Sozialrecht

Annahme von Blindheit außerhalb der normierten Fallgruppen der versorgungsmedizinischen Grundsätzen in Ausnahmefällen zulässig

Aktenzeichen  L 15 BL 4/16

Datum:
10.4.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 8700
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
BayBlindG Art. 1

 

Leitsatz

1. In besonderen Ausnahmefällen spezieller Krankheitsbilder ist die Annahme von Blindheit auch außerhalb der normierten Fallgruppen der Versorgungsmedizinischen Grundsätzen bzw. der Richtlinien der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft nicht von vorneherein ausgeschlossen (Fortführung der st. Rechtsprechung des Senats). (Rn. 66)
2. Verbleibende Restzweifel sind bei der Überzeugungsbildung bzgl. von Blindheit unschädlich, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten. Unter Berücksichtigung der allen medizinischen Beurteilungen immanenten Unsicherheiten stehen auch solche Restzweifel, die durchaus einer medizinisch-wissenschaftlichen Diskussion offenstehen, jedoch im Einzelnen nicht überzeugen können, der richterlichen Überzeugungsbildung nicht entgegen; es muss sich nicht um nur völlig unbedeutende Restzweifel handeln. (Rn. 57 – 58)

Verfahrensgang

S 4 BL 2/14 2016-02-09 GeB SGAUGSBURG SG Augsburg

Tenor

I. Auf die Berufung werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 9. Februar 2016 und der Bescheid des Beklagten vom 4. September 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. April 2014 aufgehoben. Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin ab 1. Oktober 2014 Blindengeld nach dem BayBlindG zu gewähren.
II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
III. Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu 9/10 zu tragen.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung ist zulässig (Art. 7 Abs. 3 BayBlindG i.V.m. §§ 143, 151 SGG) und ganz überwiegend auch begründet.
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin blind im Sinne des BayBlindG ist und ihr deshalb (ab dem Monat der Antragstellung Blindengeld) zusteht. Dies hat das SG verneint, für die Zeit ab Oktober 2014 zu Unrecht. Die Klägerin hat ab diesem Zeitpunkt Anspruch auf Blindengeld. Der streitgegenständliche Bescheid des Beklagten vom 04.09.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 04.04.2014 ist insoweit rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
Gemäß Art. 1 Abs. 1 BayBlindG erhalten blinde Menschen, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Bayern haben oder soweit die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl L 166 S. 1, ber. ABl L 200 S. 1, 2007 ABl L 204 S. 30) in der jeweils geltenden Fassung dies vorsieht, zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehraufwendungen auf Antrag ein monatliches Blindengeld. Dabei beinhaltet nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), an die sich der Senat gebunden fühlt, die Formulierung „zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehraufwendungen“ keine eigenständige Anspruchsvoraussetzung, sondern umschreibt lediglich die allgemeine Zielsetzung der gesetzlichen Regelung (vgl. BSG, Urteil vom 26.10.2004 – B 7 SF 2/03 R).
Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt (Art. 1 Abs. 2 Satz 1 BayBlindG). Als blind gelten gemäß Art. 1 Abs. 2 Satz 2 BayBlindG auch Personen,
1.deren Sehschärfe auf keinem Auge und auch beidäugig nicht mehr als 0,02 (1/50) beträgt oder
2.bei denen durch Nr. 1 nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr. 1 gleichzuachten sind.
Hochgradig sehbehindert ist gemäß Art. 1 Abs. 3 BayBlindG, wer nicht blind in diesem Sinne (Art. 1 Abs. 2 BayBlindG) ist und
1. wessen Sehschärfe auf keinem Auge und auch beidäugig nicht mehr als 0,05 (1/20) beträgt oder
2. wer so schwere Störungen des Sehvermögens hat, dass sie einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 nach dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) bedingen.
Vorübergehende Sehstörungen sind nicht zu berücksichtigen. Als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten.
Eine der Herabsetzung der Sehschärfe auf 0,02 oder weniger gleichzusetzende Sehstörung im Sinn des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG liegt, den Richtlinien der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) folgend, vor allem bei folgenden Fallgruppen vor (siehe VG, Teil A Nr. 6):
a. bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,033 (1/30) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfelds in keiner Richtung mehr als 30° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
b. bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,05 (1/20) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfeldes in keiner Richtung mehr als 15° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
c. bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,1 (1/10) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfelds in keiner Richtung mehr als 7,5° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
d. bei einer Einengung des Gesichtsfelds, auch bei normaler Sehschärfe, wenn die Grenze der Gesichtsfeldinsel in keiner Richtung mehr als 5° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
e. bei großen Skotomen im zentralen Gesichtsfeldbereich, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und im 50°-Gesichtsfeld unterhalb des horizontalen Meridians mehr als die Hälfte ausgefallen ist,
f. bei homonymen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und das erhaltene Gesichtsfeld in der Horizontalen nicht mehr als 30° Durchmesser besitzt,
g. bei bitemporalen oder binasalen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und kein Binokularsehen besteht.
Die Klägerin hat ab Oktober 2014 Anspruch auf Blindengeld. Blindheit im Sinne des BayBlindG ist seitdem nachgewiesen.
Zwar liegt weder Lichtlosigkeit gemäß Art. 1 Abs. 2 Satz 1 BayBlindG vor noch sind die Voraussetzungen des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 BayBlindG erfüllt. Allerdings ist bei der Klägerin eine der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr. 1 gleichzuachtende Sehstörung gemäß Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG (faktische Blindheit) erfüllt.
Dies steht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme zur Überzeugung des Senats mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fest (vgl. BSG, Urteil vom 15.12.1999 – B 9 VS 2/98 R). Der Senat stützt sich dabei insbesondere auf die besonders fundierten und plausiblen Sachverständigengutachten von Dr. K. und Prof. Dr. C.. Der Senat macht sich diese Feststellungen, die auch nicht im Widerspruch zu den vorliegenden Befunddokumentationen stehen, zu eigen.
Freilich übersieht der Senat nicht, dass in dem vorliegenden – medizinisch-wissenschaft-lich komplexen – Fall gewisse Zweifel an der Blindheit der Klägerin verbleiben. Dies ändert jedoch nichts daran, dass der Senat vom Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG überzeugt ist, wie unten im Einzelnen dargestellt wird.
Wie der Senat bereits mehrfach darauf hingewiesen hat (z.B. Urteil vom 16.11.2015 – L 15 VG 28/13), muss sich das Gericht für den Vollbeweis die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache, wie hier der Blindheit der Klägerin, verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen mit der Folge, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (vgl. BSG, Urteil vom 17.04.2013 – B 9 V 3/12 R, m.w.N.). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falls nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugungsbildung zu begründen (BSG, a.a.O.).
Die vorliegend verbleibenden Restzweifel in dem vorgenannten Sinn stehen der vollen Überzeugungsbildung nicht entgegen. Dabei ist u.a. auch zu beachten, „dass sich die Gerichte mit demjenigen Gewissheitsgrad zu begnügen haben, den die medizinische Wissenschaft im Einzelfall leisten kann“ (Kater, Das ärztliche Gutachten im sozialgerichtlichen Verfahren, 2. Aufl. 2012, S. 51, mit Verweis auf Bender/Nack/Treuer). Unter Berücksichtigung der allen medizinischen Beurteilungen immanenten Unsicherheiten (vgl. a.a.O., S. 49 f.) müssen somit nicht nur völlig unbedeutende Restzweifel außen vor bleiben, sondern auch solche, die durchaus einer medizinisch-wissenschaftlichen Diskussion offenstehen, jedoch im Einzelnen nicht überzeugen können. Andernfalls wäre ein Blindheitsnachweis in sozialgerichtlichen Verfahren so gut wie unmöglich. Denn dann könnte in keinem Fall, wo nur eine ernsthafte medizinische Zweifelsfrage im Raum steht, für die mehrere Antworten nicht ganz ausgeschlossen sind, der Blindheitsnachweis durch den Kläger grundsätzlich nicht erbracht werden. Ein solches Verständnis vom Blindheitsnachweis ist aber mit der Rechtsprechung des BSG nicht vereinbar. Zwar hat das BSG im Urteil vom 11.08.2015 (B 9 BL 1/14 R) eindeutig festgelegt, dass die objektive Beweislast für die den Blindengeldanspruch begründende Tatbestandsvoraussetzungen grundsätzlich den sehbehinderten bzw. blinden Anspruchsteller/Kläger trifft und dass etwaige Beweiserleichterungen (des sozialen Entschädigungsrechts) nicht zum Tragen kommen. Dass hier aber wegen der Vernachlässigung der bestehenden besonderen Erkenntnisschwierigkeiten (s.o.) übertriebene Anforderungen an den Vollbeweis zu stellen wären, lässt sich dieser Rechtsprechung keinesfalls entnehmen. Im Gegenteil hat das BSG (im Urteil vom 11.08.2015, a.a.O.) in einem Teilbereich – nämlich der Diagnostik spezifischer Sehstörungen – sogar darauf aufmerksam gemacht, dass die „mit dem Beweisrecht verbundene typisierende Annahme, dass die relevanten Tatsachen im Ansatz hinreichend verlässlich feststellbar sind“, nicht gerechtfertigt ist.
Zusammenfassend ist somit aus Sicht des Senats darauf zu achten, dass die verbleibenden Zweifel unter Beachtung dieser aufgezeigten Problematik zutreffend gewichtet werden.
Diese Gewichtung ergibt vorliegend, dass der Klägerin das Augenlicht nicht vollständig fehlt und dass bei ihr faktische Blindheit im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 BayBlindG nicht vorliegt, dass jedoch eine der Herabsetzung der Sehschärft auf 0,02 oder weniger gleichzusetzende Sehstörung im Sinne des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG nachgewiesen ist, was aus den vorliegenden Untersuchungsbefunden der genannten Sachverständigen und der Berücksichtigung der weiteren Beeinträchtigung durch die erhebliche Blendempfindlichkeit der Klägerin sowie durch die Schielstellung ihres rechten Auges folgt.
1. Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens ist auszuschließen, dass der Klägerin das Augenlicht vollständig fehlen würde; hierauf muss angesichts der vorliegenden offenkundigen Befunde nicht näher eingegangen werden.
2. Der Annahme faktischer Blindheit im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 BayBlindG stehen bereits die von den Sachverständigen Dr. K. und Prof. Dr. C. erhobenen Visusbefunde entgegen. Denn danach beträgt die Sehschärfe bei der Klägerin im Zeitraum ab Antragstellung (knapp) mehr als 0,02, nämlich 0,04 bzw. 0,06 (vgl. im Einzelnen oben).
3. Bei der Klägerin liegt jedoch zur Überzeugung des Senat faktische Blindheit nach Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG vor; dies ergibt sich, wie bereits oben ausgeführt, aus den überzeugenden Sachverständigengutachten von Dr. K. und Prof. Dr. C..
Zwar hat letzterer Zweifel geäußert, ob man bei einer – wie von Dr. K. angenommenen – Sehschärfe von 0,06 (und den gemessenen Gesichtsfeldgrenzen bei max. 6 Grad) von einem Vollbeweis der Blindheit im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG ausgehen könne. Auch hat Prof. Dr. C. unter Zugrundelegung einer Sehschärfe von 0,04 bei der Messung des beidäugigen Gesichtsfelds immerhin noch einen Wert von 16 Grad festgestellt (vgl. Fallgruppe bb. VG Teil A, Nr. 6). Somit könnte fraglich sein, ob faktische Blindheit im Hinblick auf die o.g. Fallgruppen nachgewiesen ist.
Allerdings können den Senat diese Zweifel nicht überzeugen. So sind hinsichtlich der von Dr. K. ermittelten Werte die der Fallgruppe cc. VG Teil A, Nr. 6 erfüllt. Bei dem von Prof. Dr. C. ermittelten Gesichtsfeld handelt es sich um einen Grenzfall, der denkbar knapp – nämlich um ein Grad – über der Grenze liegt. Wie der Beklagte (Stellungnahme vom 22.03.2018) zu Recht hervorhebt, liegt das Problem vorliegend auch nicht darin, dass die bei den Untersuchungen ermittelten Werte, also die subjektiven Angaben der Klägerin, einer faktischen Blindheit nicht entsprechen würden, sondern in der Nachvollziehbarkeit dieser Angaben, von der der Senat in Übereinstimmung mit den Sachverständigen (siehe im Einzelnen unten) ausgeht.
Letztlich können diese Zweifel an der Erfüllung der Voraussetzungen der genannten Fallgruppen bei den vorliegend ermittelten Sehschärfewerten (0,06 und 0,04) unerörtert bleiben. Denn die Sachverständigen gehen im Einklang mit der Rechtsprechung des Senats zutreffend und plausibel davon aus, dass hier jedenfalls die Annahme faktischer Blindheit nach der genannten Vorschrift wegen den besonderen Voraussetzungen bei der Klägerin durch die zusätzlich hinzukommende besondere Blendempfindlichkeit und die Schielstellung des rechten Auges gerechtfertigt ist, unabhängig von der Frage, ob der Wortlaut der Fallgruppen nun erfüllt ist oder nicht. Denn nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. die Urteile vom 31.01.2013 – L 15 BL 6/07 – und vom 05.07.2016 – L 15 BL 17/12) ist in besonderen Ausnahmefällen spezieller Krankheitsbilder die Annahme von Blindheit auch außerhalb der normierten Fallgruppen der VG bzw. der DOG nicht ausgeschlossen. Hierzu hat der Senat in seinem Urteil vom 31.01.2013 (a.a.O.) Folgendes ausgeführt:
„Es ist unstrittig, dass die in den VG übernommenen DOG-Richtlinien nicht exklusiv sämtliche der Blindheit gleichzuachtenden kombinierten Sehstörungen aufführen, dass also die Kriterien gemäß Teil A Ziff. 6 b) VG nur beispielhaft sind […].
Der materielle Charakter der (medizinischen) Festlegungen und auch der Wortlaut der VG lassen es zu, zur Annahme faktischer Blindheit in Ausnahmefällen Sehstörungen ausreichen zu lassen, auch wenn die jeweiligen Voraussetzungen einer der VG-Fallgruppen nicht in vollem Umfang erfüllt sind. Denn die DOG-Richtlinien, auf denen die VG beruhen, sind nichts anderes als allgemeine medizinische Erfahrungssätze, die als fraglos gesichert und gänzlich verlässlich aus der Fülle des übrigen medizinischen Erfahrungswissens herausgenommen sind (vgl. hierzu Kater, Das ärztliche Gutachten im sozialgerichtlichen Verfahren, 2. Auflage, S. 36; Keller, in: Mayer-Ladewig/ders./Leitherer, SGG, 10. Auflage, § 128, Rdnr. 11). Zu diesen Erfahrungssätzen gehört jedoch nicht, dass sie Exklusivität beanspruchen. Dies folgt nicht nur aus medizinischer Sicht (vgl. z.B. Lachenmayr, a.a.O.), sondern auch bereits daraus, dass ein solcher Erfahrungssatz eine Tendenz zur Veränderung in sich birgt (vgl. Kater, a.a.O.) und auch insoweit bereits hinsichtlich der Absolutheit („fraglos gesichert“) selbst wieder in Frage zu stellen ist, was auch daraus ersichtlich wird, dass dem Vernehmen nach demnächst eine Änderung der Fallgruppen in den VG vorgenommen werden wird. Vor allem sind aus Sicht des Senats auch keine Gründe und auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass es die Richtlinien der DOG bzw. die Festlegungen der VG ausschließen wollten, in besonderen Ausnahmefällen einem speziellen Behinderungsbild ausreichend gerecht zu werden.“
Auch die normative Bindungswirkung der VG (vgl. z.B. Francke/Gagel, Der Sachverständigenbeweis im Sozialrecht, 1. Aufl., S. 119, m.w.N. der Rechtsprechung; ferner BayLSG vom 06.11.2012 – L 15 VS 13/08 ZVW) bzw. die intendierte möglichst gleichmäßige Anwendung der Bewertungsmaßstäbe und somit die Ziele einheitlichen Verwaltungshandelns und der Gleichbehandlung sprechen nach Auffassung des Senats wegen der Begrenzung der über den Fallgruppenkatalog hinausgehenden Annahme faktischer Blindheit auf außergewöhnliche Fallkonstellationen nicht entgegen.
Somit sind vorliegend nicht nur die in der Herabsetzung des Visus und der Begrenzung des Gesichtsfelds zum Ausdruck kommende Sehstörung, sondern entsprechend der plausiblen Darlegung von Prof. Dr. C. auch die Blendempfindlichkeit beider Augen und die Schielstellung des rechten Auges zu berücksichtigen. Ob darüber hinaus auch noch die von ihm erwähnte untypische Farbsinnstörung geeignet ist, einen besonderen Ausnahmefall bzw. ein spezielles Behinderungsbild zu begründen, kann vorliegend offenbleiben, da es hierauf nicht mehr entscheidend ankommt; weitergehende Ermittlungen waren daher nicht veranlasst.
Die „seit jeher bestehende Schwachsichtigkeit“ (so der Sachverständige) des linken Auges dürften hingegen nicht hierzu beitragen, da sich die Schwachsichtigkeit unmittelbar in einem niedrigen Visus und ggf. eingeschränkten Gesichtsfeld niederschlägt, also nicht zusätzlich zu den Einschränkungen der Fallgruppen zu berücksichtigen ist. Daraus folgt jedoch nicht, dass die Annahme eines speziellen Behinderungsbildes in dem vorgenannten Sinn unvertretbar wäre. Denn die genannten zusätzlichen Einschränkungen sind erheblich und stellten eine wesentliche zusätzliche Einschränkung dar. Es ist unbestritten, dass – neben Sehschärfe und Gesichtsfeld – vor allem das räumliche Sehen, das Farbsehvermögen, das Dämmerungs- und Kontrastsehen und die Blendungsempfindlichkeit insoweit eine wesentliche Rolle spielen (vgl. z.B. C., Augenärztliche Begutachtung im sozialen Entschädigungs- und Schwerbehindertenrecht und bei Blindheit, in: MedSach 2012, 5 ).
Dass hier ein Ausnahmefall im o.g. Sinn und somit Blindheit auch außerhalb der normierten Fallgruppen der VG bzw. der DOG vorliegt, steht im Übrigen auch nicht das oben erwähnte Urteil des Senats vom 05.07.2016 (L 15 BL 17/12) entgegen. Zwar hat der Senat in dieser Entscheidung festgelegt, dass Voraussetzung für die Berücksichtigung in den speziellen Fällen auch außerhalb der normierten Fallgruppen stets ist, dass feststeht, ob die Visus- und Gesichtsfeldwerte unter die normierten Grenzen herabgesunken sind. Ein allgemeiner, pauschaler Vergleich genügt nicht. Ein solcher Fall ist vorliegend jedoch nicht gegeben. Anders als in dem der genannten Entscheidung zugrundeliegenden Fall sind (grundsätzlich verlässliche) Messungen und Untersuchungen bei der Klägerin möglich gewesen; lediglich die Plausibilität einzelner Angaben ist hier zu diskutieren. Bei der Klägerin liegt aber weder eine Einschränkung aller Sinnesfunktionen noch eine zerebrale, allgemeine Beeinträchtigung vor. Anders als im Fall der genannten Entscheidung betrifft die Wertung der Sachverständigen Dr. K. und Prof. Dr. C. vorliegend die zusätzlichen Beeinträchtigungen (durch Blendempfindlichkeit und Schielstellung) und nicht die allgemeine Unmöglichkeit, Visusbzw. Gesichtsfeldwerte zu erheben. Die Entscheidung vom 05.07.2016 (a.a.O.) schließt es gerade nicht aus, in wie hier vorliegenden Grenzfällen die Rechtsprechung des Senats (31.01.2013, a.a.O.) zur Annahme von Blindheit außerhalb der normierten Fallgruppen anzuwenden.
Dass vorliegend die Voraussetzungen für die Annahme faktischer Blindheit gegeben sind – im Einzelnen, dass die erhobenen Visus- und Gesichtsfeldbefunde grundsätzlich zutreffend sind (s. im Einzelnen unten) und die Annahme faktischer Blindheit unter Berücksichtigung der zusätzlichen Einschränkung durch die besondere Blendempfindlichkeit und Schielstellung des Auges gerechtfertigt ist – ergibt sich, wie bereits mehrfach betont, aus den genannten Sachverständigengutachten.
Danach leidet die Klägerin jedenfalls an Myopie, Astigmatismus, Makulaektopie, Opticusatrophie und Innenschielstellung (rechts) und untypischer Farbsinnstörung (rechts) sowie Pseudophakie.
Wie sich aufgrund der umfangreichen Befunddokumentation und der übereinstimmenden Beurteilung der Sachverständigen und des Beklagten ergibt, ist die genaue Einordnung der bei der Klägerin bestehenden Augenerkrankungen schwierig. Problematisch bei der Beurteilung der zugrunde liegenden Augenerkrankungen ist u.a., dass infolge der Veränderungen des Vorderabschnitts der Augen und insbesondere der nur relativ kleinen Kapsellücke ein genügend sicherer Einblick in tiefere Augenabschnitte nicht möglich ist, was, wie der Sachverständige Prof. Dr. C. plausibel hervorgehoben hat, auch gleichzeitig zu einer zusätzlichen Funktionseinschränkung führt. Letztlich nicht geklärt werden konnte, ob bei der Klägerin eine Retinopathia pigmentosa (gegebenenfalls in einer seltenen Neumutation) vorliegt. Wie der vom Beklagten beauftragte Ophthalmologe Prof. Dr. U. darauf hingewiesen hat, bleibt es „etwas spekulativ“, ob es sich tatsächlich um eine Stäbchen-Zapfen-Dystrophie handelt. Nicht feststeht auch, ob bei der Klägerin die „etwas untypische“ familiäre exsudative Vitreoretinopathie Criswick-Schepens (vgl. die Darlegungen von Prof. Dr. C.) vorliegt.
Diese Fragen und weiteren Unsicherheiten sind jedoch letztlich nur teilweise beachtlich; die exakten Diagnosen, die der massiven Sehbeeinträchtigung der Klägerin zugrunde liegen, können letztlich offen bleiben. Wie oben im Einzelnen bereits zur Frage des Nachweises der Blindheit dargelegt, sind auch diese diagnostischen Einordnungen im Hinblick auf die grundsätzliche Problematik der medizinisch-wissenschaftlichen Feststellungen (s.o.) nur von sekundärer Bedeutung. Feststeht nach allen Darlegungen durch ophthalmologische Behandler und Gutachter, dass die Klägerin jedenfalls an erheblichen Schädigungen der Retina leidet und dass auch der Nervus opticus geschädigt ist. Wie Prof. Dr. C. nachvollziehbar dargelegt hat, steht eine Verziehung der Stelle des schärfsten Sehens an beiden Augen im Mittelpunkt der Sehbeeinträchtigung der Klägerin; darüber hinaus ist es an beiden Augen zu einer Netzhautablösung gekommen, die operativ versorgt worden ist. Neben einer seit jeher bestehenden deutlichen Sehschärfereduktion ist es zudem in den letzten Jahren zu einer weiteren Verschlechterung gekommen, wobei sich die wesentlichen morphologischen Befunde seit 15.07.2013 höchstens minimal verändert haben.
Auf die diagnostische Einordnung kommt es im Einzelnen nur insoweit an, als sich dadurch Rückschlüsse bezüglich der von der Klägerin angegebenen Sehbeeinträchtigungen ergeben (vgl. z.B. auch die Vorgabe der VG in Teil B, Vorbemerkung Nr. 4, wonach der morphologische Befund die Sehbeeinträchtigung zu erklären hat). Durch die hier festgestellten Diagnosen sind die massiven Sehstörungen der Klägerin zur Überzeugung des Senats, die zur Annahme faktischer Blindheit (gem. Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG) führen, ausreichend begründet, ohne dass die konkrete Einordnung entscheidend wäre. So gesteht selbst der vom Beklagten beauftragte, den Angaben der Klägerin sehr kritisch gegenüberstehende Ophthalmologe Prof. Dr. U. u.a. zu, dass selbst ohne eine „fragliche“ Stäbchen-Zapfen-Dystrophie eine funktionelle Verschlechterung des Sehnerven über die Jahre durchaus durch die von Geburt an bestehende Malformation des Sehnerven zu erklären sei. Im Übrigen ist es auch nicht Sinn eines sozialgerichtlichen Verfahrens, die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft voranzutreiben oder in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen Position zu beziehen, wie der Senat in Übereinstimmung mit dem BSG bereits in zahlreichen Entscheidungen dargelegt hat (vgl. z.B. die Urteile vom 11.07.2017 – L 15 VJ 6/14 – sowie vom 26.09.2017 – L 15 BL 8/14, mit Verweis auf das Urteil des BSG vom 16.09.20107 – 1 RK 28/95). Aus diesem Grund war im Übrigen auch nicht veranlasst, hier noch weiter zu ermitteln.
Im Mittelpunkt der (für den Senat nur Rest-) Zweifel an der Erfüllung der Voraussetzungen des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG, wie sie insbesondere vom Beklagten artikuliert wurden, stehen vielmehr die vorgetragenen Aspekte, nach denen den Angaben der Klägerin zu Visus- und Gesichtsfeld nicht (vollständig) geglaubt werden könne. Dies gilt insbesondere für die unterschiedlichen Visus- und Gesichtsfeldangaben der Klägerin, auf die der Beklagte mehrfach in Übereinstimmung mit den vorliegenden Befunden hingewiesen hat.
Der Senat stellt nicht in Abrede, dass jeweils voneinenader abweichende Visus- und Gesichtsfeldangaben eines betroffenen sehbehinderten Menschen grundsätzlich u.U. durchaus zu gewichtigen Zweifeln führen und letztlich einen Blindheitsnachweis vereiteln können; dies ist in der ständigen Rechtsprechung des Senats auch fest verankert. Mit dem Sachverständigen Prof. Dr. C. und im Ergebnis auch mit Dr. K. geht der Senat jedoch davon aus, dass vorliegend die Angaben der Klägerin der Annahme von faktischer Blindheit im o.g. Sinn nicht entgegenstehen.
Auch wenn der Senat die Angaben der Klägerin anlässlich der Untersuchung bei Prof. Dr. K. im Jahr 2012 durchaus als widersprüchlich und insoweit (besonders wegen der Angaben bei den jeweils unterschiedlichen Abständen am Bjerrumschirm) nur bedingt als glaubhaft ansieht, geht er entsprechend der zutreffenden Feststellung des Sachverständigen Prof. Dr. C. davon aus, dass „deshalb nicht dauerhaft und für alle Zeit an den Angaben … gezweifelt werden“ kann, vor allem, wenn – worauf der Sachverständige ebenfalls zu Recht hingewiesen hat – zahlreiche objektive Befunde und auch der morphologische Befund eindeutig eine ausgeprägte Schädigung dokumentieren. Allerdings sind die Angaben sicherlich kritisch zu hinterfragen, was die Sachverständigen Dr. K. und Prof. Dr. C. auch im Einzelnen getan haben.
Im Ergebnis teilt der Senat die Auffassung von Prof. Dr. C., der die Sehschärfeangaben als glaubhaft betrachtet und „keinerlei Zweifel an den jetzigen subjektiven Angaben zum Gesichtsfeld“ hat.
Wie dieser zutreffend hervorgehoben hat, stehen die Schwankungen bzgl. der Angaben bei beiden Prüfungen dem nicht entgegen.
Nach der plausiblen Darlegung des beauftragten Ophthalmologen ist hinsichtlich der über Jahre hinweg angegebenen stabilen Sehschärfe und dem Abfall ab 2012 u.a. zu berücksichtigen, dass es sich bei den Befunden bis 2012 nahezu ausschließlich um klinische Untersuchungen ohne gutachtliche Bedingungen gehandelt hat. Eine gutachtlich korrekte Sehschärfeprüfung (nach DIN 58220 mit Landoltringen und definiertem Abbruchkriterium) unterscheidet sich erheblich von einer im Rahmen einer augenärztlichen Untersuchung oder Behandlung durchgeführten Prüfung. Es ist daher nicht verwunderlich, dass gutachterliche Ergebnisse mit Landoltringen typischerweise niedriger liegen als Ergebnisse bei letzteren Prüfungen.
Vor allem aber hat der Gutachter festgestellt, dass sich bei der Sehschärfeprüfung im Vergleich von Ferne, Nähe und Vergrößerungsbedarf kein Anhalt für widersprüchliche oder nicht glaubhafte Angaben seitens der Klägerin ergeben hat.
Zudem hat der Sachverständige auch nachvollziehbar dargestellt, dass die Prüfung der Sehschärfe zu einem quantitativen Ergebnis führt, das eine Genauigkeit vorgibt, die in Wirklichkeit nicht existiert, worauf der Senat in seiner Rechtsprechung bereits hingewiesen hat (Urteil vom 16.11.2017 – L 15 BL 12/17). So ist die Sehschärfeprüfung (als subjektive Untersuchungsmethode) keine exakte Messung, bei der nicht einmal bei baldiger Wiederholung stets dieselbe Sehschärfe resultiert. Dies muss erst recht bei späteren Wiederholungen an einem anderen Tag gelten (vgl. d. Problem der „Tagesform“). Der Senat hat – im Ergebnis übereinstimmend nun auch mit den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. C. – festgestellt (a.a.O.):
„Im Übrigen ist aus Sicht des Senats nicht außer Acht zu lassen, dass jeder Visusbestimmung, also auch der mit den grundsätzlich vorgeschriebenen Landoltringen, eine gewisse Unschärfe eigen ist, die sich durchaus als im Sinn der Blindheitsbegutachtung relevant darstellen kann. Hierzu zählen nicht nur die Fälle von Aggravation im Hinblick darauf, dass es sich bei Visus (und Gesichtsfeld) insoweit um subjektive Befunderhebungen handelt, sondern hinzu kommt auch die Problematik der nur eingeschränkten Reproduzierbarkeit von Sehschärfemessungen. Bekanntlich ist davon auszugehen, dass nur bei einem Drittel aller Wiederholungen eines Tests derselbe Sehschärfewert ermittelbar ist; bei einem Sechstel aller Wiederholungen könnte der Unterschied sogar zwei Visusstufen betragen (vgl. z.B. bereits die Darlegungen von Bach/Kommerell, Sehschärfebestimmung nach Europäischer Norm, in: Klinische Monatsblätter für Augenheilkunde 1998; 212: S. 190 bis 195).“
In diesem Zusammenhang hat der Sachverständige auch plausibel auf die vorliegend starken Schwankungen der Angaben zur Brechkraft der Augen der Klägerin hingewiesen. So sind die deutlichen Schwankungen vor allem der Achse der Hornhautverkrümmung links einerseits Ausdruck der durch die erhebliche Trübung der Linsenkapsel hervorgerufenen Einschränkung der Optik dieses Auges, und somit ein zusätzlicher Erklärungspunkt für eine Sehschärfereduktion. Andererseits haben diese Schwankungen, wie der Sachverständige hervorgehoben hat, auch einen möglichen Einfluss auf die Sehschärfe.
Nach den plausiblen Darlegungen von Prof. Dr. C. haben die kurzfristigen Schwankungen der Sehschärfe im Jahr 2014 im Übrigen gar nicht stattgefunden.
Mit dem Sachverständigen geht der Senat auch davon aus, dass die Angaben der Klägerin zum Gesichtsfeld grundsätzlich stimmig sind, auch wenn – worauf der Beklagte, zuletzt in der mündlichen Verhandlung, zutreffend hingewiesen hat – ein schwankender Verlauf dokumentiert ist. Gerade bei einer starken Kurzsichtigkeit ist nach der nachvollziehbaren Darlegung des Sachverständigen eine u.U. sogar erhebliche Gesichtsfeldeinengung manchmal ohne eindeutige Erklärung aber durchaus nicht unüblich.
Vor allem ist bei der Untersuchung durch Prof. Dr. C. von der Klägerin ein nun aber wieder größeres Gesichtsfeld angegeben worden. Auch hier ist jedoch entsprechend den Feststellungen des Sachverständigen zu beachten, dass natürlich neben der Sehschärfe auch das Gesichtsfeld bei verschiedenen Untersuchungen nicht vollkommen identisch ist und gewissen Schwankungen unterliegt. Auch ist zu beachten, dass diese Schwankungen untersuchungsbedingt entstehen können; dass daneben – bei der gegebenen subjektiven Untersuchungsmethode – auch die „Tagesform“ der Klägerin eine gewisse Rolle spielen kann, ist selbstverständlich. Ob das Ausmaß der vorliegenden Schwankungen hiermit vereinbar ist, kann der Senat aufgrund eigener Sachkunde nicht definitiv entscheiden. Der Senat sieht aber keinen Anhalt dafür, dass die plausiblen Darlegungen des anerkannten Sachverständigen insoweit unzutreffend sein könnten; er macht sich auch diese sachverständigen Feststellungen zu eigen.
In diesem Zusammenhang ist freilich auch zu beachten, dass die zahlreichen objektiven Untersuchungsergebnisse sowohl des morphologischen als auch des objektiven Funktionsbefunds (d.h. der elektrophysiologischen Ergebnisse) eindeutig eine ganz ausgeprägte Schädigung der Klägerin dokumentieren (zum morphologischen Befund siehe u.a. bereits oben). Entsprechend der ausdrücklichen Feststellung von Prof. Dr. C. haben die objektiven Befunde eine wie angegeben hochgradige Störung der Sehschärfe erklärt, selbst wenn eine eindeutige Veränderung des Befundes nicht dokumentiert ist. Der Sachverständigen hat jedoch plausibel festgestellt, dass in solchen Fällen angesichts der ohnehin schon bestehenden (starken) Schädigung eine eindeutige Dokumentierung einer solchen Veränderung oft nicht mehr möglich ist.
Dabei ist mit Blick auf die morphologische Situation auch zu berücksichtigen, dass, wie der Sachverständige Dr. K. plausibel darauf hingewiesen hat, unterstellt werden muss, dass die Netzhautdegeneration zugenommen hat. Wegen der massiven strukturellen Vorveränderungen der Netzhaut ist eine weitere Degeneration durch Inaugenscheinnahme nur noch schwer heraus zu differenzieren, d.h. zu erkennen, zumal die Augenhintergrundspiegelung wegen des reduzierten Einblicks (s.o.) bei der Klägerin ohnehin sehr schwierig ist. Wie Dr. K. nachvollziehbar festgestellt hat, ist es also nicht verwunderlich, „wenn dann angesichts der Fülle an Vorschäden bei massiv erschwertem Einblick zusätzliche chronisch-degenerative, also langsam zunehmende Schäden nicht erkannt bzw. nicht dokumentiert“ worden sind. Wie der Sachverständige zutreffend festgestellt hat, bedeutet die Tatsache, dass keine zusätzlichen Fundusschäden in der fraglichen Zeit dokumentiert worden sind, entgegen der Argumentation des Beklagten nicht automatisch, dass sich keine entwickelt hätten. Zudem können sich durchaus funktionelle Verschlechterungen einstellen, ohne dass unbedingt eine sichtbare Strukturveränderung erkennbar sein muss. Im Übrigen ist hinsichtlich der Veränderung des morphologischen Befundes auch auf die Feststellung von Dr. K. zu verweisen, dass allein schon anhand der Abblasung der Papillen sehr wohl eine auch morphologisch sichtbare Veränderung im Sinne einer zunehmenden Degeneration (anhand der Akten) nachvollzogen werden kann.
Wie Prof. Dr. C. plausibel dargelegt hat, gelingt die Einschätzung einer (diffusen) Schädigung der Sinneszellen der Netzhaut am ehesten durch das Ganzfeld-Elektroretinogramm. Doch auch diese objektiven Befunde der elektrophysiologischen Untersuchung haben bei der Klägerin von Untersuchungsort zu Untersuchungsort und auch zwischen den unterschiedlichen Geräten geschwankt. Die Befunde sind jedoch durchwegs im unteren Bereich der Nachweisbarkeit gelegen.
Hinsichtlich des OKN geht der Senat in seiner Rechtsprechung (vgl. z.B. das Urteil vom 26.09.2017 – L 15 BL 8/14, m.w.N.) zwar davon aus, dass eine Auslösbarkeit zu erheblichen Zweifeln an einer niedrig angegebenen Sehschärfe (von nur noch Handbewegungen) Anlass gibt. Solche massiven Zweifel können vorliegend jedoch nicht durchgreifen. Wie der Sachverständige Prof. Dr. C. (im Hinblick auf die Ausführungen von Prof. Dr. U.) plausibel angemerkt hat, ist es bei einem gleichzeitig bestehenden Spontannystagmus grundsätzlich schwierig, den OKN von Letzterem zu differenzieren. Daneben aber ist auch wesentlich, dass vor allem bei vorbestehender Schwachsichtigkeit auch bei erheblich reduzierter Sehschärfe ein Nystagmus auslösbar sein kann. Ferner ist der Reiz einer Nystagmustrommel sehr großflächig und bei Annäherung auch mit einem leicht erkennbaren Strichmuster verbunden, so dass die Auslösbarkeit eines Nystagmus mit einer Trommel eine deutlich bessere als die subjektiv angegebene Sehschärfe nicht sicher beweist. Gerade angesichts einer Sehschärfe im Bereich wie vorliegend von 0,04 bis 0,06 gegenüber früheren Werten von 0,1 oder 0,125 ist der Unterschied nur so gering, dass sich ein solcher auch mit dieser objektiven Untersuchungsmethode nicht beweisen oder ausschließen lässt.
Der Sachverständige Prof. Dr. C. hat aus Sicht des Senats plausibel auch festgestellt, dass das Verhalten der Klägerin nicht gegen ihre subjektiven Angaben gesprochen hat. Bei einem Gesichtsfeld, das bis etwa 16 Grad vom Fixierpunkt erhalten ist, ist ein Betroffener, der sich über Jahre an eine solche Einengung gewöhnt hat, durchaus in der Lage, sich zögernd zu orientieren (und einen Stuhl zu finden oder die Hand zu reichen). Im Übrigen hat der Senat bereits längst entschieden (z.B. Urteil vom 16.09.2015 – L 15 BL 2/13), dass bei der Blindheitsbegutachtung im Rahmen von Plausibilitätskontrollen unter anderem auch Verhaltensbeobachtungen berücksichtigt werden können, dass dabei jedoch zu beachten ist, dass eine Verhaltensbeobachtung grundsätzlich nur eine grobe Einschätzung des Sehvermögens erlaubt. Sie ist grundsätzlich nicht geeignet, zwischen einer hochgradigen Sehbehinderung (im untechnischen Sinne) und einer Blindheit im Sinne des Art: 1 Abs. 2 BayBlindG mit der erforderlichen Zuverlässigkeit zu differenzieren.
Etwas anderes ergibt sich im Übrigen auch nicht aus dem vom Beklagten ins Verfahren eingeführten (Partei-)Gutachten, d.h. der Stellungnahme von Prof. Dr. U. vom 17.06.2015. Dieser hat im Wesentlichen die Glaubwürdigkeit der klägerischen Angaben problematisiert und darauf hingewiesen, dass die Klägerin ihrerseits sehr gutachtenserfahren und insoweit gut beraten sei. Zudem hat er im Einzelnen auf die Möglichkeiten der Beeinflussung elektrophysiologischer Untersuchungen (durch mangelnde Fixation des Bildschirms) thematisiert. Eine solche Untersuchung stoße in einem Fall wie dem der Klägerin „grundsätzlich an Grenzen“. Diese Ausführungen des – erfahrenen – Ophthalmologen sind aber nicht geeignet, die insoweit bestehenden positiven Feststellungen der Sachverständigen Dr. K. und Prof. Dr. C. in Frage zu stellen oder zu entkräften.
Schließlich hindert nach Auffassung des Senats auch die Angabe im Befundbericht vom 14.11.2016, dass die Klägerin mit einem Bildschirmlesegerät und einer elektrischen Lupe gut zurechtkomme, nicht an der Annahme von Blindheit. Denn zur Beurteilung, ob die Voraussetzungen des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 BayBlindG vorliegen, gelten die allgemeinen Regeln (VG Teil B, Vorbem. 4), nach denen es auf den Fernvisus ankommt. Wie der Senat im Urteil vom 26.09.2017 (L 15 BL 8/14) entschieden hat, gilt dies (im Fall einer Makuladegeneration) auch dann, wenn ein (fast) vollständiger Verlust der Lesefähigkeit vorliegt und die Sehschärfe in der Ferne deutlich besser ist. Umgekehrt gilt dies ebenfalls, wenn zwar gelesen werden kann, die Sehschärfe in der Ferne aber schlechter ist. Aus der Tatsache, dass unter Zuhilfenahme klassischer Lesehilfen Sehleistungen in der Nähe noch erbracht werden können, lässt sich nicht schlussfolgern, dass vorliegend die Angaben der Klägerin falsch gewesen wären. Im Übrigen kann dahinstehen, wie die Formulierung des Arztes, die Klägerin komme mit den Geräten gut zurecht, tatsächlich zu verstehen ist.
Entsprechend den nachvollziehbaren Darlegungen der Sachverständigen Dr. K. und Prof. Dr. C. sieht der Senat Blindheit der Klägerin jedoch erst ab dem 23.10.2014, also ab dem Zeitpunkt der Untersuchung durch Dr. K., als nachgewiesen an (vgl. Art. 5 Abs. 2 S. 1 BayBlindG). Vor dem genannten Zeitpunkt ist der Blindheitsnachweis nicht erbracht; hier liegen noch gewichtige Zweifel in o.g. Sinn vor. Die Berufung ist daher insoweit zurückzuweisen.
Die Berufung hat somit im tenorierten Umfang Erfolg. Der Beklagte ist unter Aufhebung der entgegenstehenden Verwaltungsentscheidungen zur Gewährung von Blindengeld ab dem genannten Zeitpunkt zu verurteilen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).


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