Sozialrecht

Erwerbsminderung, Relevanz psychischer Erkrankungen

Aktenzeichen  S 11 R 1053/19

Datum:
29.5.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 49361
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VI § 43

 

Leitsatz

Zur Relevanz psychischer Erkrankungen im Verfahren auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung; fehlende adäquate Behandlung (im Anschluss an BayLSG vom 08.05.2019 – L 19 R 376/17).

Tenor

I. Die Klage gegen den Bescheid vom 30.01.2019 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23.07.2019 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

Das Sozialgericht München ist sachlich und örtlich zuständig. Die form- (§ 90 SGG) und fristgerecht (§ 87 SGG) erhobene Klage ist zulässig.
Der vorliegende Rechtsstreit kann durch Gerichtsbescheid entschieden werden, da die Sache keine Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt hinreichend geklärt ist (§ 105 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG).
Die Klage ist jedoch nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung.
Gemäß § 43 Abs. 1 SGB VI sind teilweise erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Gemäß § 43 Abs. 2 SGB VI sind voll erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger noch leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes sechs Stunden und mehr verrichten kann. Der Gutachter K2, der den Kläger am 19.11.2019 orthopädisch untersucht hat, stellt einen HWS-/LWS-/BWS-Verschleiß, eine Funktionseinschränkung der rechten Schulter, einen Eckgelenksverschleiß beidseits, einen Hüftgelenksverschleiß beidseits sowie einen Hohl-Spreizfuß beidseits fest. Dies wird auch im Befundbericht des behandelnden Orthopäden K1 beschrieben. Aufgrund des Verschleißes der Wirbelsäule ist die Belastbarkeit des Achsorgans deutlich eingeschränkt. Aufgrund der Humeruskopfprothese ist die Gebrauchsfähigkeit des rechten Armes deutlich eingeschränkt, eine Restbelastbarkeit ist erhalten. Wegen des beidseitigen Hüftgelenkverschleißes ist die Geh- und Stehfähigkeit des Klägers eingeschränkt. Aufgrund der gesundheitlichen Einschränkungen kann der Kläger nur noch leichte Tätigkeiten durchführen. Eine ausschließlich gehende oder stehende Beschäftigung ist nicht mehr möglich. Arbeiten aus überwiegend sitzender Ausgangslage sind bei ergonomischer Arbeitsplatzgestaltung zumutbar. Wegen der Gesundheitsstörung an der Hüfte ist das Besteigen von Leitern und Gerüsten nicht mehr möglich, ebenso – wegen der Gesundheitsstörungen an der HWS sowie der Schultergelenke – Überkopfarbeiten. Die Wegefähigkeit ist nicht eingeschränkt. Bereits im vorherigen Klageverfahren S 14 R 409/16 war orthopädischerseits festgestellt worden, dass lediglich leichte Arbeiten ohne Überkopfarbeiten, ohne Arbeiten in Zwangshaltung und ohne Arbeiten auf Leitern und Gerüsten möglich sind. Eine Befundänderung wird auch vom behandelnden Orthopäden K1 in seinem Befundbericht vom Juli 2019 nicht beschrieben.
Auch unter Berücksichtigung der neurologisch/psychiatrischen Gesundheitseinschränkungen ist der Kläger noch in der Lage, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes durchzuführen. Der Sachverständige B, der den Kläger am 29.01.2020 untersucht hat, stellt einen dysthyme Störung wechselnder Ausprägung, eine Polyneuropathie bei bekanntem Diabetes Mellitus, ein chronifiziertes Schmerzsyndrom mit körperlichen und psychischen Faktoren bei Zustand nach Humeruskopffraktur und Humeruskopfersatz-Operation 11/2012 rechts sowie eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung fest. Weitere Gesundheitsstörungen werden auch vom behandelnden Psychiater M nicht beschrieben. Aufgrund der Gesundheitsstörungen sind dem Kläger unter Einbeziehung der orthopädischen Gesundheitsstörungen leichte Tätigkeiten in sitzender Position sechsstündig und mehr mit den im orthopädischen Fachgutachten genannten Einschränkungen möglich. Nach Angaben des Klägers stellt er sich in etwa zweimonatigen Abständen bei seinem Psychiater M vor. Eine medikamentöse Behandlung der depressiven Symptomatik oder der Schlafstörungen wurde nicht verordnet. Die gesundheitlichen Einschränkungen auf psychiatrischem Fachgebiet sind einer Besserung zugänglich.
Nach der gefestigten Rechtsprechung des BayLSG können psychische Erkrankungen erst dann rentenrechtlich relevant werden, wenn trotz adäquater Behandlung (medikamentös, therapeutisch, ambulant oder stationär) davon auszugehen ist, dass der Versicherte die psychischen Erkrankungen weder aus eigener Kraft noch mit ärztlicher oder therapeutischer Hilfe dauerhaft überwinden kann (BayLSG vom 08.05.2019 – L 19 R 376/17, vom 27.07.2016 – L 19 R 395/14, vom 24.02.2016 – L 19 R 1220/13; vom 23.01.2013 – L 19 R 855/11).
Wie der Sachverständige B ausführt, befand sich der Kläger noch nie in psychotherapeutischer oder einer stationären psychiatrischen oder psychosomatischen Behandlung. Die Leistungsmotivation des Klägers ist gering. Die Therapie bzgl. der Affektstörung des Klägers ist deutlich optimierbar. Es besteht also durchaus die Möglichkeit, den Gesundheitszustand gerade auf psychiatrischem Fachgebiet, zu verbessern.
Unter Berücksichtigung der auf orthopädischem und psychiatrischem Fachgebiet bestehenden Gesundheitsstörungen sowie unter Einbeziehung der vorgelegten Arztbriefe kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass der Kläger leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes noch sechsstündig verrichten kann. Dabei sind Überkopftätigkeiten sowie Tätigkeiten in Zwangshaltungen und Tätigkeiten, die mit Besteigen von Leitern und Gerüsten verbunden sind, nicht möglich. Die Wegefähigkeit ist erhalten. Der Kläger kann übliche Wegstrecken zurücklegen.
Das Gericht schließt sich den in jeder Hinsicht nachvollziehbaren Darlegungen der Sachverständigen K2 und B an. Das Gericht hat keine Bedenken, die dort getroffenen Feststellungen und Einschätzungen seiner Einschätzung zugrunde zu legen.
Da der Kläger noch leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes mit den oben genannten Einschränkungen sechsstündig und mehr verrichten kann, besteht kein Anspruch auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung.
Da der Kläger nach dem 01.01.1961 geboren ist und zudem keinen Beruf erlernt hat, war die Gewährung von Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nicht zu prüfen.
Die Klage war daher abzuweisen.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 193 SGG.


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