unkenntlichmachung der unwirksamen Zeichen bestehen kann.


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