Sozialrecht

Grundsicherung für Arbeitsuchende: Duldgung des Anfertigens von Kopien als Teil der Nachweis- und Auskunftspflicht von Grundsicherungsempfängern

Aktenzeichen  L 11 AS 419/19

Datum:
5.8.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 30934
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB I §§ 60 ff.
SGB II § 9, § 11, § 41a Abs. 3
SGB X § 67a, § 67c

 

Leitsatz

1. Für eine Erfüllung der Nachweis- bzw. Auskunftspflicht i.S.v. § 41a Abs. 3 SGB II genügt es nicht, wenn der Leistungsberechtigte lediglich anbietet, leistungserhebliche Unterlagen (z.B. Kontoauszüge) vorzuzeigen, mit der Anfertigung von Kopien aber nicht einverstanden ist. (Rn. 15 – 16)
2. Eine Hinzunahme solcher leistungserheblicher Unterlagen zu den Akten stellt einen verhältnismäßigen Eingriff in die Rechte des Leistungsberechtigten dar. (Rn. 16)

Verfahrensgang

S 6 AS 811/18 2019-05-21 SGNUERNBERG SG Nürnberg

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 21.05.2019 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz -SGG-), aber nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid vom 09.01.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.07.2018 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
Streitgegenstand ist der Bescheid vom 09.01.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.07.2018, mit dem der Beklagte im Rahmen der abschließenden Entscheidung den Antrag des Klägers auf Alg II für die Zeit von August 2016 bis Januar 2017 abgelehnt hat. Der Kläger begehrt vorliegend nicht nur die isolierte Aufhebung dieses Bescheides, sondern er begehrt auch die Bewilligung von Leistungen für den Bewilligungszeitraum in gesetzlicher Höhe. Es ist nicht erkennbar, dass er sich dabei auf die Höhe der bereits vorläufig erbrachten Leistungen beschränkt, so dass zutreffende Klageart hierfür die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 SGG i.V.m. § 54 Abs. 4 SGG) ist (vgl. dazu auch BSG, Urteil vom 12.09.2018 – B 4 AS 39/17 R – juris).
Der Beklagte hat im Rahmen der abschließenden Entscheidung zu Recht die Bewilligung von Alg II für die Zeit von August 2016 bis Januar 2017 abgelehnt.
Aufgrund des im Bewilligungszeitpunkt noch nicht absehbaren tatsächlichen Einkommens des Klägers aus seiner selbständigen Tätigkeit war der Beklagte berechtigt, zunächst nach § 41a Abs. 1 SGB II vorläufig über die Erbringung von Geldleistungen zu entscheiden. Da der Bewilligungszeitraum erst mit dem 01.08.2016 begonnen hat, war der mit Wirkung zum 01.08.2016 durch das Neunte Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Rechtsvereinfachung – sowie zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht vom 26.07.2016 (BGBl. I 1824) eingefügte § 41a SGB II anwendbar. Demzufolge bestand für die abschließende Entscheidung eine Verpflichtung des Klägers, die geforderten leistungserheblichen Tatsachen nachzuweisen, wobei die §§ 60, 61, 65 und 65a SGB I entsprechend gelten (§ 41a Abs. 3 Satz 2 SGB II). Der Kläger ist dabei seiner Nachweis- bzw. Auskunftspflicht nicht vollständig nachgekommen, so dass festzustellen war, dass kein Leistungsanspruch für die Zeit von August 2016 bis Januar 2017 besteht (§ 41a Abs. 3 Satz 3 und 4 SGB II).
Der Beklagte hat mit Schreiben vom 09.01.2017 zu Recht die Nachweise über die Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben, betriebswirtschaftliche Auswertungen und die Kontoauszüge für die Monate des Bewilligungsabschnittes gefordert, um eine abschließende Prüfung des Anspruchs auf Alg II im Hinblick auf das Vorliegen von Hilfebedürftigkeit beim Kläger im streitgegenständlichen Bewilligungsabschnitt vornehmen zu können. Dabei wurde der Kläger über die Rechtsfolgen eines fehlenden Nachweises belehrt und ihm wurden angemessene Fristen gesetzt (§ 41a Abs. 3 Satz 3 SGB II). Zwar hat sich der Kläger nicht geweigert, die Unterlagen vorzulegen, allerdings war er nicht bereit, die Fertigung von Kopien zu dulden, damit diese zu den Akten genommen werden können. Zutreffend hat das SG dabei darauf verwiesen, dass auch dies zur Erfüllung der Nachweis- bzw. Auskunftspflicht i.S.v. § 41a Abs. 3 SGB II erforderlich ist. Der Beklagte ist im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht nach § 20 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) verpflichtet, die Einkommens- und Vermögenssituation des möglichen Leistungsberechtigten zu erforschen. Insbesondere die Einkünfte des Klägers aus seiner selbständigen Tätigkeit sind nach § 11 SGB II als Einkommen anzurechnen und können ganz oder teilweise einer Hilfebedürftigkeit i.S.v. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, § 9 Abs. 1 SGB II entgegenstehen. Im Hinblick auf eine abschließende Entscheidung über den Leistungsanspruch verweist § 41a Abs. 3 Satz 2 SGB II auf die Mitwirkungspflichten nach §§ 60, 61, 65 und 65a SGB I. Zwar könnte der Wortlaut des § 60 Abs. 1 und 3 SGB I zunächst den Anschein erwecken, es zähle nur die Vorlage von Unterlagen zu den Mitwirkungspflichten, allerdings berechtigt § 67a Abs. 1 Satz 1 SGB X den Beklagten zum Erheben von Sozialdaten im Sinne des § 35 SGB I, wenn die Kenntnis zur Erfüllung der Aufgaben erforderlich ist. Zur Feststellung der Hilfebedürftigkeit bzw. des Umfangs der Hilfebedürftigkeit ist die Erhebung der Informationen über das Einkommen bzw. die Betriebseinnahmen und -ausgaben zur Ermittlung des Gewinns zwingend erforderlich. Eine Datenspeicherung ist gemäß § 67c Abs. 1 Satz 1 SGB X bei einer entsprechenden Erforderlichkeit zulässig. Sozialdaten dürfen demzufolge verarbeitet werden, soweit sie für die Aufgabenerfüllung des Jobcenters nicht ungeeignet sind und ihm zumutbar keine andere Mittel zur Verfügung stehen, die den Betroffenen weniger belasten.
Das BSG hat bereits entschieden (Urteil vom 19.09.2008 – B 14 AS 45/07 R – juris), dass die Hinzunahme von Kontounterlagen bzw. Fotokopien von diesen zur Akte ein Erheben von Daten darstellt, und dass dieser Eingriff verhältnismäßig ist. Die Mitwirkungspflicht dient dabei Gemeinwohlbelangen von erheblicher Bedeutung. Die beantragten staatlichen Fürsorgeleistungen werden ohne jede Gegenleistung nur aufgrund von Hilfebedürftigkeit gewährt, so dass es erlaubt sein muss, sich davor zu schützen, dass entsprechende Leistungen an Nichtbedürftige gewährt werden (vgl. BSG a.a.O.). Da der Leistungsempfänger nach § 37 SGB II im Rahmen der Antragstellung ohnehin gehalten ist, weitgehende Angaben über sein Vermögen und auch Privatleben zu machen, steht dem Schutzzweck auf Seiten der Allgemeinheit ein vergleichsweiser geringer Eingriff beim Kläger gegenüber, da mit der Vorlagepflicht von Kontoauszügen beispielsweise keine zusätzlichen oder weitergehenden belastenden Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht bzw. das Recht auf informationelle Selbstbestimmung verbunden sind (vgl. dazu BSG a.a.O. mit Verweis auf das BVerfG vom 13.06.2007 – BVerfGE 118, 168 ff -, welches keine Zweifel daran bestehen lässt, dass gerade bei Empfängern von Sozialleistungen Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gemäß Art. 1 GG hinzunehmen seien). Die Anfertigung von Kopien für die Akte bzw. die Hinzunahme von Kopien zu den Akten ist schon im Hinblick auf das Erfordernis der Nachvollziehbarkeit der Entscheidung des Beklagten über den Antrag erforderlich. Sie sind Grundlage für eventuell anschließende Widerspruchs- und Gerichtsverfahren, Korrekturen von Entscheidungen im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens oder in Folgeverfahren (vgl. dazu auch eingehend: LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 06.12.2018 – L 32 AS 2045/16 – juris). Dem wird das bloße Vorzeigen der Unterlagen durch den Kläger und ein entsprechender Vermerk des Beklagten nicht gerecht (vgl. dazu auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 08.03.2018 – L 18 AS 2312/17 – juris), so dass auch den Kläger weniger belastende Maßnahmen nicht ersichtlich sind. Verfassungsrechtliche Bedenken hat der Senat nach alledem nicht, zumal auch die Möglichkeit besteht, nicht leistungsrelevante Angaben über Zahlungsempfänger auf Kontoauszügen zu schwärzen. Dass durch die Führung elektronischer Akten Unbefugte oder andere Personen nicht ohne zulässigen Zweck auf die Daten des Klägers zugreifen können, ist durch die Datenschutzbeauftragten zu sichern (vgl. dazu auch den Terminsbericht zu BSG, Urteil vom 14.05.2020 – B 14 AS 7/19 R – juris). Dies gilt auch, soweit das Einscannen von Unterlagen auf externe Dienstleister ausgelagert sein sollte. Im Übrigen werden nach der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage (BT-Drs. 19/3412) Prüfungen und Audits in Bezug auf die Einhaltung der Datenschutzbestimmungen sowie unabhängige Kontrollen und Testate durchgeführt (S. 12). Dass sensible Daten nur von befugten Personen eingesehen werden können, wird insbesondere durch Zutrittskontrollen und einen dokumentierten Prozess zur Autorisierung von Benutzern sichergestellt (S. 11). Konkrete Hinweise auf Datenschutzverstöße sind weder vom Kläger vorgetragen noch für den Senat ersichtlich.
Soweit der Kläger meint, die Bundesagentur für Arbeit sehe vor, dass Kopien der Kontoauszüge nicht zu den Akten/E-Akten genommen werden sollen, ist dies unzutreffend. Wie sich aus der Anlage zu BT-Drs. 19/3412 auf Seite 22 ergibt, ist die Speicherung von Kontoauszügen nach Auffassung der Bundesagentur für Arbeit u.a. dann zulässig, wenn diese Tatsachen enthalten, die sich unmittelbar auf den Leistungsanspruch auswirken. Die sich insbesondere aus den Kontoauszügen des Klägers ergebenden Zuflüsse und Zuflusszeitpunkte von anzurechnenden Einkommen aus dessen selbständiger Tätigkeit sind, wie sich bereits unzweifelhaft aus § 11 und § 11b ergibt, SGB II für die Ermittlung (des Umfangs) der Hilfebedürftigkeit maßgeblich.
Einen Vertrauensschutz dahingehend, dass der Beklagte die vom Kläger behauptete frühere Sachbehandlung in Bezug auf die Beschränkung darauf, lediglich im Rahmen einer persönlichen Vorsprache einen Aktenvermerk nach dem Durchsehen der Auszüge vorzunehmen, beibehalten muss, gibt es nicht. Aus dem Bestreiten des Klägers, dass der Beklagte die Kopien überhaupt zu den Akten nehmen würde, ergibt sich auch nichts anderes. Zum einen gibt es keine objektiven Anhaltspunkte hierfür, zum anderen ist nicht erkennbar, welches Rechtsschutzbedürfnis in diesem Fall beim Kläger verbleiben sollte, zumal der Beklagte angeboten hat, selbst Kopien bei einer Vorlage anzufertigen.
Der Kläger ist damit in Bezug auf das Bestehen seiner Hilfebedürftigkeit (§ 9 SGB II) seiner Verpflichtung zum Nachweis der leistungserheblichen Tatsachen nicht nachgekommen, so dass die Festsetzung des Leistungsanspruchs auf Null rechtmäßig war (§ 41a Abs. 3 Satz 3 SGB II). Die Berufung war somit zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.


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