Sozialrecht

Anerkennung einer depressiven Anpassungsstörung als Dienstunfallfolge

Aktenzeichen  3 ZB 14.2646

Datum:
17.3.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 44295
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 2
BayBeamtVG Art. 46 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

Abweichend von der ICD-10 kann eine chronifizierte, depressive  Anpassungsstörung als weitere Folge eines Dienstunfalls anerkannt werden, wenn der Dienstunfall diese Erkrankung “wesentlich mitwirkend” verursacht hat, weil die psychische Erkrankung des Beamten auf die indirekten Dienstunfallfolgen, insbesondere den “Kampf mit den Behörden“ zurückzuführen ist.  (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

W 1 K 11.734 2014-07-22 Urt VGWUERZBURG VG Würzburg

Tenor

I.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II.
Der Beklagte trägt die Kosten des Antragsverfahrens.
III.
Der Streitwert für das Antragsverfahren wird auf 5.000 € festgesetzt.

Gründe

Der auf die Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils) und des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO (besondere rechtliche oder tatsächliche Schwierigkeiten) gestützte Antrag bleibt ohne Erfolg.
1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts i. S.v. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestehen auf der Grundlage des Zulassungsvorbringens nicht. Ernstliche Zweifel im Sinne dieser Vorschrift, die die Zulassung der Berufung rechtfertigen, sind zu bejahen, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird (BVerfG, B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – juris) und die Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente auf das Ergebnis durchschlagen (BVerwG, B.v. 10.3.2004 – 7 AV 4/03 – juris). Dies ist vorliegend nicht der Fall.
Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten zu Recht verpflichtet, als weitere Folge des Dienstunfalls vom 1. September 2009 eine depressive Anpassungsstörung anzuerkennen.
Das Verwaltungsgericht ist auf Grundlage des fachneurologischen Gutachtens von Prof. Dr. S… vom 17. März 2010 mit Ergänzung vom 12. Juli 2013, das dieser in der mündlichen Verhandlung am 22. Juli 2014 erläutert hat, rechtsfehlerfrei davon ausgegangen, dass beim Kläger im Zeitpunkt der Ruhestandsversetzung (1. September 2009) eine depressive Anpassungsstörung vorlag, die „wesentlich mitwirkend“ durch den vom Beklagten bereits anerkannten Dienstunfall vom 26. Mai 2008 verursacht worden ist. Das Verwaltungsgericht ist damit der Einschätzung des Sachverständigen gefolgt, der die – unstreitig gegebene – psychische Erkrankung des Klägers auf die „indirekten Dienstunfallfolgen“, „insbesondere den Kampf mit den Behörden“ zurückführte.
1.1 Der Beklagte trägt vor, die Ausführungen des Sachverständigen in seinem Gutachten und auch im Rahmen der mündlichen Verhandlung seien nicht substantiiert und nicht nachvollziehbar. Relevante Kränkungen des Klägers nach dem Dienstunfall am 26. Mai 2008 seien weder erkennbar, noch seien sie vorgetragen oder vom Sachverständigen explizit aufgeführt worden.
Der Sachverständige hat in seinem Gutachten vom 17. März 2010; Bl. 36, beispielhaft für „den Kampf mit den Behörden“ die anhaltende, schriftliche Auseinandersetzung über Kostenfragen, die bis zu den zuständigen Ministern hinausgetragen wurde, genannt. Hierbei ging es um die Kostenerstattung für die infolge des Dienstunfalls erforderliche Operation des Klägers. Hinsichtlich der veranschlagten Kosten in Höhe von 4.998 € wurde lediglich eine Erstattung in Höhe von 3.091,56 € in Aussicht gestellt. In der Folge wandte sich der Kläger mit Schreiben vom 14. April 2009 an den Staatsminister Herrmann um „Überprüfung und Einflussnahme auf diese, aus Sicht des Landesamts zweifellos pflichtgemäße, aus [seiner] Sicht jedoch inakzeptable Entscheidung“. Dieser wiederum bat den damaligen Staatsminister Fahrenschon um weitere Prüfung der Angelegenheit. Es mag zwar wünschenswert sein, dass der Sachverständige weitere konkrete Beispiele angeführt hätte, zwingend notwendig war dies indes nicht, zumal das genannte Beispiel plakativ für die aus Sicht des Klägers inakzeptable Bearbeitung im Rahmen der Erstattung der Heilbehandlungskosten war.
1.2 Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils ergeben sich auch nicht aus der Vermutung des Beklagten, der Ärger des Klägers mit seinen Vorgesetzten in Folge einer früheren Ruhestandsversetzung und dessen Aufarbeitung im Zuge eines Verfahrens auf Wiederaufgreifen des Ruhestandsversetzungsverfahrens ab dem Jahre 2007 habe sich auf den Dienstunfall vom 26. Mai 2008 verlagert. Mit dieser Vermutung kann die Feststellung des Sachverständigen in seinem ergänzenden Gutachten vom 12. Juli 2013 nicht in Frage gestellt werden, wonach die Ereignisse, die zur Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand vom 1. Juli 1990 bis zum 1. März 1996 führten, für die Frage, ob die eindeutige Depression mit ihren alltagsrelevanten Einschränkungen auf den Unfall zurückzuführen ist oder nicht, „kaum eine Rolle“ spielten. Diese gutachterliche Einschätzung erscheint dem Senat auch plausibel, zumal der Kläger diese Ereignisse in der Erstanamnese 2010 gegenüber dem Sachverständigen nicht thematisiert hatte. Daraus ist zu schließen, dass diese Angelegenheit und deren gerichtliche Aufarbeitung (Verfahren W 1 K 08.2049) für den Kläger nicht erzählenswert und damit nicht von Bedeutung war.
1.3 Der Beklagte rügt weiter, der Sachverständige habe sich nicht mit dem polizeiärztlichen Gesundheitszeugnis vom 14. Oktober 2008 auseinandergesetzt. Dort werde festgestellt, dass die mit der Erkrankung auf orthopädischen/chirurgischen Gebiet verbundene Schmerzsymptomatik auch zu negativen Auswirkungen auf die psychische Verfassung des Beamten geführt habe. Ohnehin sei eine nachvollziehbare Auseinandersetzung des Sachverständigen mit möglichen relevanten Vorerkrankungen/Vorbelastungen des Klägers nicht ersichtlich. Damit kann der Beklagte die Richtigkeit des Sachverständigengutachtens und darauf beruhend die Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht ernstlich in Frage stellen. Der Sachverständige hat berücksichtigt, dass der Kläger eine besonders sensitive Persönlichkeit ist. Er hat in Rechnung gestellt, dass der Persönlichkeitsanteil bei der Entstehung der chronifizierten Anpassungsstörung beträchtlich ist (vgl. Ergänzungsgutachten vom 12. Juli 2013, Bl. 19 f.). Der Hinweis des Beklagten auf etwaige Vorbelastungen bzw. Vorerkrankungen bleibt unkonkret und kann daher die gutachterlichen Feststellungen nicht in Frage stellen. Auch wenn der polizeiärztliche Dienst im Jahre 2008 psychische Beeinträchtigungen des Klägers aufgrund der Schmerzsymptomatik feststellte, ergeben sich keine Zweifel an der Richtigkeit des Sachverständigengutachtens. Für den Sachverständigen spielte weder im Jahr 2010, noch in den Jahren 2013 und 2015 die Schmerzsymptomatik eine Rolle. Eine gutachterliche Aussage im Sinne einer Negativfeststellung ist nicht erforderlich, zumal sich eine entsprechende Feststellung mangels manifestierter Angaben, beispielsweise über eine bestehende Schmerzsymptomatik, auch nicht anbot.
Der Beklagte misst der ICD-10 eine Bedeutung zu, die diese nicht hat. Er meint, eine Gutachtenserstellung könne nicht losgelöst von dem geltenden (und bislang nicht abgeänderten) Regelwerk erfolgen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, der sich der Senat anschließt, sind jedoch begründete Abweichungen von der ICD-10, insbesondere aufgrund zwischenzeitlichen wissenschaftlichen Fortschritts nicht ausgeschlossen (vgl. BSG, U.v. 9.5.2006 – B 2 U 1/05 R – juris Rn. 22). Der Sachverständige hat ausgeführt (vgl. Ergänzungsgutachten vom 12. Juli 2013, Bl. 19), dass es immer mehr akzeptiert werde, dass es eine chronische Form einer Anpassungsstörung gebe. Tatsächlich sei die zeitliche Begrenzung der Anpassungsstörung wissenschaftlichempirisch nicht belegt und auch nicht belegbar. Der diesbezügliche Konsens in der wissenschaftlichen Gemeinschaft sei beträchtlich. Hiergegen wendet sich der Beklagte mit seinem Zulassungsantrag nicht.
Der Beklagte führt aus, die Modifizierung im Ergänzungsgutachten, wonach der Verursachensanteil des Dienstunfalls abweichend vom Erstgutachten nicht mehr wesentlich durch unfallunabhängige Faktoren bestimmt, sondern annähernd gleichwertig sei, erschließe sich nicht. Der Beklagte blendet aus, dass der Sachverständige hierzu in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht ausgeführt hat, Grund für diese Modifizierung sei, dass er im Zeitraum zwischen beiden Gutachten 2010 bis 2013 das Zeitkriterium zunehmend kritischer gesehen habe (vgl. insoweit auch Ergänzungsgutachten vom 12. Juli 2013, Bl. 19). Das korrespondiert mit der Aussage im Ergänzungsgutachten vom 12. Juli 2013, B. 19, wonach sich hinsichtlich der wissenschaftlichen Akzeptanz einer chronischen Form der Anpassungsstörung seit dem Erstgutachten „durchaus bedeutsame Änderungen“ ergeben haben. Insoweit erschließt sich die Modifikation durchaus.
Der Beklagte rügt, es werde nicht nachvollziehbar und schlüssig ausgeführt, warum der Dienstunfall in der Anfangsphase der psychischen Beschwerden eine wichtige Rolle gespielt habe. Dieser Vortrag bleibt unsubstantiiert und gewinnt auch durch die Bezugnahme auf diverse erstinstanzliche Einzelfallentscheidungen nicht an Substanz. Der Beklagte trägt vor, es sei nicht nachvollziehbar und schlüssig ausgeführt, warum der derzeitige Zustand des Klägers ohne den Dienstunfall nicht denkbar wäre. Hinsichtlich der Kausalitätsfrage hat der Sachverständige ausgeführt, dass die chronifizierte Anpassungsstörung auf indirekte bzw. mittelbare Unfallfolgen zurückzuführen sei und bei Hinwegdenken des Unfalls eine depressive Anpassungsstörung sicher nicht aufgetreten wäre (vgl. Niederschrift Bl. 5). Mit der schlichten Einwendung, dies sei nicht nachvollziehbar, kann der Beklagte diese Prämisse nicht ernstlich in Frage stellen.
2. Aus den unter 1. dargestellten Gründen ergibt sich zugleich, dass die Rechtssache auch nicht die vom Beklagten – pauschal – geltend gemachten besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO aufweist.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 52 Abs. 2, § 47 GKG.
Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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