Medizinrecht

Versorgung mit Cannabisblüten

Aktenzeichen  S 28 KR 1060/18

Datum:
22.11.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 31460
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 13 Abs. 3 lit. a, § 31 Abs. 6
BtMVV § 8 Abs. 1, § 9 Abs. 1 Nr. 5

 

Leitsatz

Die Vorlage einer vertragsärztlichen Verordnung als Voraussetzung einer Genehmigung nach § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V bzw. als Voraussetzung für einen fiktionsfähigen Antrag ist nicht notwendig.  (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 26.10.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5.6.2018 wird aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die Klägerin nach vertragsärztlicher Verordnung mit Cannabisblüten zu versorgen sowie ihr die nach Eintritt der Genehmigungsfiktion entstandenen Kosten i.Hv. 1.316,87 € zu erstatten. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Gründe

Die Klage ist zulässig und weit überwiegend begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 26.10.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5.6.2018 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Versorgung mit Cannabisblüten (nach vertragsärztlicher Verordnung) sowie auf Kostenerstattung für selbst beschaffte Cannabisblüten ab dem 23.8 2017 i.H.v. 1.316,87 €.
Die Zulässigkeitsvoraussetzungen liegen allesamt vor.
Die Klage ist auch überwiegend begründet. Die Genehmigungsfiktion ist gem. § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V eingetreten. Die Klägerin hat zudem einen Anspruch auf Kostenerstattung gem. § 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V.
Die Tatbestandsvoraussetzungen für die Genehmigungsfiktion gem. § 13 Abs. 3a SGB V liegen allesamt vor.
Insbesondere ist in dem am 18.7.2017 bei der Beklagten eingegangenen Antrag ein hinreichend bestimmter Antrag zu sehen (vgl. hierzu näher BSG, Urteil vom 11.7.2017, Az. B 1 KR 26/16 R, Rn. 17ff.). Der von dem Vertragsarzt Dr. C. ausgefüllte Arztfragebogen enthält Angaben zu den begehrten Wirkstoffen (später eingeschränkt auf Bedrocan), zur gewünschten Darreichungsform (Cannabisblüten zur Inhalation) sowie zur monatlichen Dosis (50g); desweiteren enthält er Ausführungen zum Vorliegen der Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 SGB V. Daraus ergibt sich hinreichend bestimmt der Antrag der Klägerin auf Versorgung mit Cannabisblüten zur Inhalation.
Der hinreichenden Bestimmtheit des Antrags steht nicht entgegen, dass der ausgefüllte Arztfragebogen keine Gebrauchsanweisung mit Einzel- und Tagesgabe bzw. keinen Hinweis auf eine schriftliche Gebrauchsanweisung enthält. Dies ist zwar gem. § 9 Abs. 1 Nr. 5 BtMVV auf dem Betäubungsmittelrezept anzugeben. Nach der Rechtsprechung des BSG genügt es aber insoweit, dass das Behandlungsziel klar ist, auch „wenn Patienten zur Konkretisierung der Behandlungsleistung auf die Beratung des behandelnden Arztes angewiesen sind“ (BSG, ebenda, Rn. 18; darauf verweist auch SG Aachen, Urteil vom 28.11.2017, Az. S 14 KR 311/17, Rn. 35).
Nach Auffassung der Kammer steht der Annahme eines hinreichend bestimmten Antrags auch nicht entgegen, dass dem Antrag keine vertragsärztliche Verordnung auf Betäubungsmittelrezept beigefügt war.
Die Beklagte beruft sich auf die Auffassung, dass ein Anspruch auf Versorgung mit Cannabisblüten infolge der Regelung des § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V, die die Genehmigung einer Arzneimittelverordnung vorsieht, eine vertragsärztliche Verordnung voraussetzt (LSG Baden Württemberg, Beschluss vom 19.9.2017, Az. L 11 KR 3414/17 ER-B, Rn. 24; BayLSG, Beschluss vom 23.5.2018, Az. L 5 KR 190/18 B ER, Rn. 24). Damit setzt sie sich in Widerspruch zu ihrem Handeln im Verwaltungsverfahren, in dem sie offensichtlich nicht von der Notwendigkeit der Vorlage einer vertragsärztlichen Verordnung ausgegangen ist. Denn in dem von ihr verwendeten Arztfragebogen wird ausdrücklich danach gefragt, welches Produkt verordnet werden „soll“ (BayLSG, Beschluss vom 7.8.2018, Az. L 20 KR 215/18 B ER, Rn. 30). Würde man hier der Auffassung folgen, dass eine vertragsärztliche Verordnung zur Erfüllung der Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 SGB V vorgelegt werden muss, stünde vorliegend auch die Frage einer fehlerhaften Beratung der Beklagten – und daran anschließend die Frage eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs – im Raum, da die Beklagte die Klägerin nicht auf das Verordnungserfordernis hingewiesen hat.
Nach Überzeugung der Kammer ist hingegen die Vorlage einer vertragsärztlichen Verordnung als Voraussetzung einer Genehmigung nach § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V bzw. als Voraussetzung für einen fiktionsfähigen Antrag nicht notwendig. Hiergegen spricht vor allem, dass die vertragsärztliche Verordnung auf Betäubungsmittelrezept (§ 8 Abs. 1 BtMVV) erfolgen muss und dieses nur sieben Tage nach Ausstellung gültig ist (§ 12 Abs. 1 Nr.1 c) BtMVV). Eine ausgestellte vertragsärztliche Verordnung würde somit regelmäßig „verfallen“, da eine Prüfung durch die Krankenkassen, zumeist unter Einschaltung des Medizinischen Dienstes, (deutlich) länger als eine Woche dauert. Zudem bestünde die Gefahr, dass sich ein Versicherter mit Hilfe der Verordnung unabhängig von der Erteilung einer Genehmigung das verordnete Cannabisprodukt in der Apotheke beschafft (Knispel, GesR 2018, 273, 277). Schließlich gilt zu berücksichtigen, dass Gegenstand der Genehmigung nach § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V lediglich die Versorgung mit Cannabis in der beantragten Form („in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon“) ist, nicht jedoch weitere Faktoren wie Wirkstoff, Dosis etc. (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 5.1.2018, Az. L 11 KR 405/17 B ER, Rn. 50).
Der Antrag der Klägerin betrifft auch eine Leistung, die sie für erforderlich halten durfte und die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung liegt (vgl. BSG, Urteil vom 08.03.2016, Az. B 1 KR 25/15 R, Rn. 25 ff.). Andernfalls hätte die Beklagte nicht den MDK beauftragt, die Voraussetzungen einer Kostenübernahme zu überprüfen. Auch aufgrund der fachlichen Befürwortung des sie behandelnden Arztes konnte die Klägerin davon ausgehen, dass die Behandlung mit Cannabisblüten geeignet und erforderlich ist.
Die Beklagte hat nicht innerhalb der maßgeblichen 5 Wochen-Frist über den Antrag der Klägerin entschieden. Fristbeginn war nach dem Eingang des Antrags bei der Beklagten am 18.7.2017 der 19.7.2017. Unerheblich für den Fristbeginn ist, dass die Beklagte meinte, dass zur Aufklärung des Sachverhalts noch weitere Unterlagen von der Klägerin beizubringen waren (BSG, Urteil vom 11.7.2017, Az. B 1 KR 26/16 R, Rn. 25f.). Infolge des Benachrichtigungsschreibens der Beklagten vom 19.7.2017 war die fünfwöchige Frist gem. § 13 Abs. 3a Satz 1 2. Alt. SGB V einschlägig, die am 22.8.2017 endete. Eine Mitteilung über die Verlängerung der Frist wegen eines hinreichenden Grundes durch die Beklagte erfolgte nicht. Somit trat die Genehmigungsfiktion am 23.8.2017 ein (§ 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V), mit der Folge, dass die Leistung „Versorgung mit Cannabisblüten“ als genehmigt gilt (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 25.2.2019, Az. L 11 KR 240/18 B ER, Rn. 29).
Hieraus resultiert der Anspruch der Klägerin auf Versorgung mit Cannabisblüten nach vertragsärztlicher Verordnung. Auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V kommt es somit nicht mehr an.
Hinsichtlich des geltend gemachten Kostenerstattungsanspruchs gilt § 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V: „Beschaffen sich Leistungsberechtigte nach Ablauf der Frist eine erforderliche Leistung selbst, ist die Krankenkasse zur Erstattung der hierdurch entstandenen Kosten verpflichtet.“ Infolgedessen ist die Beklagte verpflichtet, (nachgewiesene) Kosten i.H.v. 1.316,87 € für (auf Privatrezept) ab 18.9.2017 selbst beschaffte Cannabisblüten zu erstatten.
Nach Auffassung der Kammer umfasst der Kostenerstattungsanspruch gem. § 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V nicht die Erstattung von Versandkosten. Denn der Kostenerstattungsanspruch hat nur Leistungen zum Gegenstand, die dem Naturalleistungsanspruch entsprechen. Hinsichtlich der beantragten Erstattung der Versandkosten i.H.v. 74,32 € war die Klage daher abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.


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