Medizinrecht

Vorläufige Zuweisung einer Notunterkunft

Aktenzeichen  M 22 E 18.5427

Datum:
9.11.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 28826
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
LStVG Art. 6, Art. 7 Abs. 2 Nr. 3

 

Leitsatz

1. Eine Verletzung der Selbsthilfeobliegenheit eines Obdachlosen kann nicht schon allein wegen unzureichender und/oder auf die bisherige Wohngemeinde beschränkter Bemühungen um eine neue Unterkunft angenommen werden, sondern erst dann, wenn von einer tatsächlich bestehenden Option der Unterbringung bzw. der Beschaffung einer Unterkunft ohne sachlich nachvollziehbaren Grund kein Gebrauch gemacht wurde (ebenso BayVGH BeckRS 2017, 133289 Rn. 8 und 10). (Rn. 13 und 14) (redaktioneller Leitsatz)
2. Durch das Angebot einer Unterbringung für eine Nacht kommt die Sicherheitsbehörde ihrer Unterbringungsverpflichtung nicht hinreichend nach, wenn nichts dafür ersichtlich ist, dass der Antragsteller seine Obdachlosigkeit derart kurzfristig aus eigener Kraft beseitigen kann. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
3. Der Anspruch auf vorläufige sicherheitsrechtliche Unterbringung besteht nur, soweit und solange der Obdachlose die Gefahr nicht selbst aus eigenen Kräften oder mit Hilfe des Sozialleistungsträgers in zumutbarerer Weise und Zeit beheben kann. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller zur Behebung der Obdachlosigkeit eine Notunterkunft zuzuweisen und vorläufig zur Verfügung zu stellen.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der 1973 geborene Antragssteller begehrt von der Antragsgegnerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Zuweisung einer Obdachlosenunterkunft.
Am 7. November 2018 wandte sich der Antragsteller an die Rechtsantragsstelle des Verwaltungsgerichts München und beantragte,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO zu verpflichten, ihm vorläufig eine Notunterkunft zur Verfügung zu stellen.
Zur Begründung trägt er (unter Verweis auf eine Bescheinigung der Diakonie Freising, die er zu Beratungszwecken aufgesucht hatte) vor, dass sein Zimmer in einer Wohnung in Freising gekündigt worden sei und er in der Folge keinen neuen Wohnraum gefunden habe. Er habe AlG II-Leistungen beantragt, allerdings noch nicht bewilligt bekommen, weshalb er mittellos sei und selbst nicht für eine Privatunterkunft sorgen könne. Er habe schon mehrere Nächte am Bahnhof genächtigt. Er habe mit der Antragsgegnerin Kontakt aufgenommen, die ihn auf Grund belegter Notunterkünfte aber nicht untergebracht habe.
Mit Schriftsatz vom 8. November 2018 beantragte die Antragsgegnerin, den Antrag abzulehnen.
Die Antragsgegnerin habe zu keinem Zeitpunkt die unmittelbare Gefahrenabwehr verweigert. Dem Antragsteller sei im Rahmen seiner Vorsprache am 7. November 2018 erklärt worden, dass ihm für die unmittelbare Gefahrenabwehr ein Schlafplatz für eine Nacht in einem Wohncontainer angeboten werden könne. Damit sei die Antragsgegnerin ihrer Pflichtaufgabe hinreichend nachgekommen. Eine mittelfristige Lösung könne dem Antragsteller nicht geboten werden, da alle Notunterkünfte belegt seien. Der Antragsteller sei daraufhin zur Diakonie gegangen. Auch dieser sei erklärt worden, dass dem Antragsteller nur eine Unterkunft für eine Nacht angeboten werden könne und keine Aussicht auf die Zuweisung einer Wohnung in Freising bestehe. Ein erkennbarer Wille, sich anderweitig um Wohnraum zu bemühen, habe beim Antragsteller nicht festgestellt werden können.
Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sachverhalt und zum Vorbringen der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die vorgelegten Unterlagen Bezug genommen.
II.
Der Antrag ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.
1. Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn diese Regelung um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus sonstigen Gründen nötig erscheint. Dabei hat der Antragsteller sowohl den (aus dem streitigen Rechtsverhältnis abgeleiteten) Anspruch, bezüglich dessen die vorläufige Regelung getroffen werden soll (Anordnungsanspruch), wie auch die Dringlichkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung). Maßgeblich für die Beurteilung sind dabei die rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts.
2. Die Antragsgegnerin hat als Sicherheitsbehörde (Art. 6 LStVG) die Aufgabe der Gefahrenabwehr. Hierzu zählt auch die Beseitigung einer – unfreiwilligen – Obdachlosigkeit (vgl. BayVGH, B.v. 26.4.1995 – 4 CE 95.1023 – BayVBl 1995, 729). Aus dieser gesetzlichen Verpflichtung ergibt sich ein Anspruch des Betroffenen auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Unterbringung durch die Behörde. Ein solcher Anspruch kann allerdings nur angenommen werden, soweit der Betroffene die Gefahr nicht selbst aus eigenen Kräften oder mit Hilfe der Sozialleistungsträger beheben kann (vgl. BayVGH, B.v. 21.9.2006 – 4 CE 06.2465 – BayVBl 2007, 439).
Den sich hieraus ergebenden Anforderungen an die Darlegung eines Anordnungsgrundes wie auch eines Anordnungsanspruchs ist vorliegend Genüge getan.
Die Antragsgegnerin ist für die Unterbringung des Antragstellers insbesondere sachlich und örtlich zuständig, weil die Obdachlosigkeit des Antragstellers im Stadtgebiet der Antragsgegnerin eingetreten und durch die vorübergehenden, wechselnden Schlafplätze auch nicht wieder entfallen ist.
Nach dem Vorbringen des Antragstellers liegt auch eine unfreiwillige Obdachlosigkeit vor. Der wohl gegenteiligen Annahme der Antragsgegnerin, kann mit der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs nicht gefolgt werden.
Zwar sind Personen, denen Obdachlosigkeit droht, zur Selbsthilfe verpflichtet, so dass die Sicherheitsbehörde auf eigene Maßnahmen verzichten kann, wenn sich der Betroffene durch die Inanspruchnahme anderweitiger Hilfsangebote oder durch den Einsatz eigener Sach- oder Finanzmittel in zumutbarer Weise aus eigener Kraft geeigneten Wohnraum verschaffen kann (vgl. BayVGH, B.v. 30.1.2017 – 4 CE 16.2575 – juris Rn. 9; B.v. 13.2.2014 – 4 CS 14.126 – juris Rn. 6). Allein der Umstand, dass die Suche nach einer neuen Unterkunft nicht von Anfang an mit dem notwendigen Nachdruck betrieben worden ist und die eingetretene Wohnungsnot daher möglicherweise auch auf eigenem Verschulden beruht, stellt aber noch keine Verletzung dieser Selbsthilfeobliegenheit dar. Erst wenn von einer tatsächlich bestehenden Option der Unterbringung bzw. der Beschaffung einer Unterkunft ohne sachlich nachvollziehbaren Grund kein Gebrauch gemacht wurde, kann die dadurch eingetretene oder fortdauernde Obdachlosigkeit als „freiwillig“ angesehen werden.
Dem Anspruch auf obdachlosenrechtliche Unterbringung kann insbesondere auch nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, dass der Antragsteller seine Bemühungen um eine neue Wohnung nicht auf den näheren Umgriff um Freising hätte beschränken dürfen. Angesichts des ihm nach Art. 11 Abs. 1 GG bzw. Art. 2 Abs. 1 GG zustehenden Grundrechts auf Freizügigkeit kann ihn die Antragsgegnerin als diejenige Körperschaft, in der er bisher gewohnt hat und offenbar weiterhin wohnen will, nicht auf einen möglichen Umzug in einen weit entfernten Ort mit einem möglicherweise größeren oder preisgünstigeren Wohnungsangebot verweisen und sich damit ihrer Aufgabe der Gefahrenabwehr entledigen (vgl. BayVGH, B.v. 27.10.2017 – 4 CE 17.1661 -, juris; B.v. 4.4.2017 – 4 CE 17.615 – NVwZ-RR 2017, 575 Rn. 6).
Ein Anordnungsanspruch entfällt auch nicht deshalb, weil die Antragsgegnerin dem Antragsteller eine Unterbringung für eine Nacht angeboten hat und durch dieses Angebot ihrer Unterbringungsverpflichtung hinreichend nachgekommen wäre, denn vorliegend ist nichts dafür ersichtlich, dass der Antragsteller seine Obdachlosigkeit derart kurzfristig aus eigener Kraft hätte beseitigen können. Er wäre daher nach dieser Nacht erneut in die Obdachlosigkeit entlassen worden; dies zumal der Antragsteller nach den im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes anzulegenden Maßstäben auch hinreichend glaubhaft gemacht hat, dass er nicht über Mittel verfügt, aufgrund derer es ihm möglich wäre, sich, wenn auch nur vorübergehend, eine Unterkunft anderweitig zu beschaffen. Letzterem ist die Antragsgegnerin auch nicht entgegengetreten.
Vor diesem Hintergrund sind auch keine Zweifel am Anordnungsgrund in Gestalt der Eilbedürftigkeit ersichtlich. Das Abwarten einer Hauptsachentscheidung ist dem mittellosen Antragsteller, der ohne die begehrte vorläufige Regelung darauf angewiesen wäre, sich weiterhin von Nacht zu Nacht einen Unterschlupf zu suchen, zumal zur kalten Jahreszeit, nicht zuzumuten. Die Eilbedürftigkeit wird auch durch die zwischen dem Auszug des Antragstellers und seinem Ersuchen um obdachlosenrechtliche Unterbringung verstrichene Zeit nicht in Frage gestellt.
Dem Antragsteller steht somit ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über seinen Antrag auf Einweisung in eine Obdachlosenunterkunft zu, der sich im vorliegenden Fall unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände auf einen Unterbringungsanspruch gegen die Antragsgegnerin verdichtet hat. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller daher zur Abwendung einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit vorübergehend eine Unterkunftsmöglichkeit einfacher Art, die Schutz vor den Unbilden des Wetters bietet, zur Verfügung zu stellen. Für den Fall, dass die Antragsgegnerin keine solche Unterkunft hat, hat sie eine solche, ggf. durch privatrechtliches Handeln, zu beschaffen, wobei die Unterkunft sich nicht zwingend im Stadtgebiet befinden muss. Die Räume dürfen allerdings nicht „zu weit“ entfernt sein, da die Stadt andernfalls ihren Aufgaben (Kontakthalten, Ermöglichen des Stellens von Anträgen, Überprüfen des Zustands der Unterbringung etc.) nicht hinreichend gerecht werden kann. Eine wohnungsmäßige Versorgung kann der Antragsteller demgegenüber nicht verlangen. Die Zurverfügungstellung einer Sozialwohnung kann vom Antragsteller obdachlosenrechtlich nicht begehrt werden, die Unterbringung in einem Mehrbettzimmer oder auch in einem Wohncontainer ist ausreichend.
Die sicherheitsrechtliche Unterbringung stellt dabei angesichts ihres Überbrückungscharakters auch keine Dauerlösung dar. Der Anspruch auf vorläufige Unterbringung besteht nur, soweit und solange der Antragsteller die Gefahr nicht selbst aus eigenen Kräften oder mit Hilfe des Sozialleistungsträgers in zumutbarerer Weise und Zeit beheben kann. Der Antragsteller ist daher darauf hinzuweisen, dass er gehalten ist, sich ggf. unter Inanspruchnahme der ihm zustehenden Beratungs- und Hilfsangebote alsbald um eine anderweitige Unterkunft zu bemühen.
3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Entscheidung zum Streitwert aus § 47 i. V. m. § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Nrn. 1.5, 35.3 des Streitwertkatalogs 2013.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen


Nach oben