Sozialrecht

Haftungsprivileg – Vorsätzliche Herbeiführung eines Wegeunfalls

Aktenzeichen  7 Sa 365/18

Datum:
27.11.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 42788
Gerichtsart:
LArbG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Arbeitsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VII § 7, § 8 Abs. 2 Nr. 1-4, § 104 Abs. 1 S. 1, § 105, § 108
ArbGG § 12a Abs. 1 S. 1, § 46c, § 64 Abs. 2, Abs. 6, § 66 Abs. 1, § 72 Abs. 1 S. 1
BGB § 280 Abs. 1, § 823 Abs. 1
ZPO § 97 Abs. 1, § 287, § 519, § 520
RVO § 636, § 637

 

Leitsatz

1 Die geänderte Wortwahl der seit 1.1.1997 an Stelle der §§ 636, 637 RVO geltenden §§ 104, 105 SGB VII, „Versicherungsfall“ statt „Arbeitsunfall“, hat bezüglich der „vorsätzlichen Herbeiführung“ keine Änderung erbracht. Die tatbestandlichen Grundvoraussetzungen der §§ 104, 105 SGB VII sind nämlich gegenüber §§ 636, 637 RVO unverändert geblieben (Bestätigung BAG BeckRS 2004, 30343904; BeckRS 2002, 30287239). (Rn. 24) (red. LS Thomas Ritter)
2 Ort der Tätigkeit iSd § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII ist in der Regel das gesamte Werksgelände. (Rn. 27) (red. LS Thomas Ritter)
3 Auf Wegen am Ort der Tätigkeit besteht Versicherungsschutz nach § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII, sofern der innere Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit gegeben ist. (Rn. 27) (red. LS Thomas Ritter)
4 Der Weg nach dem Ort der Tätigkeit endet im allgemeinen mit dem Durchschreiten oder Durchfahren des Werkstores. Ebenso beginnt der Weg von dem Ort der Tätigkeit mit dem Durchschreiten oder Durchfahren des Werkstores. Es ist nicht zulässig, von Fall zu Fall auf die speziellen örtlichen und baulichen Verhältnisse der jeweiligen Betriebsstätte abzustellen. Die Wege vom Werkstor zum Arbeitsplatz und zurück stehen mit der versicherten Tätigkeit in einem unmittelbaren inneren Zusammenhang. (Rn. 27) (red. LS Thomas Ritter)

Verfahrensgang

1 Ca 1407/17 2018-03-27 Endurteil ARBGROSENHEIM ArbG Rosenheim

Tenor

1. Die Berufung der Klägerin gegen das Endurteil des Arbeitsgerichts Rosenheim vom 27.03.2018 – 1 Ca 1407/17 wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
2. Die Revision wird zugelassen.

Gründe

I.
Die Berufung ist zulässig. Sie ist nach § 64 Abs. 2 ArbGG statthaft sowie frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG, 519, 520 ZPO).
II.
Die Berufung ist jedoch nicht begründet, denn die Beklagte kann sich soweit von ihr der Ersatz von Personenschaden verlangt wird und hierzu gehören neben dem geforderten Schmerzensgeld auch die weiter geltend gemachten Forderungen, da sie auf dem Personenschaden beruhen, auf das Haftungsprivileg nach § 104 Abs. 1 S.1 SGB VII berufen, da sie den Versicherungsfall nicht vorsätzlich herbeigeführt hat und kein Wegeunfall nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGB VII vorliegt.
1. Nach § 104 Abs. 1 S.1 SGB VII sind Unternehmer den gesetzlich Unfallversicherten, die für ihr Unternehmen tätig sind, zum Ersatz von Personenschäden nur verpflichtet, wenn sie den Versicherungsfall vorsätzlich oder auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 – 4 SGB VII versicherten Weg herbeigeführt haben. Die Norm bezieht sich auf alle Haftungsgründe des bürgerlichen Rechts einschließlich der Gefährdungshaftung (vgl. BAG, 19.08.2004 -8 AZR 349/03). Für die Ausgestaltung des Rechts der sozialen Unfallversicherung war neben dem Prinzip des sozialen Schutzes auch maßgeblich, dass die zivilrechtliche Haftpflicht des Unternehmers gegenüber seinen Arbeitnehmern abgelöst werden sollte, um eine betriebliche Konfliktsituation zu vermeiden; an die Stelle der privatrechtlichen Haftpflicht des Unternehmers wurde die Gesamthaftung der in der Berufsgenossenschaft zusammengeschlossenen Unternehmer gesetzt (Prinzip der Haftungsersetzung). Auf diese Weise sollten das Risiko von Arbeitsunfällen für den Arbeitgeber, der die Beiträge für die Unfallversicherung allein aufbringt, kalkulierbar und Anlässe zu Konflikten im Betrieb eingeschränkt werden. Die Kollision von Zivil- und Sozialrecht wird in verfassungskonformer Weise mittels des Wegfalls zivilrechtlicher Ansprüche gelöst (vgl. BAG, 19.08.2004 – 8 AZR 349/03 mit Verweis auf BVerfG 07.11.1972 – 1 BvL 4 und BVerfG 08.02.1995 – 1 BvR 753/94; BAG, 10.10.2002 – 8 AZR 103/02). Diesem Zweck entspricht es, wenn die Sperrwirkung nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII eingreift, sobald sich der Versicherte in die betriebliche Sphäre begibt, also in einen Bereich, der der Organisation des Unternehmers unterliegt (vgl. BAG, 19.08.2004 – 8 AZR 349/03).
2. Auf Grund dieser gesetzlichen Haftungseinschränkung besteht im Streitfalle keine Verpflichtung der Beklagten gegenüber der Klägerin.
a) Die Verletzung der Klägerin stellt für diese einen Arbeitsunfall und damit einen Versicherungsfall (§ 7 SGB VII) dar. Das steht zwischen den Parteien außer Streit und bedarf keiner weiteren Begründung, zumal die Klägerin auch Verletztengeld erhalten hat (vgl. § 108 SGB VII).
b) Die Beklagte hat den Versicherungsfall auch nicht vorsätzlich herbeigeführt.
aa) Unter Geltung des bis zum 31.12.1996 nach §§ 636, 637 RVO anzuwendenden Haftungsprivilegs bei Arbeitsunfällen war in Literatur und Rechtsprechung unstreitig, dass die Haftungsbeschränkung des Unternehmers oder der im selben Betrieb Tätigen nur dann wegen Vorsatzes entfällt, wenn der Schädiger den Arbeitsunfall gewollt oder für den Fall seines Eintritts gebilligt hat. Danach genügte es für die Entsperrung des Haftungsausschlusses nicht, dass ein bestimmtes Handeln, das für den Unfall ursächlich war, gewollt und gebilligt wurde, wenn der Unfall selbst nicht gewollt und nicht gebilligt wurde. Der Vorsatz des Schädigers musste nicht nur die Verletzungshandlung, sondern auch den Verletzungserfolg umfassen (BAG, 27.06.1975 – 3 AZR 457/74). Ebenso wurde allgemein anerkannt, dass die bloße vorsätzliche Missachtung von Unfallverhütungsvorschriften, auf die der Arbeitsunfall zurückzuführen war, nicht die Entsperrung des Haftungsausschlusses herbeiführte (BAG 27.06.1975 – 3 AZR 457/74; 02.03.1989 – 8 AZR 416/87). An diesen Grundsätzen hält das Bundesarbeitsgericht auch unter der ab 01.01.1997 an Stelle der §§ 636, 637 RVO geltenden §§ 104, 105 SGB VII fest. Die geänderte Wortwahl in der Neuregelung des SGB VII, „Versicherungsfall“ statt „Arbeitsunfall“, hat bezüglich der „vorsätzlichen Herbeiführung“ keine Änderung erbracht. Die tatbestandlichen Grundvoraussetzungen der §§ 104, 105 SGB VII sind nämlich gegenüber §§ 636, 637 RVO unverändert geblieben (vgl. zum Ganzen BAG,19.08.2004 – 8 AZR 349/03; 10.10.2002 – 8 AZR 103/02).
bb) Vorliegend sind keinerlei Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der gesetzliche Vertreter der Beklagten einen Vorsatz hinsichtlich eines Verletzungserfolgs bei der Klägerin gehabt haben soll. Gleiches gilt für ein ggf. der Beklagten zurechenbares vorsätzliches Verhalten des mit Räum- und Streuarbeiten beauftragten Mitarbeiters der Beklagten. Allenfalls könnte dem mit der Räumung und Sicherung der Wege beauftragten Mitarbeiter -unterstellt man den Vortrag der Klägerin als wahr – ein grob fahrlässiges, nicht aber ein vorsätzliches Herbeiführen des Unfalls vorgeworfen werden. Dieses Verhalten wäre vergleichbar mit dem Fall einer vorsätzlichen Missachtung von Unfallvorschriften, die aber auch nicht die Annahme einer vorsätzlichen Unfallverursachung rechtfertigt (vgl. BAG 19.08.2004 – 8 AZR 349/03; 10.10.2002 – 8 AZR 103/02).
3. Der Unfall der Klägerin ereignete sich auch nicht auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGB VII versicherten Weg, für den das Haftungsprivileg des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII eine Ausnahme erfährt.
a) Gemäß § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII ist versicherte Tätigkeit auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit. Die Voraussetzung eines Weges „nach dem Ort der Tätigkeit“ liegt aber nicht vor. Ort der Tätigkeit ist in der Regel das gesamte Werksgelände. Auf Wegen am Ort der Tätigkeit besteht Versicherungsschutz nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII, sofern der innere Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit gegeben ist. Der Weg nach dem Ort der Tätigkeit endet im allgemeinen mit dem Durchschreiten oder Durchfahren des Werkstores. Ebenso beginnt der Weg von dem Ort der Tätigkeit mit dem Durchschreiten oder Durchfahren des Werkstores. Es ist nicht zulässig, von Fall zu Fall auf die speziellen örtlichen und baulichen Verhältnisse der jeweiligen Betriebsstätte abzustellen. Die Wege vom Werkstor zum Arbeitsplatz und zurück stehen mit der versicherten Tätigkeit in einem unmittelbaren inneren Zusammenhang. Auf dem abgegrenzten Werksgelände besteht dessen betriebseigentümliche Gefahr und nicht (nur) das allgemeine Wegerisiko wonach die Ausnahme von der Haftungsbeschränkung nicht mehr Betriebswege umfaßt (vgl. BAG, 14.12.2000 – 8 AZR 92/00 mit Verweis auf BSG, 22.09.1988 – 2 RU 11/88).
b) Der Unfall der Klägerin ereignete sich unstreitig nicht auf einer öffentlichen Straße, sondern, was zwischen den Parteien unstreitig ist, auf dem Betriebsgelände und somit ereignete er sich auf einem Betriebsweg nach § 8 Abs. 1 SGB VII. Die Klägerin hat selbst angegeben, dass der Parkplatz, auf dem sie Fahrzeug abgestellt hat, nicht zum Betriebsgelände gehört, dass sie aber nach dem Verlassen des Parkplatzes einen Weg über eine Toreinfahrt betreten hat, der zum Betriebsgelände gehört und auf diesem Weg, der an der Hausmauer des Gebäudes der Pflegeeinrichtung entlanggeht, ist die Klägerin gestürzt bzw. ausgerutscht. Zu der eigentlichen Arbeitstätigkeit der Klägerin als Pflegekraft bestand mit dem Betreten des Betriebsgeländes mit dem Ziel, kurz vor dem Arbeitsbeginn den Arbeitsort zu erreichen, ein enger zeitlicher und sachlicher Zusammenhang, mit der Folge, dass kein Wegeunfall nach § 8 Abs. 2 SGB VII vorliegt. Vielmehr ereignete sich der Unfall auf einem Betriebsweg nach § 8 Abs. 1 SGB VII.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 64 Abs. 6 ArbGG, § 97 Abs. 1 ZPO, wonach die Klägerin die Kosten ihres erfolglosen Rechtsmittels zu tragen hat.
IV.
Die Revision ist zugelassen (§ 72 Abs. 1 S. 1 ArbGG).


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