Sozialrecht

Auswahl gerichtlicher Sachverständiger

Aktenzeichen  L 5 P 44/16

Datum:
21.7.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 50743
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGG § 106
SGB XI aF § 45b
SGB XI § 45b, § 18

 

Leitsatz

Internetbewertungen haben als subjektive Einschätzungen für die Auswahl eines gerichtlichen Sachverständigen keine Relevanz. (Rn. 37)

Verfahrensgang

S 9 P 52/15 2016-06-23 GeB SGWUERZBURG SG Würzburg

Tenor

I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 23. Juni 2016 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die zulässige Berufung (§§ 143, 151 SGG) bleibt ohne Erfolg. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Kostenerstattung für die Vergangenheit sowie auf sowie zusätzliche Betreuungsleistungen ab 1.1.2017. Insoweit sind die gegenständlichen Entscheidungen der Beklagten nicht zu beanstanden.
1. Der Streitgegenstand der Berufung bestimmt sich durch den angefochtenen Gerichtsbescheid des SG und durch den zuletzt vor dem Bayer. LSG gestellten Antrag im Erörterungstermin vom 6.11.2017. Dort hat der anwaltlich vertretene Kläger ausweislich der Niederschrift begehrt, die Beklagte zu verurteilen für die Zeit bis 31.12.2016 die entstandenen Kosten für Grundpflege, hauswirtschaftliche Versorgung und allgemeine Beaufsichtigung zu erstatten, er werde diesen Anspruch noch weiter beziffern und belegen. Dieser Antrag wurde vorgelesen und genehmigt. Damit ist festzustellen, dass der Kläger in der Rechtsmittelinstanz vor dem Hintergrund der zum 1.1.2017 in Kraft getretenen Rechtsänderungen seine zunächst verfolgten weiteren Begehren nicht (mehr) der berufungsgerichtlichen Kontrolle unterstellt hat, so dass eine teilweise Berufungsrücknahme iSd § 156 Abs. 1, Abs. 3 S. 1 SGG vorliegt.
Zwar hat der Kläger mit Schriftsatz vom 21.12.2017 unter Ziff. 4 beantragt, „Der Antrag auf Gewährung von zusätzlichen Betreuungsleistungen als Sachleistungen wird ab 01.01.2017 wird aufrechterhalten“. Diese Erklärung widerspricht jedoch dem vorherigen Antrag, welcher – wie die Niederschrift beweist – eine Nichtweiterverfolgung genau dieser Begehren zum Inhalt hatte. Somit erweist sich der Antrag im Schriftsatz vom 21.12.2017 als Rücknahme der Rücknahme des zweitinstanzlichen prozessualen Begehrens. Dies ist jedoch nicht möglich; Anhaltspunkte für eine Anfechtung der bedingungslos abgegebenen prozessualen Erklärung sind ebenso wenig feststellbar, wie Anhaltspunkte für einen Anfechtungsgrund.
2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten iHv 973,40 €. Der Kläger hat weder einen Anspruch auf die Gewährung zusätzlicher Betreuungsleistungen im Sinne des § 45 b SGB XI in der bis zum 31.12.2014 gültigen Fassung noch einen Anspruch auf die Gewährung zusätzlicher Betreuungs- und Entlastungsleistungen im Sinne des § 45 b SGB XI in der ab dem 01.01.2015 gültigen Fassung.
Zusätzliche Betreuungsleistungen bzw. zusätzliche Betreuungs- und Entlastungsleistungen setzen voraus, dass der Versicherte die Voraussetzungen des § 45 a SGB XI erfüllt. Nach § 45 a Abs. 1 Satz 1 SGB XI erhalten lediglich Pflegebedürftige in häuslicher Pflege, bei denen neben dem Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung (§§ 14 und 15 SGB XI) ein erheblicher Bedarf an allgemeiner Beaufsichtigung und Betreuung gegeben ist, die entsprechenden Leistungen. Dies sind nach § 45 a Abs. 1 Satz 2 SGB XI (1.) Pflegebedürftige der Pflegestufen I, II und III sowie (2.) Personen, die einen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung haben, der nicht das Ausmaß der Pflegestufe I erreicht, mit demenzbedingten Fähigkeitsstörungen, geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen, bei denen der MDK oder die von der Pflegekasse beauftragten Gutachter in der Begutachtung nach § 18 SGB XI als Folge der Krankheit oder Behinderung Auswirkungen auf die Aktivitäten des täglichen Lebens festgestellt haben, die dauerhaft zu einer erheblichen Einschränkung der Alltagskompetenz geführt haben.
a. Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger nach den zutreffenden Ausführungen der erstinstanzlichen Entscheidung. Der Senat schließt sich den dortigen Feststellungen und Wertungen an, macht diese sich nach eigener Prüfung zu Eigen und weist die Berufung aus den Gründen des SG zurück unter Absehung einer weiteren Darstellung, § 153 Abs. 1 SGG.
b. Darüber hinaus hat die Beweisaufnahme des Senats ergeben, dass der Kläger die gesetzlichen Leistungsvoraussetzungen im dargelegten Sinne nicht erfüllt.
In Würdigung der vorgelegten und beigezogenen medizinischen Dokumentation sowie des Sachverständigens der M erfüllt der Kläger weder die Voraussetzungen der Pflegestufen I, II und III noch die weiteren gesetzlichen Anforderungen bei Nichterreichen der Pflegestufe I. Denn nachgewiesenermaßen konnte der Kläger seinen Alltag bewältigen, Gerichtskorrespondenzen führen, seine kognitiven Fähigkeiten waren nicht eingeschränkt und nur seine bewusstseinsnahe Priorisierung anderer Angelegenheiten und die Nichtkooperation mit Pflegehilfen hat dazu geführt, dass sein Wohnfeld sowie seine Haushaltsführung schlecht wurden. Insoweit waren aber Betreuungsleistungen in 14-tägigen Abstand über die psychiatrische Institutsambulanz sowie aufsuchende Pflege bei stationärer Behandlung in Krisensituationen ausreichend und adäquat. Anhaltspunkte für Weglauftendenz, Verkennen oder Verursachen gefährdender Situationen, inadäquater Umgang mit gefährlichen Gegenständen oder potenziell gefährdenden Substanzen, aggressives Verhalten in Situationsverkennung, im situativen Kontext inadäquates Verhalten, Unfähigkeit, die eigenen körperlichen und seelischen Gefühle oder Bedürfnisse wahrzunehmen sowie zu einer erforderlichen Kooperation bei therapeutischen oder schützenden Maßnahmen als Folge einer therapieresistenten Depression oder Angststörung, Störungen der höheren Hirnfunktionen mit Problemen der Bewältigung von sozialen Alltagsleistungen geführt haben, Störung des Tag-/Nacht-Rhythmus, Unfähigkeit zum Tagesablaufsplan und zur -struktur, Verkennen von Alltagssituationen mit inadäquates Reagieren, ausgeprägtes labiles oder unkontrolliert emotionales Verhalten, zeitlich überwiegend Niedergeschlagenheit, Verzagtheit, Hilflosigkeit oder Hoffnungslosigkeit aufgrund therapieresistenter Depression sind – jedenfalls über zeitlich nur kurze Situationen hinaus – nicht feststellbar. Diesen überzeugenden Feststellungen und mit der medizinischen Dokumentation im Übrigen übereinstimmenden Wertung der Sachverständigen der M schließt sich der Senat an. Denn M weist als Facharzt für Neurologie und Psychiatrie mit der Zusatzbezeichnung Psychotherapie Zentralkompetenzen auf für die streitentscheidenden gesundheitlichen Einschränkungen des Klägers auf. Die Sachverständige hat die gesamte medizinisch relevante Dokumentation erfasst sowie gewürdigt und ist zu schlüssigen Diagnosen, Einschätzungen der Behandlungsbedürftigkeit und -notwendigkeit sowie zu einer schlüssigen Einschätzung der Behandlungsbedürftigkeit gelangt. Diese ist in sich widerspruchsfrei.
c. Dem Begehren des Klägers auf Begutachtung durch einen Mann ist mangels sachlicher Gründe nicht zu entsprechen.
Die vom Kläger angeführten Internetbewertungen der M haben mangels nachvollziehbarer Sachgrundlage als subjektive Online-Bekundungen keine Relevanz.
Die Begutachtung war von M nach Aktenlage durchzuführen, weil Kostenerstattung für die Zeit 2012 bis 2016 Gegenstand der Berufung ist, für welche eine aktuelle Begutachtung des Klägers keine zusätzlichen Erkenntnisquelle eröffnen kann sowie zusätzliche Betreuungsleistungen ab 1.1.2017. Für diese ergeben die neueren Befunde des Klägers keine Anhaltspunkte für eine wesentliche Änderung der durch die von der Sachverständigen festgehaltenen Erkrankungen und Behinderungen des Klägers. Dies gilt in gleicher Weise auch für die weiteren vom Kläger vorgelegten umfangreichen medizinischen Dokumente, namentlich für die zuletzt am 30.04.2020 eingegangen ärztlichen Befunde. In Würdigung der dort dokumentierten Diagnosen und Therapien lässt sich eine wesentliche medizinische Änderung des Bedarfes an zusätzlichen Betreuungsleistungen nicht begründen, weil nur kurzfristige Behandlungsbedürftigkeit sowie eine adäquate Diagnostik und Therapie feststellbar ist. Insoweit ist weiter festzuhalten, dass Anhaltspunkte, welche Anlass für die Einholung einer weiteren sachverständigen Stellungnahme geben, nicht erkennbar sind. Dies gilt auch für die Rügen des Klägers, die Sachverständige hätte Behandlungen, namentlich aus 2008/2009 unbeachtet gelassen. Denn diese steht nicht in zeitlichem Zusammenhang mit den streitgegenständlichen Leistungen und kann keinen zusätzlichen Bedarf begründen. Soweit der Kläger Dokumente für die Zeit ab 2017 vorlegt, namentlich, wenn er auf den Bedarf für künstliche Beatmung geltend macht, unterlässt es der Kläger, die hier strittigen Leistungen von den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung abzugrenzen. Insbesondere hatte er Leistungsansprüche nach dem SGB V nicht im vorliegenden Verfahren, sondern im Berufungsverfahren L 20 KR 125/19 vor dem Bayer. LSG geltend gemacht hat, welche also anderweitig rechtshängig sind.
3. Rein vorsorglich ist für den Fall, dass die Rücknahme der teilweisen Rücknahme der Berufung zulässig wäre, also im vorliegenden Verfahren auch über zusätzliche Betreuungsleistungen sowie weitere Leistungen nach dem SGB XI ab 1.1.2017 zu befinden wäre, auszuführen, dass auch dann der Berufung auch der Erfolg versagt bliebe. Denn nach dem – wie dargelegt – überzeugenden Gutachten der M lassen sich insoweit ab 1.1.2017 keine Anhaltspunkte finden für entscheidungsrelevante Änderungen. Soweit der Kläger auf eine momentane Unfähigkeit, Kompressionsstrümpfe anzuziehen hingewiesen hatte im Schriftsatz vom 22.12.2017, fehlt es an Anhaltspunkten für eine dauerhafte Unfähigkeit. Zudem könnte diese Unfähigkeit keine weiteren Betreuungsleistungen wie begeht begründen, sondern allenfalls weiteren Pflegebedarf nach dem Modul 5 „Krankheits- und therapiebedingte Anforderungen und Belastungen“. Davon aber sind die strittigen weiteren Betreuungsleistungen zu trennen. Darüber hinaus hat Frau M auch keine Anhaltspunkte für eine pflegeleistungsbegründende Änderung der Verhältnisse zum 1.1.2017 feststellen können. Auch dem schließt sich der Senat an.
Damit hat der Kläger keinen Anspruch auf die mit seinem Berufungsbegehren verfolgten Leistungen. Die Berufung bleibt deshalb vollumfänglich ohne Erfolg.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe zur Zulassung er Revision sind nicht ersichtlich, § 160 Abs. 2 SGG.


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