Medizinrecht

Verwaltungsgerichte, Widerspruchsbescheid, Vorläufige Vollstreckbarkeit, Beihilfefähigkeit, Beihilfeberechtigte, Rechtsmittelbelehrung, Medizinische Notwendigkeit, Angemessene Aufwendungen, Prozeßkostenhilfeverfahren, Bundsverwaltungsgericht, Beihilfeleistungen, Beihilfeverordnung, Beihilferechtliche Streitigkeit, Beihilfeantrag, Beihilfebescheid, Kostenentscheidung, Postzustellungsurkunde, Befähigung zum Richteramt, Freiverkäufliche Arzneimittel, ärztliche Verordnung

Aktenzeichen  RO 12 K 20.690

Datum:
9.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 4109
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBhV § 7
BayBhV § 18

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Landesamtes für Finanzen vom 18.09.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids des Landesamtes für Finanzen vom 23.03.2020 verpflichtet, der Klägerin weitere Beihilfeleistungen in Höhe von 252,21 € zu gewähren.
II. Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Mit Einverständnis der Beteiligten entscheidet das Gericht gemäß § 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ohne mündliche Verhandlung.
Die mit Schreiben des Klägerbevollmächtigten vom 25.04.2020 als allgemeine Leistungsklage erhobene Klage ist gemäß § 88 VwGO dahingehend auszulegen, dass die Klägerin begehrt, den Beklagten im Sinne einer Verpflichtungsklage dazu zu verpflichten, Beihilfe in beantragter Höhe zu gewähren.
Die Klage ist als solche zulässig und begründet. Der Bescheid des Landesamtes für Finanzen vom 18.09.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.03.2020 ist – soweit angefochten – rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch auf weitere Beihilfeleistungen in Höhe von 252,21 € (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Gemäß Art. 96 Abs. 1 Bayerisches Beamtengesetz (BayBG) erhalten u. a. (Ruhestands-)Beamte und (Ruhestands-)Beamtinnen für sich, (unter gewissen Voraussetzungen) den Ehegatten und die im Familienzuschlag nach dem Bayerischen Besoldungsgesetz berücksichtigungsfähigen Kinder Beihilfen als Ergänzung der aus den laufenden Bezügen zu bestreitenden Eigenvorsorge, solange ihnen laufende Besoldung oder Versorgungsbezüge zustehen. Beihilfeleistungen werden nach Art. 96 Abs. 2 Satz 1 BayBG zu den nachgewiesenen medizinisch notwendigen und angemessenen Aufwendungen in Krankheits-, Geburts- und Pflegefällen und zur Gesundheitsvorsorge gewährt. Das Nähere ist durch das Staatsministerium der Finanzen und für Heimat durch Rechtsverordnung zu regeln (Art. 96 Abs. 5 Satz 1 BayBG). Von dieser Ermächtigung wurde durch Erlass der Bayerischen Beihilfeverordnung (BayBhV) Gebrauch gemacht.
Die Klägerin ist nach § 2 Abs. 1 Nr. 1, § 3 Abs. 1 Nr. 2 BayBhV beihilfeberechtigt. Die Beihilfefähigkeit der Aufwendungen richtet sich nach §§ 7, 18 BayBhV in der anzuwendenden Fassung. Für die rechtliche Beurteilung beihilferechtlicher Streitigkeiten ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Entstehens der Aufwendungen maßgeblich, für die Beihilfe verlangt wird (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 02.04.2014 – 5 C 40/12, Rn. 9). Die Aufwendungen gelten nach § 7 Abs. 2 Satz 2 BayBhV in dem Zeitpunkt als entstanden, in dem die sie begründende Leistung erbracht wird. Die Präparate wurden alle am 13.06.2019 in der Apotheke erworben, so dass die BayBhV in der Fassung gültig ab 01.01.2019 bis 31.12.2020 Anwendung findet.
Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 BayBhV sind Aufwendungen nach den folgenden Vorschriften der BayBhV beihilfefähig, wenn sie dem Grunde nach medizinisch notwendig (Nr. 1) und der Höhe nach angemessen sind (Nr. 2) und die Beihilfefähigkeit nicht ausdrücklich ausgeschlossen ist (Nr. 3).
Nach § 18 Satz 1 BayBhV sind die aus Anlass einer Krankheit bei ärztlichen oder zahnärztlichen Leistungen oder Heilpraktikerleistungen nach §§ 8 bis 17 BayBhV verbrauchten oder nach Art und Umfang schriftlich verordneten apothekenpflichtigen Arzneimittel nach § 2 des Arzneimittelgesetzes (Nr. 1), Verbandmittel (Nr. 2), Harn- und Blutstreifen (Nr. 3) sowie Stoffe und Zubereitungen aus Stoffen, die als Medizinprodukte nach § 3 Nrn. 1 bis 3 des Medizinproduktegesetzes zur Anwendung am oder im menschlichen Körper bestimmt sind (Nr. 4) beihilfefähig. Nicht beihilfefähig sind nach § 18 Satz 4 BayBhV Aufwendungen für Mittel, die überwiegend zur Behandlung der erektilen Dysfunktion, zur Rauchentwöhnung, zur Abmagerung oder zur Zügelung des Appetits, zur Regulierung des Körpergewichts oder zur Verbesserung des Haarwuchses dienen (Nr. 1), für Mittel, die geeignet sind, Güter des täglichen Bedarfs zu ersetzen (Nr. 2), Vitaminpräparate, die keine Fertigarzneimittel im Sinn des Arzneimittelgesetzes darstellen (Nr. 3) und Geriatrika und Roborantia (Nr. 4).
Der Begriff der beihilferechtlichen Notwendigkeit von Aufwendungen als Voraussetzung für die Beihilfengewährung ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt. Danach sind Aufwendungen dem Grund nach notwendig, wenn sie für eine medizinisch gebotene Behandlung entstanden sind, die der Wiedererlangung der Gesundheit, der Besserung oder Linderung von Leiden sowie der Beseitigung oder zum Ausgleich körperlicher Beeinträchtigungen dient. Entsprechend dem Zweck der Beihilfengewährung müssen die Leiden und körperlichen Beeinträchtigungen Krankheitswert besitzen. Die Behandlung muss darauf gerichtet sein, die Krankheit zu therapieren. Zusätzliche Maßnahmen, die für sich genommen nicht die Heilung des Leidens herbeiführen können, können als notwendig gelten, wenn sie die Vermeidung oder Minimierung von mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Behandlungsrisiken und Folgeleiden bezwecken (BVerwG, Beschluss v. 30.09.2011 – 2 B 66/11, juris Rn. 11). Die Kosten lediglich nützlicher, aber nicht notwendiger Behandlungen muss der Beihilfeberechtigte hingegen aus eigenen Mitteln bestreiten. Maßgebend ist, ob die Maßnahme im Einzelfall objektiv medizinisch notwendig war. Kommen nach medizinischen Gesichtspunkten verschiedene vertretbare Möglichkeiten in Betracht, ist die vom Arzt gewählte Methode medizinisch notwendig, wenn er sie nach ärztlich-wissenschaftlichem Maßstab dafür halten konnte. Auch die Höhe der Kosten darf nicht außer Betracht bleiben. Zwar wird man nicht davon ausgehen können, dass der Beihilfeberechtigte allgemein verpflichtet ist, die Kosten möglichst gering zu halten, jedoch ist er auf Grund der Treuepflicht gehalten, extrem hohe Kosten zu Lasten des Dienstherrn zu vermeiden, wenn andere weniger kostenaufwendige, aber medizinisch gleichwertige Behandlungsmethoden möglich sind (Mildenberger, Beihilferecht in Bund, Ländern und Kommunen, Bd. 1 § 6 BBhV Anm. 2 (2) zu Abs. 1; 179. AL. Juli 2019).
Dies zu Grunde gelegt, ist die Behandlung der Söhne der Klägerin mit bioidentischen Schilddrüsenhormonen – anders als vom Beklagten vertreten – medizinisch notwendig.
Bei beiden Söhnen der Klägerin wurde eine Hypothyreose diagnostiziert, die gemäß ärztlichen Attesten des behandelnden Hausarztes Dr. N … (jeweils) vom 25.07.2019 zunächst leitlinienkonform mit konventionellen Schilddrüsenpräparaten behandelt worden ist. Diese Behandlung war gemäß Attest bei beiden Söhnen in keinster Weise verträglich und hat zu keiner zufriedenstellenden hormonellen Einstellung geführt. Die Umstellung auf bioidentische Schilddrüsenhormone sei aus ärztlicher Sicht zwingend gewesen. Dieser Vortrag der Klägerin wird durch den Beklagten auch nicht angezweifelt. Zwar sind – wie aus einem parallel anhängigem weiteren Klageverfahren zu dieser Thematik dem Gericht bekannt (RO 12 K 20.1040) – die Kosten für bioidentische Schilddrüsenhormone (deutlich) höher als für synthetische Schilddrüsenhormone, doch war die Behandlung im zu Grunde liegenden Einzelfall objektiv medizinisch notwendig, da der behandelnde Arzt sie nach ärztlich-wissenschaftlichem Maßstab dafür halten durfte, nachdem – anders als aktuell mit den bioidentischen Hormonen – konventionelle Schilddrüsenpräparate bei den Söhnen der Klägerin weder vertragen wurden noch eine zufriedenstellende hormonelle Einstellung erreicht worden war.
An der medizinischen Notwendigkeit der Verordnung bioidentischer Schilddrüsenhormone ändert vorliegend auch die vom Beklagten eingeholte beratungsärztliche Stellungnahme vom 10.09.2019 nichts. Sie setzt sich erkennbar nicht mit der Stellungnahme des behandelnden Arztes auseinander, dass bei den Söhnen der Klägerin die konventionellen Schilddrüsenpräparate in keinster Weise verträglich waren und eine hormonelle Einstellung nicht zufriedenstellend gelungen war. Der Sohn J … wurde mindestens 1,5 Jahre mit synthetischen Schilddrüsenhormonen behandelt, der Sohn V … mindestens neun Monate (Attest v. 14.11.2019). Die Identität und damit deren Wirksamkeit der bioidentischen Hormone mit den Hormonen, die im Körper hergestellt werden, wird in der beratungsärztlichen Stellungnahme hingegen bestätigt.
Aus der etwas ausführlicheren Stellungnahme desselben Beratungsarztes vom 02.04.2020 in einem zur vorliegend streitigen Thematik weiteren anhängigem gerichtlichem Verfahren mit demselben Beklagten, ebenfalls vertreten durch das Landesamt für Finanzen, Dienststelle Würzburg (RO 12 K 20.1040) geht hervor, dass bioidentische Hormone genauso wirksam sind, wie synthetisch hergestellte Hormone. Deshalb wird in dortigem Verfahren empfohlen, „bei Anwendung bioidentischer Hormone zumindest den Kaufpreis der entsprechenden synthetischen Hormone zu erstatten“. Die medizinische Notwendigkeit wird in der dortigen beratungsärztlichen Stellungnahme nicht ausdrücklich verneint. Im dortigen behördlichen Verfahren weist der (selbe) behandelnde Arzt – Dr. N … – ausdrücklich auf die Unterschiede von bioidentischen Komplexpräparaten und synthetischen Hormonpräparaten hin („Der gravierende Unterschied von bioidentischen Komplexpräparaten und synthetischen Hormonpräparaten liegt an der unterschiedlichen Freisetzung und der Zusammensetzung. Bioidentische Schilddrüsenextrakte habe[n] eine langsamere Freisetzung und verhindern somit ein zu schnelles Anfluten des T3-Hormons und damit unangenehme Reaktionen. Viele Patienten profitieren außerdem von den zusätzlich enthaltenen natürlichen Extrakten, da die gefriergetrockneten Schilddrüsen neben den Hormonen T4 und T3 eine Fülle von stoffwechselaktiven Hormonvorstufen enthalten, die alle bei der Regulation einer hypothyreoten Stoffwechsellage eine Rolle spielen können (z.B. […]). Auch die Thyronamine werden gerade von Hypothyreose Patienten als sehr wohltuend empfunden.“). Der Beratungsarzt setzt sich in seiner dortigen Stellungnahme nicht damit auseinander. Seine Einlassung in der beratungsärztlichen Stellungnahme vom 02.04.2020 (im Parallelverfahren) dahingehend, dass ihm wissenschaftliche Studien, die den Nachweis führten, dass die Anwendung bioidentischer Hormone von Vorteil sei gegenüber der Anwendung synthetischer Hormone mit derselben Hormonwirkung, nicht bekannt seien, überzeugt nicht. Zum einen wäre es seine Aufgabe und Pflicht, insoweit zu recherchieren und zum anderen hat er sich nicht im Ansatz mit den Ausführungen des behandelnden Arztes auseinandergesetzt. Die beratungsärztliche Stellungnahme vom 10.09.2019 im zu Grunde liegenden Verfahren, aber auch die beratungsärztliche Stellungnahme des selben Beratungsarztes aus dem weiteren (parallel) anhängigen Verfahren sind daher nicht geeignet, die sich aus den Unterlagen des behandelnden Arztes gegebene medizinische Notwendigkeit der Behandlung mit bioidentischen Schilddrüsenhormonen im konkreten Einzelfall in Abrede zu stellen.
Die Aufwendungen für die bioidentischen Schilddrüsenhormone sind auch wirtschaftlich angemessen.
Für die Prüfung der wirtschaftlichen Angemessenheit ist nur dann Raum, wenn Aufwendungen in unterschiedlicher Höhe getätigt werden können. Etwas anderes gilt bei feststehenden Kaufpreisen, z.B. Medikamenten. Hier sind Aufwendungen – abgesehen von den (ggfs.) zu berücksichtigenden Eigenbehalten im Sinn des Art. 96 Abs. 3 Satz 5 und 6 BayBG – in jedem Fall voll beihilfefähig, wenn das gekaufte Arzneimittel notwendig war, es der ärztlichen Verordnung entspricht und auch keine sonstigen Einschränkungen in Bezug auf die Beihilfefähigkeit bestehen (Mildenberger, Beihilferecht in Bund, Ländern und Kommunen, Bd. 1 § 6 BBhV Anm. 3 (1) zu Abs. 1; 179. AL. Juli 2019; Bd. 2 § 7 BayBhV Anm. 3 (1) zu Abs. 1; 174. AL. Juni 2018). Die bioidentischen Schilddrüsenhormone waren vorliegend medizinisch notwendig (s.o.) und es sind keine Einschränkungen in Bezug auf die Beihilfefähigkeit ersichtlich (z.B. Höchstbetragsregelung). Dass das gekaufte Arzneimittel nicht der ärztlichen Verordnung entspricht ist nicht erkennbar und wurde vom Beklagten auch nicht behauptet.
Die Beihilfefähigkeit ist auch nicht ausdrücklich ausgeschlossen. Weder § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 i.V.m. Abs. 5 Nr. 1 oder 2 und Anlage 2 noch § 18 BayBhV regeln einen ausdrücklichen Ausschluss bioidentischer Hormone. Insbesondere liegt kein Fall des § 18 Satz 2 BayBhV vor. Die Beihilfefähigkeit der verordneten bioidentischen Schilddrüsenhormone ist darüber hinaus auch nicht nach § 18 Satz 4 BayBhV ausgeschlossen, da sie kein Mittel sind, das geeignet ist, Güter des täglichen Bedarfs zu ersetzen (Nr. 2). Ebenso wenig handelt es sich um ein Vitaminpräparat im Sinne der Nr. 3 oder um Geriatrika oder Roborantia (Nr. 4).
Bei den schriftlich verordneten bioidentischen Schilddrüsenhormonen handelt es sich um ein apothekenpflichtiges (vgl. §§ 43 Abs. 1, 44 Arzneimittelgesetz (AMG) und die Verordnung über apothekenpflichtige und freiverkäufliche Arzneimittel (AMVerkRV)) Rezepturarzneimittel (§ 2 Abs. 1 AMG, § 1a Abs. 8 Apothekenbetriebsordnung).
Nach alledem war der Klage stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Berufung durch das Verwaltungsgericht gemäß §§ 124a Abs. 1 Satz 1, 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 VwGO liegen nicht vor.


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