Sozialrecht

Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit auf Dauer

Aktenzeichen  S 3 R 1032/17

Datum:
12.7.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 57087
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB X § 44, § 102 Abs. 2 S. 4
SGG § 86, § 87, § 90, § 92, § 183, § 193
SGB VI § 43, § 50 Abs. 1 S. 1, § 51 Abs. 1

 

Leitsatz

Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein.  (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid vom 15.05.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 09.10.2017 wird insoweit aufgehoben, als dem Kläger für die Zeit vom 01.10.2008 bis 31.12.2012 kein Anspruch auf Ratennachzahlung zusteht. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Beklagte hat dem Kläger 1/3 der notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

Die gemäß den §§ 87, 90, 92 SGG form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig und auch teilweise begründet.
Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 15.05.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.10.2017 ist teilweise rechtswidrig. Der Kläger hat einen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung auf Dauer, da er bei einem Leistungsvermögen von unter drei Stunden täglich voll erwerbsgemindert ist im Sinne des § 43 Sozialgesetzbuch -Sechstes Buch- (SGB VI). Es besteht allerdings kein Anspruch auf Nachzahlung der Erwerbsminderungsrente für die Zeit vom 01.10.2008 bis 31.12.2012.
Nach § 43 SGB VI haben Versicherte bis zur Vollendung der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung, wenn sie
1. teilweise bzw. voll erwerbsgemindert sind,
2.in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und
3.vor dem Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Diese Voraussetzungen sind beim Kläger allesamt erfüllt.
Er erfüllt die allgemeine Wartezeit der §§ 50 Abs. 1 Satz 1, 51 Abs. 1 SGB VI sowie die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen zum Leistungsfall am 22.12.2004.
Es liegt auch eine Erwerbsminderung vor. Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein und voll erwerbsgemindert sind Versicherte, bei denen diese Leistungsfähigkeit unter drei Stunden liegt. Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.
Bei der Prüfung, ob eine Erwerbsminderung nach § 43 SGB VI vorliegt, kommt es nicht auf den bisherigen Beruf an, sondern darauf, ob mit dem verbliebenen Restleistungsvermögen noch Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich verrichtet werden können.
Nach Überzeugung des Gerichts liegt beim Kläger seit der Rentenantragstellung und auch gegenwärtig eine -auf den allgemeinen Arbeitsmarkt bezogenevolle Erwerbsminderung vor. Nach den schlüssigen Darlegungen der Gutachter Dr. O. und Dr. H. wird der Kläger derart in seiner Leistungsfähigkeit beeinträchtigt, dass eine voll geminderte Erwerbsfähigkeit gemäß § 43 SGB VI gegeben ist.
Beim Kläger liegen seit mindestens Dezember 2004 folgende Diagnosen vor:
1. paranoide Persönlichkeitsstörung mit anhaltender wahnhafter und schizotyper Störung
2. degeneratives Wirbelsäulensyndrom ohne radikuläre Symptomatik
Mit diesen Gesundheitsstörungen kann der Kläger nur noch unter drei Stunden täglich arbeiten, zugleich unter den folgenden Einschränkungen: Es können nur noch leichte und mittelschwere Arbeiten im Sitzen, im Stehen sowie in wechselnder Körperhaltung im Freien oder in geschlossenen Räumen gefordert werden. Arbeiten mit besonderer nervlicher Belastung wie Akkord oder Arbeiten an laufenden Maschinen können nicht mehr erbracht werden. Auszuschließen sind auch Tätigkeiten unter Zeitdruck sowie mit besonderer Belastung des Bewegungssystems. Daneben sind Tätigkeiten an unfallgefährdeten Arbeitsplätzen zu vermeiden. Aufgrund der wahnhaften Symptomatik und der damit im Zusammenhang stehenden Rigidität und erheblichen Beeinträchtigung der Flexibilität ist das erforderliche Anpassungs- und Umstellungsvermögen aufgehoben.
Mit dieser Beurteilung stützt sich die Kammer auf die überzeugenden und ausführlichen Gutachten der beiden Sachverständigen Dr. O. und Dr. H., die die zahlreich vorhandenen Vorbefunde kritisch gewürdigt, den Kläger sorgfältig klinisch untersucht sowie eine ausführliche Anamnese durchgeführt haben. Sie verfügen aufgrund ihrer langjährigen Tätigkeit als Sachverständige im Bereich der Bayerischen Sozialgerichtsbarkeit sowohl über die erforderlichen Kenntnisse als auch über die praktische Erfahrung, um sämtliche hier in Betracht kommenden gesundheitlichen Störungen medizinisch zutreffend einzuordnen und ihre Auswirkungen auf die Einsatzfähigkeit des Klägers im allgemeinen Erwerbsleben und in Bezug auf seine berufliche Tätigkeit sachgerecht zu beurteilen. Das Gericht sieht keinen Anlass, an der Vollständigkeit der erhobenen Befunde und der Richtigkeit der daraus gefolgerten Leistungsbeurteilung zu zweifeln.
Der Kläger leidet in erster Linie an einer paranoiden Persönlichkeitsstörung mit Wahngedanken und schizotypen Anteilen. Es handelt sich bei den Gesundheitsstörungen auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet um echte psychische Krankheitsbilder, die der Kläger weder unter eigener zumutbarer Willensanstrengung noch unter ärztlicher Hilfe in absehbarer Zeit überwinden kann. Eine Besserung der chronischen Störung ist durch adäquate Therapiemaßnahmen nicht mehr zu erwarten. Im Ergebnis bestehen aus psychiatrischer Sicht Hinderungsgründe, dass die körperlich vorhandene Restleistungsfähigkeit noch in eine Erwerbsfähigkeit an einem zumutbaren Arbeitsplatz umgesetzt werden kann. Der psychische Zustand ist von einem solchen Schweregrad, dass von einer Einbuße der psychischen Leistungsfähigkeit gesprochen werden muss. Es liegen psychiatrisch belangvolle Befunde vor, die eine Erwerbstätigkeit ausschließen. Weitere bedeutsame Gesundheitsschädigungen liegen darüber hinaus nicht vor.
Mit dem vorstehend beschriebenen Leistungsvermögen ist der Kläger erwerbsgemindert i.S. des § 43 SGB VI und hat einen Anspruch auf die entsprechende Versichertenrente. Die Rente ist wie beantragt wegen voller Erwerbsminderung ab dem 01.01.2005 dauerhaft zu gewähren. Dr. H. hat überzeugend dargelegt, dass keine begründete Aussicht besteht, der Gesundheitszustand des Klägers könnte sich in den für die Erwerbsfähigkeit wesentlichen Punkten in absehbarer Zeit verbessern. Es muss dem Kläger daher eine Dauerrente zuerkannt werden (§ 102 Abs. 2 Satz 4 SGB VI). Insoweit war die Klage abzuweisen.
Mit dem Bescheid vom 15.05.2017 wurde über den noch offenen Widerspruch vom 23.01.2007 über die Zeitrentengewährung vom 01.07.2005 bis 31.01.2008 mit Bescheid vom 28.12.2006 entschieden. Nach der Rechtsprechung des BSG sind damit die Bescheide vom 11.11.2015 und 27.11.2015 nach § 86 SGG analog Bestandteil des Widerspruchsverfahrens geworden, da sie die Folgezeiträume der Rentengewährung betreffen (BSG 8. Senat, Urteil vom 09.12.2016, Az.: B 8 SO 14/15 R). Da diese Bescheide auch keinen rechtlich erheblichen Vorteil mit der Rentenablehnung für den Kläger bedingen, konnten sie auch nach § 44 SGB X wieder aufgehoben werden. Es handelt sich um rechtlich nicht begünstigende rechtswidrige Verwaltungsakte. Die Rechtswidrigkeit ergibt sich daraus, dass nach der medizinischen Einschätzung eine Erwerbsminderungsrente hätte geleistet werden müssen. Die bestandkräftigen Bescheide waren daher nach der Regelung des § 44 Abs. 1 SGB X für Sozialleistungen rückwirkend aufzuheben. Die Beklagte hat aber nicht beachtet, dass bei der Aufhebung bestandskräftiger Bescheide nach § 44 Abs. 4 SGB X Leistungen nur für einen Zeitraum von vier Jahren rückwirkend geleistet werden dürfen. Dies gilt auch für die Nachzahlung hier. Dieses Recht ist auch seitens der Behörde ausgeschlossen (statt vieler BSG, Urteil vom 23.02.2017, Az.: B 4 AS 57/15 R). Der Kläger hat keinen Antrag nach § 44 SGB X gestellt, weshalb die Frist erst ab Bescheidaufhebung am 15.05.2017 zu laufen beginnt. Es können nur Leistungen bis einschließlich für das Kalenderjahr 2013 rückwirkend erbracht werden. Darüber hinaus kann keine Nachzahlung erfolgen. Der Zeitraum vor dem 01.10.2008 war durch die bestandskräftigen Bescheide vom 11.11.2015 und 27.11.2015 nicht erfasst und kann daher wegen des offenen Widerspruchs nachgezahlt werden. Daher war der Bescheid vom 15.05.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.10.2017 insoweit aufzuheben, als eine Nachzahlung für den Zeitraum vom 01.10.2008 bis 31.12.2012 nicht zu leisten ist. Insoweit war die Klage erfolgreich.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.


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