Sozialrecht

Einriss am Pulley System und Knochenödem als Unfallfolgen

Aktenzeichen  L 2 U 484/15

Datum:
28.9.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 74108
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 13 Abs. 3
SGB VII § 8 Abs. 1 S. 1, § 102

 

Leitsatz

1. Die Schädigung am medialen Pulley System ist grundsätzlich sowohl durch einen Unfall als auch auf degenerativer Basis möglich. (amtlicher Leitsatz)
2. Für die Bejahung des Unfallzusammenhangs ist neben der Lokalisation einer Läsion und dem Unfallhergang auch der Zeitpunkt der erstmaligen Diagnose maßgeblich. (amtlicher Leitsatz)
3. Ohne Nachweis eines kompressiven Knochenödems direkt unter der Knorpelfläche (hier am Oberarmkopf) ist nach heutiger wissenschaftlicher Mehrheitsmeinung ein unfallbedingter Knorpelschaden nicht bildgebend im Sinne des Vollbeweises nachgewiesen. (amtlicher Leitsatz)
4 Das SGB VII kennt keine eigene Anspruchsgrundlage für einen Erstattungsanspruch, anwendbar ist jedoch § 13 Abs. 3 SGB V analog. (redaktioneller Leitsatz)
5 Allein dass nach Angaben des Klägers dieser vor dem Unfall keine Probleme mit der betreffenden Schulter hatte, ist nicht beweisend für einen Ursachenzusammenhang. Dies belegt nicht, welche Entwicklung zwischen dem Unfallereignis und dem intraoperativen Eingriff stattgefunden hat. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 9 U 5/15 2015-11-27 GeB SGLANDSHUT SG Landshut

Tenor

I.
Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Landshut vom 27. November 2015 wird zurückgewiesen.
II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III.
Die Revision wir nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung des Klägers ist zulässig (§§ 143, 151 SGG), aber unbegründet.
Die Hauptanträge des Klägers sind zulässigerweise zum einen auf die Feststellung weiterer Unfallfolgen nach § 102 des Siebten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VII) gerichtet, zum anderen auf Erstattung der bislang vom Kläger verauslagten Behandlungskosten in Höhe von 116,05 Euro sowie die Übernahme der zukünftigen Behandlungskosten. Dabei bezieht sich der Erstattungsbetrag auf die Zeit nach dem 28. Oktober 2013, nachdem die Beklagte ab 29. Oktober 2013 die berufsgenossenschaftliche Heilbehandlung abgebrochen hatte.
Mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 4. August 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Dezember 2014 wurde das Ereignis vom 24. September 2013 als Arbeitsunfall nach § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII anerkannt. Als Unfallfolge wurde jedoch lediglich eine Prellung der Schulter anerkannt. Dass dort die rechte statt der linken Schulter genannt wird, stellt lediglich einen Schreibfehler dar und wäre ggf. von der Beklagten zu berichtigen. Die unfallbedingte Behandlungsbedürftigkeit wurde nur bis 29. Oktober 2013 anerkannt und die Behandlungskosten dementsprechend nur bis zu diesem Datum übernommen.
Das SGB VII kennt keine eigene Anspruchsgrundlage für einen Erstattungsanspruch; nach gängiger Rechtsprechung ist jedoch § 13 Abs. 3 des Fünften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB V) analog anzuwenden. Ein Erstattungsanspruch wäre vorliegend gegeben, wenn die Beklagte eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dem Kläger dadurch für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind. Die Beklagte hat aber zu Recht das Ende der unfallbedingten Behandlungsbedürftigkeit auf den 29. Oktober 2013 festgesetzt. Ein weitergehender Anspruch des Klägers auf Feststellung einer Verletzung des medialen Pulley-Systems der langen Bizepssehne und eines posttraumatischen Knorpelschadens, verbunden mit einer schmerzhaften Bewegungseinschränkung der linken Schulter, sowie hieraus resultierend auf Erstattung der verauslagten Behandlungskosten und Übernahme der zukünftigen Behandlungskosten ist nicht gegeben. Zutreffend hat das Sozialgericht, gestützt auf das Gutachten des Dr. C., diese Ansprüche abgelehnt. Das Gericht hat sich hierbei auch eingehend mit der abweichenden Meinung des Sachverständigen U. auseinander gesetzt. Gemäß § 153 Abs. 2 SGG sieht der Senat deshalb von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab; auf die Gründe des Sozialgerichts wird verwiesen.
Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass Dr. C. in seiner im Berufungsverfahren abgegebenen ergänzenden Stellungnahme das Ergebnis seines erstinstanzlichen Gutachtens bestätigt hat. Darin hat sich der Sachverständige eingehend mit dem Gutachten des Hr. U. auseinandergesetzt, auf das sich der Kläger im Berufungsverfahren gestützt hat. Er hat darauf hingewiesen, dass in dem MRT vom 29. Oktober 2013 nur ein ganz zartes Knochenödem zu erkennen ist. Dieses hat im Vergleich zum MRT vom 24. April 2014 eher zugenommen. Bei einem unfallbedingt entstandenen reaktiven Knochenödem wäre aber zu erwarten gewesen, dass das Knochenödem in diesem Zeitraum eher abnimmt. Darüber hinaus resorbiert sich ein unfallbedingtes Knochenödem innerhalb von vier bis sechs Monaten komplett. Beim MRT nach sieben Monaten war das Ödem jedoch (erstmalig) zu erkennen. Der Fachradiologe hatte deshalb nach Ansicht des Gutachters zu Recht das Knochenödem als „reaktives Knochenödem“ (Bl. 75 der Unfallakte), also als ein degenerativ bedingtes Knochenödem, bezeichnet.
Ferner weist Dr. C. darauf hin, dass bei einem unfallbedingten Knorpelschaden, wie ihn Hr. U. angenommen hat, ein ganz massives Knochenödem am Oberarmkopf zu erwarten gewesen wäre. Dieses Ödem hätte auch im gelenknahen Bereich des Oberarmkopfes vorliegen müssen. Vorliegend war das Knochenödem aber im Ansatzbereich der Sehnen der Rotatorenmanschette und somit 3-4 cm von der mutmaßlichen Schädigungsstelle entfernt. Ohne Nachweis eines kompressiven Knochenödems direkt unter der Knorpelfläche ist nach Darstellung des Sachverständigen nach heutiger wissenschaftlicher Mehrheitsmeinung ein unfallbedingter Knorpelschaden nicht bildgebend im Sinne des Vollbeweises nachgewiesen. Eine unfallbedingte Knorpelverletzung ist ohne Schädigung des darunterliegenden Knochens nicht vorstellbar. Der Gutachter kommt damit schlüssig und überzeugend zu dem Ergebnis, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kein unfallbedingter Knorpelschaden stattgefunden hat.
Auch ein Einriss am medialen Pulley-System ist nach der Darlegung des Dr. C. nicht als unfallbedingte Folge anzuerkennen. Die Schädigung dieser bindegewebigen Einfassung der langen Bizepssehne ist grundsätzlich sowohl durch einen Unfall als auch auf degenerativer Basis möglich. Von der Lokalisation wäre eine unfallbedingte Läsion naheliegend, wie dies auch der intraoperative Bericht nahelegt. Vorliegend ist allerdings in der zeitnah zum Unfall angefertigten MRT der linken Schulter eine Schädigung des Pulley-Systems nicht erkennbar, wie Dr. C. ausführte. Eine Schädigung ist damit zwar denkbar bzw. möglich, zumal keine Aufnahme mit Kontrastmittel erfolgt ist, jedoch nicht nachgewiesen bzw. im Vollbeweis als Erstschaden bewiesen. Der Einriss am Pulley-System wurde erst im Rahmen der Operation nach acht Monaten festgestellt. Im MRT vom 29. Oktober 2013 standen Humeruskopf, die Rotatorenmanschette sowie die Bizepssehne im Fokus der Beurteilung. Die lange Bizepssehne, die von dem Pulley-System umgeben und gehalten wird, wurde hierbei als unauffällig beschrieben. Deshalb spricht mehr dafür als dagegen, dass eine Schädigung des Pulley-Systems zeitlich nach dem Arbeitsunfall aufgetreten ist, entweder durch einen degenerativen Prozess oder durch ein späteres Ereignis. Für einen degenerativen Prozess sprechen die auch in dem MRT vom 29. Oktober 2013 beschriebenen Signalerhöhungen im Humeruskopf und im Bereich der Sehne des M. supra- und infraspinatus und die Differentialdiagnose einer Ansatztendopathie oder Zustand nach Kontusion, der MRT-Bericht vom 2. Mai 2014 spricht von einer Ansatztendopathie des M. subscapularis und geringer des M. supraspinatus; auch hier wurde eine Signalerhöhung im Humeruskopf beschrieben.
Auch der Sachverständige U. räumte in seinem Gutachten ein, dass bezüglich des Einrisses am medialen Pulley-System der langen Bizepssehne sieben bis acht Monate nach einem Unfallgeschehen nicht mehr mit Sicherheit unterschieden werden kann, ob es sich um eine unfallbedingte Verletzung oder um eine vorbestehende degenerative Läsion handelt. Letztlich stützt der Gutachter seine Argumentation auf verschiedene Indizien und den zeitlichen Zusammenhang mit den Schmerzen seit dem Arbeitsunfall. Zutreffend weist aber das Sozialgericht darauf hin, dass der Einriss am Pulley-System ebenso wie der Knorpelschaden auch nach dem Gutachten des Hr. U. nicht im Vollbeweis bewiesen ist. Dieser gelangt zu dem Ergebnis, dass „mit überwiegender Wahrscheinlichkeit unfallbedingte Verletzungsfolgen“ vorliegen; damit stellt er in seiner Argumentation nur auf das Vorliegen der hinreichenden Wahrscheinlichkeit für einen Kausalzusammenhang ab und nicht auf einen im Vollbeweis nachzuweisenden Erstschaden. Der Eintritt des Schadens bereits durch den Unfall ist nicht belegt.
Entsprechendes gilt für die erst während der Operation festgestellten zwei freien Gelenkkörper im Schultergelenk. Diese waren in dem MRT vom 29. Oktober 2013 nicht entdeckt worden. Auch Hr. U. gesteht ein, dass eine unfallbedingte Absprengung von freien Gelenkkörpern mit großer Wahrscheinlichkeit bei dieser kernspintomographischen Untersuchung hätte nachgewiesen werden müssen. Nicht nachvollziehbar ist, wie Hr. U. zu dem Schluss kommen kann, dass es sich bei Feststellung im Rahmen der Operation um freie Gelenkkörper handeln muss, die eindeutig auf den Unfall zurückgeführt werden können.
Allein dass nach Angaben des Klägers dieser vor dem Unfall keine Probleme mit der betreffenden Schulter hatte, wofür auch die Auskunft der Krankenkasse über die Zeiten der Arbeitsunfähigkeit spricht, ist nicht beweisend für einen Ursachenzusammenhang. Dies belegt nicht, welche Entwicklung zwischen dem Unfallereignis und dem intraoperativen Eingriff stattgefunden hat.
Auch war dem klägerischen Hilfsantrag auf Einholung einer ergänzenden Stellungnahme nach § 109 SGG durch Hr. U. nicht stattzugeben. Die Einholung der Stellungnahme war nicht erforderlich. Dies käme nur in Betracht, wenn sich durch die ergänzende Stellungnahme des Dr. C. entscheidende Gesichtspunkte ergeben hätte, zu denen sich der Gutachter nach § 109 SGG noch nicht hatte äußern können (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl., § 109 Rn. 10 b). Dr. C. hat in seiner vom Senat eingeholten Stellungnahme lediglich seine Ausführungen in dem Gutachten vertieft und bekräftigt. Wesentlich neue Gesichtspunkte sind hierbei nicht zu Tage getreten. Er hat sich vielmehr mit dem Gutachten des Hr. U. und der Berufungsbegründung auseinander gesetzt. Fundierte Einwendungen des Klägers gegenüber dieser Stellungnahme sind nicht erfolgt. Es wurde vom Prozessbevollmächtigten des Klägers lediglich vorgebracht, dass weiterhin dem Gutachten des Hr. U. gefolgt werde und mit der Beurteilung von Dr. C. weiterhin kein Einverständnis bestehe. Es gibt insbesondere keinen Automatismus, dass das Gericht nach einer ergänzenden Stellungnahme nach § 106 SGG auch eine nach § 109 SGG einholen muss. Der 109-Gutachter muss nicht das „letzte Wort“ haben (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a. a. O.; Behn, SozV 1990, S. 29 ff, 34).
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Landshut war daher zurückzuweisen.
Die Kostenfolge stützt sich auf § 193 SGG.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Gründe nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG nicht vorliegen.


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