Medizinrecht

Witwenrente

Aktenzeichen  L 19 R 2/17

Datum:
4.9.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 22681
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VI § 46 Abs. 2a
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1, Nr.2, § 193

 

Leitsatz

1. Sowohl für den Tatbestand des § 46 Abs. 2a SGB VI („nicht mindestens ein Jahr“) als auch hinsichtlich des Vorliegens der „besonderen Umstände“ ist es unerheblich, ob die Eheleute bei der Eheschließung damit gerechnet haben, dass der Versicherte das erste Jahr nach der Eheschließung überleben wird. (Rn. 37)
2. Die von der Versorgungsabsicht verschiedenen Beweggründe in ihrer Gesamtbetrachtung sind auch dann noch als zumindest gleichwertig anzusehen, wenn nachweislich für einen der Ehegatten der Versorgungsgedanke bei der Eheschließung keine Rolle gespielt hat (BSG Urteil vom 05.05.2009 B 13 R 55/08 R). Hieraus kann aber nicht gefolgert werden, dass die vermutete Versorgungsabsicht bereits dann zwingend widerlegt ist, wenn einer der Ehegatten behauptet, nicht überwiegend den Zweck verfolgt zu haben, der Witwe oder dem Witwer eine Versorgung zu verschaffen. (Rn. 42)

Verfahrensgang

S 9 R 154/15 2016-11-08 Urt SGNUERNBERG SG Nürnberg

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 08.11.2016 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Der Senat konnte mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 14.10.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.01.2015 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Die Beklagte hat zutreffend einen Anspruch des Klägers auf Witwerrente abgelehnt, so dass auch die Abweisung der Klage durch das Sozialgericht nicht zu beanstanden ist.
Zwar sind die tatbestandlichen Voraussetzungen für den Anspruch des Klägers auf Witwerrente gem. § 46 Abs. 2 Satz 1 SGB VI idF vom 20.04.2007 erfüllt. Danach haben Witwer, die nicht wieder geheiratet haben, nach dem Tode des versicherten Ehegatten, der die allgemeine Wartezeit erfüllt hat, unter anderem dann Anspruch auf große Witwerrente, wenn sie das 47. Lebensjahr vollendet haben. Die am 01.08.2014 verstorbene Versicherte hat die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren erfüllt. Der Kläger hatte bei Antragstellung das 47. Lebensjahr bereits vollendet und hat nicht wieder geheiratet.
Allerdings ist der Anspruch auf Witwerrente ausgeschlossen. Gem. § 46 Abs. 2a SGB VI, der nach § 242a Abs. 3 SGB VI für alle seit dem 01.01.2002 geschlossenen Ehen gilt, ist der Anspruch auf Witwenrente oder Witwerrente ausgeschlossen, wenn die Ehe nicht mindestens ein Jahr gedauert hat, es sei denn, dass nach den besonderen Umständen des Falles die Annahme nicht gerechtfertigt ist, dass es der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat war, einen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung zu begründen.
Die Versicherte ist vor Ablauf der Jahresfrist seit der Eheschließung verstorben. Die Ehe zwischen dem Kläger und der Versicherten hat vom 16.07.2014 bis 01.08.2014 und damit weniger als ein Jahr gedauert.
„Besondere Umstände“ i.S.v. § 46 Abs. 2a Hs 2 SGB VI ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der der vollen richterlichen Kontrolle unterliegt. Nach der Rechtsprechung sind als besondere Umstände i.S.v. § 46 Abs. 2a Hs 2 SGB VI alle äußeren und inneren Umstände des Einzelfalls anzusehen, die auf einen von der Versorgungsabsicht verschiedenen Beweggrund für die Heirat schließen lassen. Dabei kommt es auf die (gegebenenfalls auch voneinander abweichenden) Beweggründe (Motive, Zielvorstellungen) beider Ehegatten an (Urteil des BSG vom 05.05.2009 – B 13 R 55/08 R – nach juris). Die Annahme des anspruchsausschließenden Vorliegens einer Versorgungsehe ist nach dem Ausnahmetatbestand des § 46 Abs. 2a Hs 2 SGB VI nur dann nicht gerechtfertigt, wenn die Gesamtbetrachtung und Abwägung der Beweggründe beider Ehegatten für die Heirat ergibt, dass die von der Versorgungsabsicht verschiedenen Beweggründe insgesamt gesehen den Versorgungszweck überwiegen oder – da der Wortlaut auf den „alleinigen oder überwiegenden Zweck der Heirat“ abhebt – zumindest gleichwertig sind.
Zu beachten ist, dass in der Regel der Ausnahmetatbestand des § 46 Abs. 2a Hs 2 SGB VI nicht erfüllt ist, falls der Versicherte zum Zeitpunkt der Eheschließung offenkundig bereits an einer lebensbedrohlichen Krankheit litt. Allerdings ist auch bei einer nach objektiven Maßstäben schweren Erkrankung mit einer ungünstigen Verlaufsprognose und entsprechender Kenntnis der Ehegatten der Nachweis nicht ausgeschlossen, dass dessen ungeachtet (überwiegend oder zumindest gleichwertig) aus anderen als aus Versorgungsgründen geheiratet wurde. Allerdings müssen dann bei der abschließenden Gesamtbewertung diejenigen besonderen (inneren und äußeren) Umstände, die gegen eine Versorgungsehe sprechen, umso gewichtiger sein, je offenkundiger und je lebensbedrohlicher die Krankheit eines Versicherten zum Zeitpunkt der Eheschließung gewesen war. (Urteil des BSG vom 06.05.2010 – B 13 R 134/08 R – nach juris). Dementsprechend steigt mit dem Grad der Lebensbedrohlichkeit einer Krankheit und dem Grad der Offenkundigkeit zugleich der Grad des Zweifels an dem Vorliegen solcher vom hinterbliebenen Ehegatten zu beweisenden besonderen Umstände, die von diesem für die Widerlegung der gesetzlichen Vermutung einer Versorgungsehe bei einem Versterben des versicherten Ehegatten innerhalb eines Jahres nach Eheschließung angeführt werden (Urteile des BSG vom 05.05.2009, a.a.O. und vom 06.05.2010, a.a.O.).
Für den Senat steht fest, dass die Versicherte an einer lebensbedrohlichen Erkrankung erkrankt war. Dies ergibt sich aus dem Entlassungsbericht der Klinik Prof. S. vom 23.06.2014. Die Versicherte befand sich dort zur onkologischen Anschlussrehabilitation vom 21.05.2014 bis 18.06.2014 nach einer lumbalen Tumornephrektomie links einschl. Nebenniere. Als gesicherte Diagnosen wurden ein neuroendokrines Karzinom der Niere und Nebenniere sowie ein Mamma-Karzinom mit ossären und pulmonalen Metastasen angegeben. Wenige Tage später fand eine stationäre Behandlung im Klinikum A-Stadt vom 25.06.2014 bis 26.06.2014 statt. Die Versicherte wurde wegen einer Stauungsniere bei beginnendem Nierenversagen behandelt. Ab dem 01.07.2014 erfolgte die ambulante Palliativpflege durch das SAPV Team. Das Sozialgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, dass sich aus den Akten der SAPV der schlechter werdende Gesundheitszustand der Versicherten ergibt.
Auch hatte der Kläger Kenntnis von der lebensbedrohlichen Erkrankung der Versicherten. In dem Schreiben vom 12.09.2014 und mit Widerspruch vom 17.10.2014 hat der Kläger erklärt, dass er gewusst habe, dass seine Ehefrau unheilbar an Krebs erkrankt war. Er hat die Versicherte rund um die Uhr gepflegt und betreut. Auch hat der Kläger selbst eingeräumt, dass er gewusst habe, was eine palliative Versorgung bedeutet.
In diesem Zusammenhang ist es sowohl für den Tatbestand des § 46 Abs. 2a SGB VI („nicht mindestens ein Jahr“) als auch hinsichtlich des Vorliegens der „besonderen Umstände“ unerheblich, ob der Kläger und die Versicherte bei der Eheschließung damit gerechnet haben, dass die Versicherte das erste Jahr nach der Eheschließung überleben wird. Der Kläger ist nach seinen Angaben davon ausgegangen, dass noch ein paar Jahre für eine gemeinsame Zeit verbleiben würden. Nach der Zeugin Frau S. habe die Versicherte immer gesagt, sie würde noch drei bis vier Jahre leben. Der Kläger hat angegeben, er habe keinem Grund gehabt zu vermuten, dass seine Ehefrau so zeitnah versterben würde. Nach dem Bericht des Dr. E. vom 11.11.2014 habe die Versicherte es ihrem Arzt auch untersagt, Informationen über die bösartige Erkrankung preiszugeben. Die Vermutung einer Versorgungsehe betrifft aber nicht nur zeitnahe oder zeitnah erwartete Todesfälle, sondern alle Todesfälle innerhalb der Frist von einem Jahr. Der Vortrag des Klägers ist allerdings insoweit zu berücksichtigen, als sich die abschließende Gesamtbewertung auch nach dem Grad der Lebensbedrohlichkeit und Offenkundigkeit der Erkrankung der Versicherten richtet.
Zur Überzeugung des Senats sind besondere Umstände nicht nachgewiesen, die gegen eine Versorgungsehe sprechen und angesichts der lebensbedrohlichen Erkrankung auch von ausreichendem Gewicht sind. Zunächst ist festzustellen, dass konkrete Handlungen für eine Eheschließung erst nach der Entlassung der Versicherten aus der stationären Behandlung am 26.06.2014 mit Erteilung der Vollmacht zur Eheanmeldung in die Wege geleitet wurden. Dem entspricht es auch, dass der Kläger mit Schreiben vom 12.09.2014 angegeben hat, dass sie die Absicht gehabt haben zu heiraten, wenn einer von ihnen beiden schwer erkranken würde. Als Grund wurde genannt, dass die Eheschließung die Betreuung wesentlich vereinfachen würde. Dies rechtfertigt jedoch nicht die Annahme eines besonderen Umstandes. Konkrete Hinweise auf zu erwartende Schwierigkeiten bei der Betreuung wurden nicht genannt. Vielmehr ergibt sich aus dem Gutachten des MDK Bayern vom 28.07.2014, dass die Pflege und Betreuung der Versicherten sichergestellt war. Die ebenfalls genannten Gründe, durch die Heirat einen Familienverband über die Lebensgemeinschaft hinaus zu gründen, in „offizieller“ Verbundenheit auseinander zu gehen, wenn einer der Ehegatten sterben sollte oder der Umstand, dass die lange Dauer des Zusammenlebens durch die Eheschließung „gekrönt“ werden sollte, stellen nach Auffassung des Senats ebenfalls keine gewichtigen Motive für die Eheschließung dar. Denn unter Berücksichtigung des 25jährigen unverheirateten Zusammenlebens und der Ausführungen der Versicherten im Zusatz zur Patientenverfügung vom 30.06.2014 ist davon auszugehen, dass sich der Kläger und die Versicherte bewusst für diese Form des Zusammenlebens entschieden haben. Insoweit ist nicht nachvollziehbar, dass die genannten Motive jetzt maßgebend gewesen sein könnten, die Ehe zu schließen, zumal nach den Angaben des Klägers nicht mit einem zeitnahen Versterben der Versicherten zu rechnen war.
Der Kläger hat im Termin vom 14.05.2018 hervorgehoben, dass als besonderer Umstand im Sinne des § 46 Abs. 2a Hs 2 SGB VI die Planung der Versicherten in Betracht komme, nicht mit dem Namen des geschiedenen Ehemannes zu versterben. Dieser Beweggrund ergibt sich auch aus den vorherigen Angaben des Klägers und aus dem Zusatz der Versicherten zur Patientenverfügung vom 30.06.2014. Danach habe der Wunsch der Versicherten bestanden, durch die Eheschließung die Änderung ihres Familiennamens herbeizuführen. Die Versicherte habe dem Kläger von Anfang (der Beziehung) an gesagt, dass sie nie mit dem Namen „S.“ sterben möchte, da sie die schlimmen Erinnerungen und alles Unangenehme, was ihre erste Ehe betraf, hinter sich lassen wollte. Die Versicherte und der Kläger hätten nie die finanziellen Möglichkeiten zu einer Namensänderung gehabt.
Zwar sieht der Senat den Wunsch der Versicherten, mit der Eheschließung die Änderung ihres Ehenamens herbeizuführen, als einen von der Versorgungsabsicht verschiedenen Beweggrund für die Eheschließung an (vgl. auch Urteil des BSG vom 27.08.2009 – B 13 R 101/08 R, nach juris). Allerdings ergibt sich aus der Gesamtschau der objektiven und subjektiven Umstände, dass dieser Beweggrund weder den Versorgungszweck überwiegt, noch diesem zumindest als gleichwertig anzusehen ist. Die Versicherte hat in dem Zusatz zur Patientenverfügung vom 30.06.2014 deutlich gemacht, dass sie die Ehe eingehen wollte, da sie nicht mit dem Ehenamen „S.“ sterben wollte. Die schlimmen Erinnerungen an ihre erste Ehe wollte sie hinter sich lassen. Dies sei ihr Wunsch schon zu Beginn der Beziehung mit dem Kläger gewesen. All dem ist zu entnehmen, dass erst nach einem 25jährigen unverheirateten Zusammenleben nunmehr der Entschluss umgesetzt werden sollte, den belastenden Ehenamen zu ändern. Allerdings kann dies angesichts der Lebensbedrohlichkeit der Erkrankung und der palliativen Versorgung der Versicherten nicht als gewichtiger Grund angesehen werden. Denn die Versicherte war zuvor nicht gehindert, eine Namensänderung zu beantragen. Nach Rechtskraft des Scheidungsurteils am 18.11.1986 hätte die Versicherte ihren Geburtsnamen wieder annehmen können (§ 1355 Abs. 5 Bürgerliches Gesetzbuch). Dass finanzielle Mittel nicht zur Verfügung standen, erschließt sich dem Senat nicht. Beim Standesamt entstehen Gebühren für die Namensänderung von weniger als 100 €, hinzukommen allenfalls Unkosten wegen der Änderung von Ausweisdokumenten.
Etwas Anderes folgt nicht aus dem Hinweis des Klägers, es reiche zur Widerlegung der Vermutung aus, wenn für einen der Ehegatten die Versorgungsabsicht nachweislich nicht maßgebend gewesen ist. Für ihn sei nicht die Versorgung Zweck der Eheschließung gewesen. Er sei vielmehr dem Wunsch der Versicherten nachgekommen, wie es ihrem Lebensziel entsprochen habe.
Der Kläger hat hierzu auf das Urteil des BSG vom 05.05.2009 Bezug genommen. Das BSG hat in dieser Entscheidung ausgeführt, dass es nicht zwingend sei, dass bei beiden Ehegatten andere Beweggründe als Versorgungsgesichtspunkte für die Eheschließung ausschlaggebend waren. Vielmehr seien die von der Versorgungsabsicht verschiedenen Beweggründe in ihrer Gesamtbetrachtung auch dann noch als zumindest gleichwertig anzusehen, wenn nachweislich für einen der Ehegatten der Versorgungsgedanke bei der Eheschließung keine Rolle gespielt hat (Urteil vom 05.05.2009, a.a.O.). Hieraus kann aber nicht gefolgert werden, dass die vermutete Versorgungsabsicht bereits dann zwingend widerlegt ist, wenn einer der Ehegatten, insbesondere der Hinterbliebene, nicht überwiegend den Zweck verfolgt hat, der Witwe oder dem Witwer eine Versorgung zu verschaffen.
Dies ergibt sich aus den Urteilen, auf die das BSG zur Begründung verwiesen hat (Urteile des BSG vom 03.09.1986 – 9a RV 8/84 – und vom 28.03.1973 – 5 RKnU 11/71). Diesen Streitsachen lag jeweils der Sachverhalt zu Grunde, dass in der Person des (verstorbenen) Versicherten die Voraussetzungen des Widerlegungstatbestandes der „besonderen Umstände“ erfüllt waren und zu entscheiden war, ob ein etwa entgegengesetzter auf Versorgung gerichteter Beweggrund der späteren Witwe unbeachtlich ist. Diesem Sachverhalt entspricht nicht die vorliegend zu entscheidende Situation. Zwar behauptet der Kläger, für ihn habe der Versorgungsgedanke bei der Eheschließung keine Rolle gespielt. Allerdings waren in der Person des Klägers keine besonderen Umstände festzustellen, die die Vermutung der Versorgungsabsicht widerlegen. Im Übrigen hat das BSG in dem genannten Urteil vom 28.03.1973 auch ausgeführt, dass von einer Gesamtabwägung der beiderseitigen Motive beider Ehegatten auszugehen sei.
Nach all dem war die Berufung zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht, § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG.


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