Medizinrecht

Wirtschaftlichkeitsprüfung einer Zahnarztpraxis

Aktenzeichen  S 38 KA 5022/18

Datum:
24.10.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 28972
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 106 Abs. 1
SGB X § 35

 

Leitsatz

1. Wesentliches Indiz für eine intellektuelle Prüfung im Rahmen der statistischen Wirtschaftlichkeitsprüfung ist, dass eine Auseinandersetzung mit dem Vortrag des zu prüfenden Arztes/Zahnarztes und/oder eine solche mit den den Prüfungsgremien bereits bekannten Besonderheiten der Praxis erfolgt ist. Diese intellektuelle Prüfung muss wenigstens in groben Zügen in den Prüfbescheiden abgebildet werden, damit die Schlüssigkeit und Plausibilität des gefundenen Ergebnisses durch den Betroffenen, aber auch durch die Gerichte nachprüfbar ist. Es genügt deshalb nicht, allgemeine und pauschale Ausführungen zu machen. (Rn. 17 – 18)
2. Je aussagekräftiger und präziser das Vorbringen des zu Prüfenden ist, umso detaillierter kann von den Prüfgremien eine Befassung damit erwartet werden. (Rn. 18)
3. Der Verweis auf eine hohe belassene Restüberschreitung als Begründung für eine bestimmte Kürzung, ohne sich mit etwaigen Praxisbesonderheiten und Einsparungen auseinanderzusetzen, genügt den Erfordernissen an die Begründungspflicht nach § 35 SGB X nicht (vgl. BayLSG, Urteil vom 04.2.2009, Az L 12 KA 27/08). (Rn. 22)

Tenor

I. Der Bescheid des Beschwerdeausschusses Bayern vom 21.03.2018 für das Quartal 4/2014 wird aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, über den Widerspruch der Klägerin erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

Die zum Sozialgericht München eingelegte Klage ist zulässig und auch begründet. Die angefochtenen Bescheide sind als rechtswidrig anzusehen.
Rechtsgrundlage für die Wirtschaftlichkeitsprüfung ist § 106 Abs. 1 SGB V in Verbindung mit dem GV-Z (Prüfvereinbarung). Die Prüfungsgremien sind befugt, auch eine Wirtschaftlichkeitsprüfung der Behandlungsweise vorzunehmen. Sie besitzen dabei einen Beurteilungsspielraum, der von den Gerichten nur eingeschränkt überprüfbar ist (vgl. BSG, Urteil vom 19.10.2011, Az. B 6 KA 38/10 R). Allerdings sind in der Begründung die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe mitzuteilen. So muss erkennbar sein, von welchen Gesichtspunkten sich die Behörde bei Ausübung ihres Ermessens hat leiten lassen (§ 35 SGB X; vgl. Kopp/Ramsauer, Komment. zum VwVfG, Rn 28 zu § 39). Die Vorschrift ist Ausfluss des verfassungsrechtlich verbürgten Rechtsstaatsprinzips (vgl. Kopp/Ramsauer, Komment zum VwVfG, Rn. 4 zu § 39 VwVfG) und gilt im Verhältnis zu allen betroffenen Verfahrensbeteiligten.
Der Beklagte hat in mehrfacher Hinsicht gegen das Begründungsgebot des § 35 SGB X verstoßen, weshalb die angefochtenen Bescheide bereits als formell rechtswidrig anzusehen sind.
Die Klägerin ist ihrer Mitwirkungspflicht nachgekommen. So hat sie im Rahmen des Verwaltungsverfahrens umfangreich vorgetragen, auch zu evtl. Besonderheiten der Praxis. Beigefügt waren u.a. Listen über in dem strittigen Quartal erbrachte Zahnersatzleistungen. Danach beläuft sich die Anzahl an Kronen im Quartal auf insgesamt 361 bei 26 Patienten. Das bedeutet, dass im Schnitt ca. 14 Kronen auf einen Patienten entfallen. Somit handelt es sich in den meisten Fällen nicht nur um einfache ZE-Leistungen, sondern um umfangreiche und kostenintensive Behandlungen. Die fehlende Auseinandersetzung mit den Praxisbesonderheiten kann sich zwangsläufig auch auf die möglichen Kürzungshöhen auswirken.
Was die Bema-Nr. 12 („Besondere Maßnahmen beim Präparieren oder Füllen (Separieren, Beseitigen störenden Zahnfleisches, Anlegen von Spanngummi, Stillung einer übermäßigen Papillenblutung je Sitzung, je Kieferhälfte oder Frontzahnbereich“) betrifft, handelt es sich um eine Begleitleistung zu den Leistungen nach den Bema-Nrn. 13ff., 28, 31, 34, 35 und zu IP 5 Leistungen. Es erscheint zunächst im Rahmen einer intellektuellen Prüfung vertretbar, nicht einfach auf den Überschreitungswert bei der Bema-Nr. 12 gegenüber der Fachgruppe abzustellen. Der Beklagte hat vielmehr ein Verhältnis der Begleitleistungen zur Häufigkeit der Hauptleistungen gebildet und gelangte so zu einer Überschreitung in Höhe von 95%.
Das Gericht ist allerdings der Auffassung, dass der Berechnungsvorgang ein Begründungsdefizit nach § 35 SGB X aufweist. Denn der Beklagte hat nicht dargestellt, warum 100% der Füllungen als anrechenbare Bezugsleistungen anzusetzen sind, während 80% der endodontischen Leistungen und lediglich 35% der IP 5 Leistungen angesetzt wurden. Es bleibt im Dunkeln verborgen, warum der unterschiedliche prozentuale Ansatz sachgerecht sein soll. Wenn nicht 80% der Häufigkeit auf 100-Fälle im endodontischen Bereich angesetzt würden, sondern 100%, ergäbe sich ein für die Klägerin deutlich günstigerer Überschreitungswert.
Des Weiteren entspricht die Behandlung der unstrittigen Praxisbesonderheit „überdurchschnittlich viele ZE-Behandlungen“ nicht den Anforderungen an die Begründungspflicht nach § 35 SGB X.
Allgemein gilt, dass bei Prüfungen nach statistischen Durchschnittswerten eine intellektuelle Prüfung stattzufinden hat. Wesentliches Indiz hierfür ist, dass eine Auseinandersetzung mit dem Vortrag des zu prüfenden Arztes/Zahnarztes und/oder eine solche mit den den Prüfungsgremien bereits bekannten Besonderheiten der Praxis erfolgt ist. Diese intellektuelle Prüfung muss wenigstens in groben Zügen in den Prüfbescheiden abgebildet werden, damit die Schlüssigkeit und Plausibilität des gefundenen Ergebnisses durch den Betroffenen, aber auch durch die Gerichte nachprüfbar ist. Ist dies nicht der Fall, wird dadurch der Anschein erweckt, dass sich der Beklagte mit dem Vorbringen der Beteiligten nicht in ausreichendem Umfang auseinandergesetzt hat und jedenfalls ein Begründungsdefizit nach § 35 SGB X vorliegen kann. Andererseits müssen die Gründe nicht in allen Einzelheiten dargelegt werden (BVerwGE 91, 265). Es muss aber hinreichend erkennbar sein, dass sich die Behörde bewusst war, dass ihr in der Sache ein Beurteilungsspielraum zukommt und sie davon Gebrauch gemacht hat (vgl. Kopp/Ramsauer, Komment. zum VwVfG. Rn 26 zu § 39).
Es genügt deshalb nicht, allgemeine und pauschale Ausführungen zu machen. Je aussagekräftiger und präziser das Vorbringen des zu Prüfenden ist, umso detaillierter kann von den Prüfgremien eine Befassung damit erwartet werden.
In Anwendung dieser Grundsätze auf das streitgegenständliche Verfahren ist festzustellen, dass der Beklagte zwar die umfangreiche ZE-Tätigkeit erwähnt, die Rede ist von 174 Festzuschüssen nach 1.1/1.2 und einer Überschreitung von 273% gegenüber dem Landesdurchschnitt. Für eine intellektuelle Prüfung ist es aber nicht ausreichend, lediglich pauschal auszuführen, „Die Kammer kann hier ein Verhältnis von ca. 70% zu den Bezugsleistung nachvollziehen.“ bzw. „Bei dieser Vergütungsberichtigung wurde berücksichtigt, dass in diesem Quartal bei den FEZ nach 1.1 und 1.2 eine Überschreitung von 273% vorliegt, wobei die Kammer einen etwas höheren Bedarf an Leistungen nach Bema-Nr. 12 nachvollziehen kann.“ Unklar bleibt nämlich, in welchem Umfang und warum die umfangreiche ZE-Tätigkeit in diesem Umfang berücksichtigt wurde. Dies gilt insbesondere auch deshalb, weil die Klägerin zu der von ihr geltend gemachten Praxisbesonderheit umfangreich vorgetragen hat und in der Sitzung des Beschwerdeausschusses auch eine Einsichtnahme in sämtlichen Patientenakten angeboten hatte. Davon hat der Beklagte allerdings keinen Gebrauch gemacht. Er hat sich offensichtlich auch nicht mit den Argumenten der Klägerin ausreichend auseinandergesetzt, was aus der pauschalen Begründung deutlich wird. Damit einhergehend ist nicht auszuschließen, dass bei niedrigeren Ausgangswerten entweder überhaupt keine Kürzung erfolgt wäre, zumindest aber der Beschwerdeausschuss eine niedrigere Kürzung beschlossen hätte.
Was die belassene Restüberschreitung betrifft, ist nach gefestigter Rechtsprechung grundsätzlich erst bei Überschreitungen von 100% (bei Einzelleistungen) von einem offensichtlichen Missverhältnis auszugehen(vgl. BSG, Urteil vom 21.5.2003, Az. B 6 KA 32/02 R). Eine Grenzziehung darunter wird aber bei hinreichend homogenen Arztgruppen mit engem Leistungsspektrum für zulässig erachtet (BSG, Urteil vom 23.2.2005, Az B 6 KA 79/03 R). Wenn deshalb vom Beklagten das offensichtliche Missverhältnis unter 100% festgesetzt wird, ist dies bei einer homogenen Arztgruppe wie der Gruppe der Zahnärzte rechtlich nicht zu beanstanden.
Zu den Vergütungsberichtigungen bei den Leistungen nach der Bema-Nr. 49 und 106 ist zunächst festzustellen, dass in der Tat eine hohe Abweichung der klägerischen Praxis im Vergleich zur Vergleichsgruppe, nämlich von 602% bei der Leistungsposition 49 und in Höhe von 155% bei der Leistungsposition 106 besteht. Auch hier hat der Beklagte die statistische Prüfmethode gewählt. Erwähnt wurde auch der erhöhte Anteil an ZE-Leistungen in der Praxis gegenüber der Vergleichsgruppe. Es bestehe jedoch die Überzeugung, dass die belassenen Restüberschreitungen (Restüberschreitung von 286% nach Kürzung in Höhe von 45% bei den Leistungen der Bema-Nr.49 und Restüberschreitung von 129% nach Kürzung in Höhe von 10% der Leistungen der Bema-Nr.106) diesem Umstand ausreichend Rechnung getragen haben.
Der Verweis auf eine hohe belassene Restüberschreitung als Begründung für eine bestimmte Kürzung, ohne sich mit etwaigen Praxisbesonderheiten und Einsparungen auseinanderzusetzen, genügt den Erfordernissen an die Begründungspflicht nach § 35 SGB X nicht. In diesem Sinne hat sich auch das Bayerische Landessozialgericht in seiner Entscheidung vom 4.2.2009 (BayLSG, Az L 12 KA 27/08) geäußert. Dort wird wie folgt ausgeführt: „Es ist nicht zulässig, der Ermittlung und Quantifizierung möglicherweise vorhandener Praxisbesonderheiten durch einen „Rabatt“ bei der Kürzungsentscheidung aus dem Wege zu gehen. Ob die belassene Restüberschreitung wirklich großzügig bemessen ist, kann der Beklagte erst dann beantworten, wenn er unter Ausübung seines Beurteilungsspielraums die Frage nach dem Bestehen von Praxisbesonderheiten und der Höhe des als wirtschaftlich anzuerkennenden Mehraufwandes geprüft hat, weil danach auf der ersten Stufe der Durchschnittswertprüfung die Überschreitung entsprechend zu bereinigen ist und möglicherweise dann wegen Nichterreichens des offensichtlichen Missverhältnisses eine Kürzung nicht mehr stattfinden darf.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
Aus den genannten Gründen war zu entscheiden, wie geschehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 VwGO.


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