Sozialrecht

Hilfe für junge Volljährige, Privatschule mit Internat, Kostenübernahme für selbstbeschaffte Maßnahme (Stattgabe), Systemversagen, Hilfeplanverfahren

Aktenzeichen  M 18 K 18.2218

Datum:
7.7.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 35375
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VIII § 35a
SGB VIII § 36
SGB VIII § 36a Abs. 3
SGB VIII § 41

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Beklagte wird verpflichtet, die Kosten für den Internatsbesuch des privaten Internats und Gymnasiums B. für das Schuljahr 2016/17 in Höhe von Euro 33.480.- zu erstatten. Der Bescheid vom 17. November 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. April 2018, der Bescheid vom 20. Juni 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Januar 2020 sowie der Bescheid vom 2. August 2018 werden aufgehoben. 
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für den Besuch des privaten Internats und Gymnasiums B. für das Schuljahr 2016/17 als selbstbeschaffte Eingliederungshilfe nach § 36a SGB VIII i.V.m. §§ 35a, 41 SGB VIII. Die ablehnenden Bescheide vom 17. November 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. April 2018, vom 20. Juni 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Januar 2020 sowie vom 2. August 2018 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
Der Klage ist der in der mündlichen Verhandlung gestellte Klageantrag auf Verpflichtung der Beklagten zur Erstattung der Kosten für eine in der Vergangenheit liegende selbstbeschaffte Maßnahme zu Grunde zu legen.
Für in der Vergangenheit liegende Maßnahmen scheidet eine rückwirkende Bewilligung von Jugendhilfemaßnahme aus, da Maßnahmen der Jugendhilfe der Deckung eines aktuellen Bedarfs des Hilfeempfängers dienen. Dementsprechend kann sich ein Anspruch für die Vergangenheit ausschließlich auf Erstattung der Kosten einer selbstbeschafften Maßnahme gemäß § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII richten (vgl. BayVGH, B.v. 28.10.2014 – 12 ZB 13.2025 – juris Rn. 12). Nachdem bereits im Zeitpunkt der Klageerhebung am 8. Mai 2018 der streitgegenständliche Zeitraum (September 2016 bis August 2017) abgeschlossen war, konnte mit der Klage ausschließliche eine solche Kostenerstattung begehrt werden.
Auch mit dieser Kostenerstattungsklage wird die Durchsetzung eines Anspruchs auf Erlass eines Verwaltungsaktes bezweckt, folglich liegt eine Verpflichtungsklage i.S.v. § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO vor (vgl. BVerwG, U.v. 18.10.2012 – 5 C 15/11 – juris Rn. 12; VGH BW, B.v. 28.10.2019 – 12 S 1821/18 – juris Rn. 4; OVG NW, U.v. 8.7.2019 – 12 A 2195/16 – juris Rn. 22; OVG SH, U.v. 15.8.2019 – 3 LB 7/18 – juris Rn. 41; LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Andreas Pattar, 7. Aufl. 2018, SGB VIII § 36a Rn. 23; a. A. VGH BW, U.v. 8.12.2016 – 12 S 1782/15 – juris Rn. 30).
Die hierzu ergangenen Versagungsbescheide der Beklagten sowie die Widerspruchsbescheide sind insoweit als „Anfechtungsannex“ vom Streitgegenstand umfasst (Eyermann/Schübel-Pfister, 15. Aufl. 2019, VwGO § 113 Rn. 40). Die – mehrfachen – ablehnenden Entscheidungen der Beklagten sind daher im engeren Sinne nicht Gegenstand des Verfahrens; ihre Aufhebung braucht weder beantragt noch vom Gericht ausgesprochen zu werden (Wysk/Bamberger, 3. Aufl. 2020, VwGO § 113 Rn. 98); die gerichtliche (Aufhebungs-)Entscheidung ist insoweit rein deklaratorisch (vgl. VG München, U.v. 14.10.2020 – M 18 K 19.4963 – juris Rn. 65).
Für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist vorliegend der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung hinsichtlich des streitgegenständlichen Zeitraumes maßgeblich (vgl. OVG Lüneburg, B.v. 31.3.2020 – 10 PA 68/20 – juris Rn. 6), folglich der 17. Januar 2020.
Die Klägerin hat nach § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII i.V.m. § 35a, 41 SGB VIII einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für den Besuch des privaten Internats und Gymnasiums B. für das Schuljahr 2016/17 als selbstbeschaffte Eingliederungshilfe.
Nach § 36a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Kosten für eine Hilfe grundsätzlich nur dann zu übernehmen, wenn sie auf der Grundlage seiner Entscheidung nach Maßgabe des Hilfeplans unter Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts erbracht wird. Eine solche positive Entscheidung der Beklagten liegt vorliegend nicht vor.
Für den Fall, dass Hilfen abweichend von § 36a Abs. 1 und 2 SGB VIII vom Leistungsberechtigten selbst beschafft werden, ist der Träger der öffentlichen Jugendhilfe nach § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII zur Übernahme der erforderlichen Aufwendungen nur verpflichtet, wenn (1.) der Leistungsberechtigte den Träger der öffentlichen Jugendhilfe vor der Selbstbeschaffung über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt hat, (2.) die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe vorlagen und (3.) die Deckung des Bedarfs (a) bis zu einer Entscheidung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe über die Gewährung der Leistung oder (b) bis zu einer Entscheidung über ein Rechtsmittel nach einer zu Unrecht abgelehnten Leistung keinen zeitlichen Aufschub geduldet hat.
§ 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII sichert mit diesen Tatbestandsvoraussetzungen die Steuerungsverantwortung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe; dieser soll die Leistungsvoraussetzungen sowie mögliche Hilfemaßnahmen unter Zubilligung eines angemessenen Prüfungs- und Entscheidungszeitraums jeweils pflichtgemäß prüfen können und nicht nachträglich als bloße Zahlstelle für selbstbeschaffte Maßnahmen fungieren (BayVGH, B.v. 25.6.2019 – 12 ZB 16.1920 – juris Rn. 35). Liegt hingegen ein Systemversagen in dem Sinne vor, dass das Jugendamt gar nicht, nicht rechtzeitig oder nicht in einer den Anforderungen entsprechenden Weise über eine begehrte Hilfeleistung entschieden hat, darf ein Leistungsberechtigter im Rahmen der Selbstbeschaffung nach § 36a Abs. 3 SGB VIII an Stelle des Jugendamtes den sonst diesem zustehenden und nur begrenzt gerichtlich überprüfbaren Einschätzungsspielraum für sich beanspruchen. In dieser Situation ist er – obgleich ihm der Sachverstand des Jugendamts fehlt – dazu gezwungen, im Rahmen der Selbstbeschaffung eine eigene Entscheidung über die Geeignetheit und Erforderlichkeit einer Maßnahme zu treffen mit der Folge, dass sich die Verwaltungsgerichte hinsichtlich der Geeignetheit und Erforderlichkeit der selbstbeschafften Hilfe auf eine fachliche Vertretbarkeitskontrolle aus der ex-ante-Betrachtung des Leistungsberechtigten zu beschränken haben. Ist die Entscheidung des Leistungsberechtigten in diesem Sinne fachlich vertretbar, kann ihr im Nachhinein nicht etwa mit Erfolg entgegnet werden, das Jugendamt hätte eine andere Hilfe für geeignet oder notwendig gehalten (BVerwG, U.v. 18.10.2012 – 5 C 21/11 – juris Rn. 33 f.; U.v. 9.12.2014 – 5 C 32/13 – juris m.w.N.).
Die Voraussetzungen des § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII liegen vorliegend vor.
1) Die Klägerin bzw. ihre Eltern als zum damaligen Zeitpunkt gesetzliche Vertreter haben die Beklagte über den Hilfebedarf rechtzeitig i. S. v. § 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII in Kenntnis gesetzt zu haben.
Das „Inkenntnissetzen“ umfasst grundsätzlich auch eine Beantragung der begehrten Jugendhilfeleistungen, wobei für einen solchen Antrag keine besondere Form vorgeschrieben ist und er auch in der Form schlüssigen Verhaltens gestellt werden kann (vgl. NdsOVG, B.v. 25.11.2020 – 10 LA 58/20 – juris Rn. 27; OVG NW, U.v. 16.11.2015 – 12 A 1639/14 – juris Rn. 75; BVerwG, B.v. 17.2.2011 – 5 B 43.10 – juris).
Vorliegend hat die Klägerin bzw. ihre Mutter die Beklagte (wohl) erstmals am 25. Juli 2016 telefonisch und nochmals ausführlich schriftlich per E-Mail vom 1. August 2016 über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt. Diese Termine liegen vor der Selbstbeschaffung, unabhängig davon, ob hinsichtlich des Zeitpunkts der Selbstbeschaffung auf den Vertragsschluss am 10. August 2016 (so wohl BayVGH, B.v. 25.6.2019 – 12 ZB 16.1967 – juris Rn. 34) oder den Beginn der Hilfemaßnahme zum 1. September 2016 (so überzeugend: NdsOVG, B.v. 25.11.2020 – 10 LA 58/20 – juris Rn. 26) abzustellen ist.
Nach ständiger Rechtsprechung muss der Antrag jedoch zudem so rechtzeitig gestellt werden, dass der Jugendhilfeträger zur pflichtgemäßen Prüfung sowohl der Anspruchsvoraussetzungen als auch möglicher Hilfemaßnahmen in der Lage ist (OVG NW, U.v. 22.8.2014 – 12 A 3019/11 – juris Rn. 38 m.w.N.; BVerwG, U.v. 11.8.2005 – 5 C 18/04 – juris Rn. 19 ff.). Hierbei gibt es keine regelmäßige Bearbeitungszeit für das Jugendamt, vielmehr hängt die dem Jugendhilfeträger für die Prüfung zur Verfügung stehende Zeit und damit die dem Hilfesuchende zumutbare Zeitspanne des Zuwartens von den Umständen des Einzelfalls ab (OVG NW; B.v. 9.10.2020 – 12 A 195/18 – juris Rn. 26). Der dem Jugendamt zuzubilligen Bearbeitungszeitraum steht dabei auch in Abhängigkeit vom Verhalten der Beteiligten (vgl. BVerwG, B.v. 14.7.2021 – 5 B 23/20 – juris Rn. 6; OVG NW; B.v. 9.10.2020 – 12 A 195/18 – juris Rn. 26; OVG Sachsen, U.v. 23.9.2020 – 3 A 975/19 – juris Rn. 30; OVG NW, U.v. 25.4.12 – 12 A 659/11 – juris Rn. 54). Es obliegt dem Hilfesuchenden, die Hilfeleistung so rechtzeitig zu beantragen bzw. von seiner Hilfebedürftigkeit Kenntnis zu geben, dass die Hilfe vom Sozialhilfeträger rechtzeitig gewährt werden kann. Eine sofortige Hilfeleistung kann deshalb nur in entsprechend beschaffenen Eilfällen erwartet werden (BVerwG, U.v. 23.6.1994 – 5 C 26/92 – juris Rn. 18).
Vorliegend standen der Beklagten maximal fünfeinhalb Wochen bis zur Selbstbeschaffung zur Verfügung. Ein solcher Zeitabschnitt dürfte sich regelmäßig, insbesondere für eine Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII mit besonderen Tatbestandsvoraussetzungen, als nicht ausreichend für eine angemessene Bearbeitung durch das Jugendamt darstellen. Allerdings ist im vorliegenden Einzelfall aufgrund der besonderen Umstände von einer ausreichend rechtzeitigen Inkenntnissetzung auszugehen.
Denn die Klägerin bzw. ihre sie damals noch vertretenden Eltern haben die Beklagte zeitnah über ihren Hilfebedarf informiert und auch im Übrigen ihre Mitwirkungspflichten erfüllt, während die Beklagte eine zeitnahe, sachgerechte und den Hilfebedarf berücksichtigende Sachbearbeitung versäumte.
Entgegen der Ansicht der Beklagten erfolgte das Inkenntnissetzen nicht schuldhaft verspätet. Es ist der Klägerin nicht vorzuwerfen, dass der Hilfebedarf nicht bereits nach den Kontaktaufnahmen durch die Beklagte im Mai und Juni 2016 sowie dem darauffolgenden Telefonat am 1. Juli 2016 angemeldet wurde. Die Mutter der Klägerin hat im Rahmen der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar und glaubhaft ausgeführt, dass noch im Juli 2016 angedacht war, dass die Klägerin aus der Klinik in ihr häusliches Umfeld zurückkehrt und ihre bisherige Schule weiter besucht. Eine Jungendhilfemaßnahme erschien nach dieser – in Abstimmung mit der behandelnden Klinik erfolgten – Planung nicht erforderlich, so dass eine Beteiligung des Jugendamtes in diesem Stadium zumindest nicht zwingend veranlasst war. Nachdem jedoch drei Entlassungsversuche stattgefunden hatten und letztmals Ende Juli 2016 scheiterten, hat sich der jugendhilferechtliche Hilfebedarf für die Klägerin tatsächlich erst Ende Juli 2016 ergeben.
Zudem fehlte es während des Zeitraums bis zur Selbstbeschaffung auch nicht an einer ausreichenden Mitwirkung durch die Klägerin bzw. deren Eltern (vgl. BVerwG, B.v. 14.7.2021 – 5 B 23/20 – juris Rn. 6 m.w.N). Zwar kann der Verweis auf einen Urlaub und das damit im Zusammenhang stehende Unterbleiben nötiger Gespräche und Beratungen dazu führen, dass von einer mangelnden Mitwirkung auszugehen ist, welche zumindest die angemessene Bearbeitungszeit durch die Beklagte verlängert; hiervon ist vorliegend jedoch nicht auszugehen. Aus der vorgelegten Behördenakte ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte aufgrund des Urlaubs der Klägerin an einer sachgerechten Bearbeitung gehindert war. Vielmehr hat die Mutter der Klägerin immer wieder auf eine zeitnahe Kontaktaufnahme gedrängt und aufgrund des geplanten Urlaubs auf ein Gespräch umgehend nach Rückkehr der Sachbearbeiterin der Beklagten und vor dem eigenen Urlaubsantritt gedrungen, um das Verfahren voranzubringen.
Die Beklagte versäumte hingegen, sachgerecht zeitnah die Fallbearbeitung zu beginnen, die Klägerin bzw. ihre Eltern umgehend auf die vorrangige Beurteilung und Entscheidung durch das Jugendamt, das Erfordernis einer angemessenen, zeitlich bestimmten Bearbeitungszeit und das Kostenrisiko im Fall der vorherigen Selbstbeschaffung hinzuweisen. Vielmehr reagierte die Beklagte bis zum 16. August 2016 wohl nur insoweit, als den Eltern der Klägerin mitgeteilt wurde, dass ein Gutachten nach § 35a SGB VIII erforderlich sei (welches umgehend vorgelegt wurde), zur Eigeninitiative hinsichtlich der Suche nach einer Schule geraten und auf die Rückkehr der bei der Beklagten zuständigen Sachbearbeiterin zur weiteren Kontaktaufnahme verwiesen wurde. Dieses Verhalten der Beklagten, das sich mangels eigener Dokumentation in der Behördenakte ausschließlich aus den E-Mails der Mutter der Klägerin ergibt, führte in nachvollziehbarer Weise dazu, dass die Eltern der Klägerin für diese tätig wurden und im Ergebnis die Maßnahme ohne Abstimmung mit der Beklagten selbstbeschafften. In einem Aktenvermerk der Beklagten vom … … 2016 heißt es insoweit lediglich, dass hinsichtlich des Telefonates Ende Juli 2016 lediglich in Erinnerung sei, dass die Mutter der Klägerin auf die Frage, ob ein Gutachten nach § 35a SGB VIII vorliege, dies bejaht habe und auf den zeitlichen Verlauf in der Angelegenheit hingewiesen habe. Man könne sich nicht mehr erinnern, ob sie darin bestätigt bzw. ihr dazu geraten worden sei, selbst aktiv zu werden; dies könne aber auch nicht ausgeschlossen werden. Aufgrund des damaligen intensiven Arbeitsanfalls sei es nicht möglich gewesen, zeitnah das Telefonat zu dokumentieren. Dieser Aktenvermerk widerspricht zumindest nicht der Darstellung der Mutter der Klägerin, sodass diese zugrunde zu legen ist.
Auch bei dem auf Drängen der Eltern der Klägerin am 16. August 2016 stattgefundenen Termin dürfte eine hinreichende Aufklärung hinsichtlich der grundsätzlich vorrangigen Prüfung und Entscheidung durch das Jugendamt (auch unter Berücksichtigung der Dringlichkeit des Falles) und die Benennung eines zeitlichen Entscheidungshorizonts unterblieben sein. In der vorgelegten Behördenakte fehlt eine Dokumentation dieses Termins, aus den auf dieses Datum datierten Schreiben der Beklagten lässt sich lediglich entnehmen, dass die Beklagte einen umfangreichen Aufklärungsbedarf sah und ein zeitlich nicht näher bestimmtes Verfahren durchzuführen plante. Im Übrigen dürfte selbst das Informationsblatt zu Privatschulen der Beklagten, in welchem sowohl die zunächst erforderliche Schulberatung als auch die Kostentragungspflicht erläutert wird, den Eltern der Klägerin erst bei dem Termin am 9. September 2016 und damit nach der Selbstbeschaffung übergeben worden sein.
Vorliegend ist daher von einer rechtzeitigen Inkenntnissetzung der Beklagten auszugehen. Die Beklagte hätte innerhalb des Zeitraums zumindest eine sachgerechte, zügige Bearbeitung und Beratung der Klägerin und ihrer Eltern in die Wege leiten müssen. Dies ist schuldhaft durch die Beklagte unterblieben. Der Klägerin war es nicht zuzumuten, unter diesen Voraussetzungen das weitere, zeitlich völlig offene Verfahren der Klägerin abzuwarten.
2) Des Weiteren lagen die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe in Form der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII (ab dem Zeitpunkt der Volljährigkeit der Klägerin i.V.m. § 41 SGB VIII) für den streitgegenständlichen Zeitraum vor, § 36 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII. Der Beurteilungsspielraum hinsichtlich der geeigneten Maßnahme ist insoweit auf Grund des Systemversagens bei der Beklagten auf die Klägerin übergegangen.
Nach § 41 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII (in der zum maßgeblichen Zeitpunkt geltenden Fassung) soll jungen Volljährigen Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung gewährt werden, wenn und solange die Hilfe aufgrund der individuellen Situation des jungen Menschen notwendig ist. Für die Ausgestaltung der Hilfe gelten nach § 41 Abs. 2 SGB VIII § 27 Absatz 3 und 4 sowie die §§ 28 bis 30, 33 bis 36, 39 und 40 SGB VIII entsprechend mit der Maßgabe, dass an die Stelle des Personensorgeberechtigten oder des Kindes oder des Jugendlichen der junge Volljährige tritt.
Es bestehen keine Zweifel, dass die Persönlichkeitsentwicklung der Klägerin eine selbstbestimmte, eigenverantwortliche und selbständige Lebensführung auch im Zeitpunkt ihrer Volljährigkeit noch nicht gewährleistete und dementsprechend ein Anspruch auf Hilfe für junge Volljährige bestand; dies ist zwischen den Parteien auch unstreitig.
Auch der grundsätzliche Anspruch der Klägerin auf Eingliederungshilfe nach § 35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII für das streitgegenständliche Schuljahr ist zwischen den Parteien unstreitig. Nach dieser Norm besteht ein Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht (Nr. 1) und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist (Nr. 2). Das Abweichen der seelischen Gesundheit nach § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII ist gemäß § 35a Abs. 1a Satz 1 SGB VIII durch die Stellungnahme eines Facharztes festzustellen. Welche Hilfeform im Rahmen des Anspruchs aus § 35a Abs. 1 SGB VIII geleistet wird, richtet sich nach dem jeweiligen Bedarf im Einzelfall, vgl. § 35a Abs. 2 und 3 SGB VIII.
Mit fachärztlichen Gutachten vom … … 2016 wurde das Abweichen der seelischen Gesundheit der Klägerin nach § 35a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII festgestellt. Die Parteien gehen auch übereinstimmend – sachgerecht – davon aus, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt bei der Klägerin auch eine Teilhabebeeinträchtigung im Sinn des § 35a Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII vorlag.
Konträre Vorstellungen bestanden jedoch hinsichtlich der geeigneten Hilfe für die Klägerin. Grundsätzlich kommt dem Jugendhilfeträger bei der Entscheidung, welche Hilfeform im Einzelfall geeignet und erforderlich ist, ein rechtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu. Denn nach ständiger Rechtsprechung unterliegt die Entscheidung über die Erforderlichkeit und Geeignetheit einer bestimmten Maßnahme einem kooperativen sozialpädagogischen Entscheidungsprozess unter Mitwirkung der Fachkräfte des Jugendamts und des betroffenen Hilfeempfängers, der nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, sondern vielmehr eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation beinhaltet, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss (sog. sozialpädagogische Fachlichkeit). Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung beschränkt sich in diesem Fall darauf, dass allgemeingültige fachliche Maßstäbe beachtet worden, keine sachfremden Erwägungen in die Entscheidung eingeflossen und der oder die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt worden sind. Die Entscheidung über die Geeignetheit und Notwendigkeit einer bestimmten Hilfemaßnahme ist daher nur auf ihre Vertretbarkeit hin überprüfbar (OVG SH, B.v. 3.2.2021 – 3 MB 50/20 – juris Rn. 11, BayVGH, B.v. 6.2.2017 – 12 C 16.2159 – juris Rn. 11 m.w.N.).
Liegt jedoch ein Systemversagen vor, so darf ein Leistungsberechtigter, wie bereits dargestellt, im Rahmen der Selbstbeschaffung nach § 36a Abs. 3 SGB VIII an Stelle des Jugendamtes den sonst diesem zustehenden Einschätzungsspielraum für sich beanspruchen. Die selbstbeschaffte Hilfe ist sodann in Hinblick auf ihre Geeignetheit und Erforderlichkeit lediglich einer fachlichen Vertretbarkeitskontrolle aus der ex-ante-Betrachtung des Leistungsberechtigten zu unterziehen.
Ein solches Systemversagen ist vorliegend für den gesamten streitgegenständlichen Zeitraum zu bejahen, sodass der Beurteilungsspielraum auf die Klägerin übergegangen ist.
Die Gewährung von Jugendhilfeleistungen erfolgt regelmäßig zeitabschnittsweise und damit befristet (vgl. BayVGH, B.v. 24.11.2016 – 12 C 16.1571 – juris). Denn die Frage, ob die Voraussetzungen für die Bewilligung von Jugendhilfe erfüllt sind, ist nach dem jeweils aktuellen Hilfebedarf zu beurteilen, der für folgende Zeitabschnitte jeweils gesondert festzustellen ist (vgl. BayVGH, B.v. 28.10.2014 – 12 ZB 13.2025 – juris Rn. 12; VG Magdeburg, B.v. 26.11.2012 – 4 B 235/12 – juris Rn. 5 f.). Dementsprechend sind auch im Hinblick auf die Beurteilung des Systemversagens, welches die Selbstbeschaffung zulässig werden lässt, Zeitabschnitte zu bilden. So kann sowohl eine zunächst unzulässig selbstbeschaffte Maßnahme im Folgenden mangels rechtmäßiger Entscheidung des Jugendhilfeträgers zulässig werden (vgl. BayVGH, B.v. 25.6.2019 – 12 ZB 16.1920 – juris Rn. 36 m.w.N.; OVG NW, U.v. 16.11.2015 – 12 A 1639/14 – juris Rn. 84 ff. m.w.N.; U.v. 25.4.2012 – 12 A 659/11 – juris 54 ff.), als auch eine zunächst zulässige Selbstbeschaffung für nachfolgende Zeiträume mangels weiterem Systemversagen unzulässig werden (vgl. VG Bremen, U.v. 17.5.2021 – 3 K 2333/18 – juris Rn. 42; LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Andreas Pattar, 7. Aufl. 2018, SGB VIII § 36a Rn. 22).
Inwieweit im Fall der Selbstbeschaffung einer Privatschule für die Beurteilung des Systemversagens auf das Schuljahr (vgl. BayVGH, B.v. 28.10.2014 – 12 ZB 13.2025 – juris Rn. 12), Schulhalbjahre (OVG NW, U.v. 25.4.2012 – 12 A 659/11 – juris 54 ff.) bzw. Trimester (vgl. BVerwG, U.v. 11.8.2005 – 5 C 18/04 – juris) abzustellen ist, kann vorliegend im Ergebnis offenbleiben, da das Systemversagen der Beklagten für das gesamte streitgegenständliche Schuljahr vorliegt. Allerdings dürften, zumindest für den Fall, dass das Jugendamt in einem laufenden Schuljahr das Systemversagen beendet und eine fachlich nachvollziehbare ablehnende Entscheidung trifft, auch die Kündigungsregelungen des (zunächst) zulässig geschlossenen Vertrages hinsichtlich der zu bildenden Zeitabschnitte zu berücksichtigen sein.
Die Beklagte hat die von der Klägerin begehrte Leistung mit Bescheiden vom 17. November 2016, 20. Juni 2017 sowie 2. August 2018 jeweils abgelehnt. Eine ausführliche Begründung der ablehnenden Entscheidung erfolgte lediglich im Bescheid vom 17. November 2016, auf die die Folgebescheide jeweils Bezug genommen haben.
Die Beklagte hat es jedoch vollständig versäumt, vor ihrer Entscheidung über den streitgegenständlichen Zeitraum ein ordnungsgemäßes Hilfeplanverfahren durchzuführen; insbesondere hat sie es evident fehlerhaft unterlassen, die Klägerin als Leistungsadressatin sachgerecht zu beteiligen. Auch bei Erlass des Bescheides vom 2. August 2018 bzw. des Widerspruchsbescheids vom 17. Januar 2020 wurde es fehlerhaft unterlassen, die weiteren Erkenntnisse auf Grund der weiteren umfangreich vorgelegten Unterlagen sowie der persönlichen Gespräche am 15. Mai 2018 auch im Bezug zu dem streitgegenständlichen Schuljahr 2016/17 sachgerecht zu würdigen; vielmehr wurde explizit ausschließlich auf den Zeitpunkt der Selbstbeschaffung der Maßnahme abgestellt, weshalb keine Notwendigkeit mehr für einen engeren Kontakt bestanden habe.
Gemäß § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII (in der zum maßgeblichen Zeitpunkt geltenden Fassung) sind die Personensorgeberechtigten und das Kind oder der Jugendliche – bzw. im vorliegenden Fall der junge Erwachsene – vor der Entscheidung über die Inanspruchnahme einer Hilfe und vor einer notwendigen Änderung von Art und Umfang der Hilfe zu beraten und auf die möglichen Folgen für die Entwicklung des Kindes oder des Jugendlichen hinzuweisen. § 36 Abs. 2 SGB VIII regelt, dass die Entscheidung über die im Einzelfall angezeigte Hilfeart, wenn Hilfe voraussichtlich für längere Zeit zu leisten ist, im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte getroffen werden soll. Als Grundlage für die Ausgestaltung der Hilfe sollen die Fachkräfte zusammen mit dem Personensorgeberechtigten und dem Kind oder dem Jugendlichen bzw. dem jungen Erwachsenen einen Hilfeplan aufstellen, der Feststellungen über den Bedarf, die zu gewährende Art der Hilfe sowie die notwendigen Leistungen enthält; sie sollen regelmäßig prüfen, ob die gewählte Hilfeart weiterhin geeignet und notwendig ist.
Aus dieser Regelung folgen ein subjektiv-rechtlicher Anspruch des Leistungsberechtigten auf qualifizierte Beteiligung im Hilfeplanverfahren und dem korrespondierend eine Pflicht zur Beteiligung auf Seiten des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe. Ein zentrales Leitbild der Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII ist es, junge Menschen und ihre Eltern nicht als Objekte fürsorgender Maßnahmen oder intervenierender Eingriffe zu betrachten, sondern sie stets als Expertinnen und Experten in eigener Sache auf Augenhöhe aktiv und mitgestaltend in die Hilfe- und Schutzprozesse einzubeziehen. Dem Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe ist daher in sämtlichen Aufgabenfeldern immanent, Kinder, Jugendliche, junge Volljährige und Eltern in der Wahrnehmung ihrer Subjektstellung zu unterstützen bzw. hierzu zu befähigen (vgl. Gesetzesbegründung zum KJSG, BT-Drs. 19/26107, S. 1). Jugendhilfemaßnahmen sind keine Instrumente staatlichen Eingriffs bzw. keine einseitige Entscheidung des Jugendamtes, sondern Leistungen bzw. Angebote an die Betroffenen, bei deren Art, konkreter Ausgestaltung und Inanspruchnahme der Personensorgeberechtigte bzw. im vorliegenden Fall der junge Erwachsenen mitgestalten und darüber mitentscheiden soll. Die Einbeziehung ist ein entscheidendes Element der Leistungsgewährung im Kinder- und Jugendhilferecht. Beteiligung meint nicht nur die Mitwirkung bei der Feststellung bzw. Ermittlung von etwaigen Tatbestandsvoraussetzungen, sondern setzt eine aktive Mitwirkung, eine Partizipation der Betroffenen im Rahmen eines interaktiv gestalteten Prozesses voraus. Ganz zentral ist hierbei der Angebotscharakter sowie die vorgeschriebene Mitwirkung bzw. Beteiligung der Betroffenen, die ein wesentlicher Schritt zur Akzeptanz und damit auch zum Erfolg der jeweiligen Leistung ist. Aus § 36 SGB VIII ergibt sich, dass das Kinder- und Jugendhilferechtsverhältnis als kooperativer Prozess der Mitgestaltung und Mitwirkung ausgestaltet ist (von Koppenfels-Spies in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., § 36 SGB VIII, Stand: 04.04.2019, Rn. 10 ff., 51 m.w.N.; Wiesner/Schmid-Obkirchner, 5. Aufl. 2015, SGB VIII § 36 Rn. 1, 9 ff; LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Jan Kepert, 7. Aufl. 2018, SGB VIII § 36 Rn. 8). Die Diagnostik findet im Rahmen eines interaktiven Prozesses statt, in den die Leistungsadressaten und die Fachkraft ihre Sichtweise zur Lebens- und Erziehungssituation des Kindes oder Jugendlichen einbringen. Gemeinsam stellen sie Überlegungen zur Situationsveränderung an, klären die Bedingungen und verständigen sich auf anzustrebende Ziele und die dazu notwendigen Schritte (Wiesner/Schmid-Obkirchner, 5. Aufl. 2015, SGB VIII § 36 Rn. 10 m.w.N.). Die Hilfeplanung dient der Offenlegung der Gründe für die Auswahl einer Hilfeform (BeckOGK/Bohnert, 1.4.2021, SGB VIII § 36 Rn. 3, 19). Die Information bzw. Beratung muss so umfassend sein, dass die Leistungsberechtigten verstehen und nachvollziehen können, dass, warum und welche Maßnahme gerade in ihrem Bedarfsfall geeignet und notwendig ist (von Koppenfels-Spies in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., § 36 SGB VIII (Stand: 20.05.2021), Rn. 12).
Dementsprechend ist auch bei der Selbstbeschaffung einer aus fachlichen Gründen abgelehnten bzw. vom Hilfeplan ausgeschlossenen Leistung im Hinblick auf § 36a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII zu prüfen, ob der vom Jugendamt aufgestellte Hilfeplan (bzw. das Hilfekonzept) verfahrensfehlerfrei zustande gekommen, nicht von sachfremden Erwägungen beeinflusst und fachlich vertretbar ist. Diese Prüfung erstreckt sich dabei nicht auf eine reine Ergebniskontrolle, sondern erfasst auch die von der Behörde gegebene Begründung. Denn diese muss für den Betroffenen nachvollziehbar sein, um ihn in die Lage zu versetzen, mittels einer Prognose selbst darüber zu entscheiden, ob eine Selbstbeschaffung (dennoch) gerechtfertigt ist. Hat das Jugendamt die begehrte Hilfe aus im vorgenannten Sinne vertretbaren Erwägungen abgelehnt, besteht weder ein Anspruch des Betroffenen auf die begehrte Eingliederungshilfeleistung noch auf den Ersatz von Aufwendungen für eine selbst beschaffte Hilfe. Der Regelung des § 36a Abs. 3 SGB VIII liegt in dem Sinne der Gedanke des Systemversagens zugrunde, dass die selbst beschaffte Leistung nicht rechtzeitig erbracht oder zu Unrecht abgelehnt worden sein muss (BVerwG, U.v. 18.10.2012 – 5 C 21/11 – juris Rn. 32 f.; VG München, U.v. 14.10.2020 – M 18 K 19.4953 – juris Rn. 120).
Die Entscheidung der Beklagten leidet an einem Systemversagen.
Die Beklagte hat insoweit bereits verkannt, dass sie auch im Rahmen einer zunächst selbstbeschafften Leistung, sofern diese wie vorliegend noch andauert, für die in der Zukunft liegenden Zeitabschnitte (siehe hierzu bereits oben) für die ebenfalls Hilfe begehrt wird, ein den Anforderungen entsprechendes Hilfeplanverfahren durchzuführen hat. Denn unabhängig von der Frage der Zulässigkeit der Selbstbeschaffung führt eine solche nicht zum Ausschluss des Hilfeplanverfahrens für die Zukunft. Allein die Tatsache, dass die Klägerin bereits die von ihr priorisierte Hilfe selbst beschafft hatte, entbindet die Beklagte nicht von der Verpflichtung, die Klägerin für die Zukunft zu beraten und ggf. andere, für geeignet gehaltenen Hilfeformen an diese zumindest heranzutragen (vgl. VG München, U.v. 14.10.2020 – M 18 K 19.4963 – juris Rn. 123 ff. m.w.N.). Vielmehr ist für folgende Zeitabschnitte, auch unter Berücksichtigung der tatsächlichen Situation durch die selbstbeschaffte Maßnahme, die weitere Hilfe im Rahmen eines angemessenen Hilfeplanverfahrens zu entwickeln. Auch dies verkennt die Beklagte völlig, soweit sie im Bescheid vom 17. November 2016 ausführt, dass es für die Entscheidung des Jugendhilfeträgers unerheblich sei, ob der Klägerin aus jetziger Sicht ein Wechsel in eine andere Schule zumutbar wäre und somit ihrer Ablehnung für die Zukunft sowohl einen falschen Zeitpunkt als auch Sachverhalt zu Grunde legt.
Insbesondere hat es die Beklagte jedoch fehlerhaft vollständig versäumt, die Klägerin als Leistungsempfängerin in ihre Entscheidung miteinzubeziehen. Vielmehr erfolgte mit der Klägerin selbst – die während des gesamten Schuljahres, zunächst als Minderjährige, dann als Volljährige die Leistungsempfängerin war – lediglich am 16. August 2016 ein Gespräch. Nachvollziehbare Aktenvermerke über dieses Gespräch existieren – trotz entsprechender Dokumentationspflichten der Beklagten (vgl. BeckOGK/Bohnert, 1.10.2021, SGB VIII § 36 Rn. 3) – nicht. Beide Parteien gaben jedoch hierzu im Rahmen der mündlichen Verhandlung an, dass bei diesem Gespräch lediglich allgemein über das Verfahren informiert wurde und eine inhaltliche Klärung nicht erfolgte. Im Folgenden wurde die Klägerin lediglich gebeten, einen umfangreichen Fragenkatalog der Beklagten schriftlich zu beantworten. Hingegen fand ein Gespräch mit der Klägerin, in dem neben den Vorstellungen der Klägerin auch die Position der Beklagten und die von dieser angestellten Überlegungen ausführlich erörtert hätten werden müssen, zu keinem Zeitpunkt statt. Ein solches Gespräch wurde – nach den unwidersprochenen Angaben der Mutter der Klägerin in der E-Mail vom 1. März 2018 von der Klägerin auch mehrfach erbeten und angeregt, von der Beklagten jedoch abgelehnt.
Das am 15. Mai 2018 erfolgte Gespräch (sowie die zunächst entstandene Verzögerung dieses Gesprächs aus Gründen, die wohl der Klägerin zuzurechnen wären) kann für den vorliegend streitgegenständlichen Zeitraum nicht berücksichtigt werden, da dieses Gespräch weder von der Beklagten im Bescheid vom 2. August 2018 noch im Widerspruchsbescheid vom 17. Januar 2020 Berücksichtigung fand. Vielmehr bezogen sich beide Bescheid fehlerhaft ausschließlich auf die im Zeitpunkt der Antragstellung bzw. Selbstbeschaffung vorliegenden Erkenntnisse.
Im Übrigen widerspricht auch das Vorgehen der Beklagten, lediglich aufgrund angeforderter schriftlicher Unterlagen im Rahmen eines Fachteams unter Anstellen umfangreicher Vermutungen ohne hinreichende Abklärung und Beteiligung insbesondere auch der Gutachter nach § 35a SGB VIII (vgl. § 36 Abs. 3 SGB VIII) den fachlichen Anforderungen. Soweit sich die Beklagte darauf beruft, dass mit der, die Klägerin behandelnden Klinik offenbar Kontaktaufnahmen erfolgten, fehlt jede Dokumentation in der vorgelegten Behördenakte; auch eine entsprechende, durch das Gericht angeforderte Aktenergänzung erfolgte nicht. Die Beklagte kann sich daher auch nicht auf angebliche Gespräche mit Mitarbeitern der Klinik berufen, die zum Ausdruck gebracht haben sollen, dass die Eltern der Klägerin eine Zusammenarbeit mit dem sozialpädagogischen Dienst der Klinik verweigert hätten. Im Übrigen wäre es der Beklagten auch ein Leichtes gewesen – ebenso wie der Widerspruchsbehörde – bestehende Unklarheiten bzw. Widersprüche in vorgelegten medizinischen Gutachten von sich aus abzuklären bzw. mindestens die Klägerin auf diese im Vorfeld hinzuweisen und um Aufklärung zu bitten. Hingegen erscheint es nicht nachvollziehbar, dass Aussagen von die Klägerin behandelnden Ärzten ohne weitere Aufklärungsversuche angezweifelt und eigene, insbesondere medizinische Vermutungen angestellt werden, wie im Widerspruchsbescheid vom 27. April 2018 geschehen, welchen sich die Beklagte zurechnen lassen muss.
Auf Grund dieses evidenten Systemversagens ging der Beurteilungsspielraum hinsichtlich der geeigneten Maßnahme für den gesamten streitgegenständlichen Zeitraum auf die Klägerin über.
Es kann daher offenbleiben, ob – selbst unter Zugrundelegung des von der Beklagten behaupteten, bei der Klägerin bestehenden komplexen Störungsbildes – die Entscheidung der Beklagten, die von der Klägerin begehrte Hilfemaßnahme als zu niederschwellig und ungeeignet abzulehnen und eine (weitere) stationäre Maßnahme anzuregen, im Übrigen noch im Rahmen der sozialpädagogischen Fachlichkeit liegt. Insoweit weist das Gericht jedoch ergänzend darauf hin, dass eine Maßnahme sich auch dann als ungeeignet darstellen kann, sofern sie mangels Akzeptanz durch den Leistungsempfänger nicht tauglich ist, die Zielerreichung, nämlich die Behebung des Defizits, zu fördern (VG München, U.v. 14.10.2020 – M 18 K 19.4963 – juris Rn. 124 ff. m.w.N.).
Zumindest ist die von der Klägerin gewählte Hilfe im Rahmen des ihr zukommenden Entscheidungsspielraums in Form des Besuchs des privaten Internats und Gymnasiums B.- insbesondere aus ihrer ex-ante-Laiensicht – geeignet und erforderlich gewesen.
Insoweit haben auch die Vertreterinnen der Beklagten im Rahmen der mündlichen Verhandlung eingeräumt, dass diese Entscheidung aus Sicht der Eltern bzw. der Klägerin nachvollziehbar sei. Auch das Gericht hat insoweit keinerlei Zweifel, dass diese Entscheidung im Rahmen des der Klägerin zukommenden Beurteilungsspielraumes fachlich vertretbar ist.
Im Rahmen der fachlichen Vertretbarkeitskontrolle darf der Vorrang des öffentlichen Schulsystems nicht unberücksichtigt bleiben. Dementsprechend kann die Selbstbeschaffung eines Privatschulplatzes nur dann zulässig sein, wenn aus der ex-ante-Sicht des Hilfesuchenden trotz unterstützender Maßnahmen keine Möglichkeit besteht, den Hilfebedarf im öffentlichen Schulsystem zu decken, und es fachlich vertretbar erscheint, dass der Betroffene den Besuch einer öffentlichen Schule für unmöglich bzw. unzumutbar hält (OVG NW, B.v. 9.10.2020 – 12 A 195/18 – juris Rn. 23, juris m.w.N.; VG München, B.v. 9.6.2020 – M 18 E 20.1392- juris Rn. 79 ff. m.w.N.).
Darüber hinaus ist in der Rechtsprechung bereits umfassend geklärt, dass Leistungen der Eingliederungshilfe in Bezug auf den Schulbesuch nicht mit dem Erreichen der allgemeinen Schulpflicht enden, sondern auf Grund des Anspruchs auf eine angemessene Schulbildung (§ 35a Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 90 Abs. 4 SGB IX i.V.m. § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII (a.F.) i.V.m. § 12 EingliederungshilfeV zum damaligen Zeitpunkt bzw. inhaltsgleich ab 1.1.2020: § 112 SGB IX) auch den Besuch von weiterführenden Schulen umfassen kann (vgl. OVG Lüneburg, B.v. 25.11.2020 – 10 LA 58/20 – juris Rn. 28; BVerwG, B.v. 17.2.2015 – 5 B 61/14 – juris Rn. 4; BayVGH, B.v. 21.2.2013 – 12 CE.2136 – juris Rn. 33; VG München, B.v. 9.6.2020 – M 18 E 20.1392 – juris Rn. 70 m.w.N.; von Koppenfels-Spies in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl. 2018, § 35a SGB VIII, Rn. 69 m.w.N.). Hinsichtlich der intellektuellen Fähigkeiten der Klägerin bestanden, auch bei der Beklagten, keine Zweifel an der grundsätzlichen Geeignetheit der Klägerin für den Besuch der gymnasialen Oberstufe. Allerdings wurden, insbesondere im Rahmen des Widerspruchsbescheids vom 17. November 2016, welchen sich die Beklagte zurechnen lassen muss, erhebliche Zweifel geltend gemacht, ob die gymnasiale Oberstufe die Leistungsfähigkeit der Klägerin nicht überbeanspruche, weshalb ein Realschulabschluss eine entsprechend der Persönlichkeit der Klägerin angemessene Schulbildung darstellen könne. Diese Einschätzung der Beklagten bzw. der Widerspruchsbehörde beruht jedoch ausschließlich auf der Einschätzung, dass bei der Klägerin ein komplexes Störungsbild bestehe, welches einen Schulbesuch derzeit als unmöglich erscheinen lasse. Die Annahme eines komplexen Störungsbildes bei der Klägerin wiederum beruht auf Interpretationen durch die Beklagte ohne hinreichende fachliche Abklärung bzw. Bestätigung durch die die Klägerin behandelnden Ärzte und erscheint damit fachlich nicht hinreichend fundiert. Ob möglicherweise entsprechende Bedenken des Sozialen Dienstes der Klinik bestanden – worauf sich die Beklagte beruft – kann mangels Belege hierzu durch die Beklagte keine Berücksichtigung finden. Der Besuch der Oberstufe eines Gymnasiums ist daher als angemessene Schulbildung für die Klägerin anzusehen; was im Übrigen auch durch das Bestehen des Abiturs im Jahr 2018 bestätigt wird.
Die Klägerin durfte auch von einer fehlenden Bedarfsdeckung durch das öffentliche Schulsystem ausgehen. Insoweit kann das Gericht die von der Beklagten in ihrer Stellungnahme vom … … … vertretene Ansicht nicht nachvollziehen, dass nach der Stellungnahme der städtischen Schulberatung Inklusion vom … … 2016 bescheinigt worden sei, dass der Förderbedarf nicht nur an einem Förderzentrum oder einer Förderschule erfüllt werden könne, sowie im Raum München für den Förderschwerpunkt der Klägerin öffentlich-rechtliche Fördereinrichtung zur Verfügung stehen würden. In dieser formularmäßigen Bescheinigung wurden vielmehr die entsprechenden Felder gerade nicht angekreuzt, sodass nicht von einer öffentlichen Bedarfsdeckung auszugehen ist. Zudem führt die Beklagte im Folgenden selbst aus, dass – nach einer entsprechenden Stabilisierung – die Kostenübernahme für eine Privatschule denkbar gewesen wäre, was im Widerspruch dazu steht, dass sie die Klägerin vor dieser, von der Beklagten für nötig gehaltenen Stabilisierung auf das öffentliche Schulsystem verweist. Die Klägerin durfte schließlich auch auf Grund ihrer eigenen vergangenen Erfahrungen sowie den gescheiterten Entlassungs- und Schulversuchen sowie auf Grund der Beurteilung durch die sie behandelnde Klinik aus ihrer Laiensicht von einer fehlenden öffentlichen Bedarfsdeckung ausgehen.
Auch die Auswahl der Klägerin hinsichtlich der konkret von ihr priorisierten Schule erscheint angemessen. Die Klägerin hat im Vorfeld mit dem Internat und Gymnasium B. Kontakt aufgenommen, sich hinsichtlich der Rahmenbedingungen informiert und sich beraten lassen. Auch das Gericht hat auf Grund der vorliegenden Unterlagen zum Schulkonzept keine Zweifel an der aus Sicht der Klägerin bestehenden Geeignetheit der Schule. Im Übrigen wurde diese Schule auch durch den sie behandelnden Facharzt explizit als geeignet bezeichnet.
Schließlich erscheinen auch die Kosten des privaten Internats und Gymnasiums B. im üblichen Rahmen und nicht als unangemessen; auch die Beklagte erhebt hierzu keine Einwände.
3) Die Deckung des Bedarfs der Klägerin hat auch keinen zeitlichen Aufschub geduldet, § 36 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII.
Der Klägerin war weder ein Abwarten zunächst bis zu einer zeitlich nicht absehbaren Entscheidung der Beklagten, noch nach Bescheidserlass die Entscheidung über das Rechtsmittel gegen die ablehnende Entscheidung bzw. ein einstweiliges Rechtsschutzverfahren zumutbar (vgl. LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Andreas Pattar, 7. Aufl. 2018, SGB VIII § 36a Rn. 19 f.; von Koppenfels-Spies in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., § 36a SGB VIII (Stand: 07.09.2021), Rn. 58).
Der Hilfedarf der Klägerin war dringlich. Entsprechend den Angaben der Mutter der Klägerin im Verfahren sowie dem ärztlich-psychologischen Bericht vom … … 2016 erschien eine Entlassung der Klägerin aus der Klinik erst möglich nach Klärung der schulischen Perspektive. Für die seelische Gesundheit der Klägerin war daher die umgehende Einleitung einer Jugendhilfemaßnahme dringlich, worauf die Mutter der Klägerin auch mehrfach hinwies. In dieser Situation war weder ein Verweis auf ein Verbleiben der Klägerin in einer medizinischen Klinik noch auf ein Abwarten zu Hause ohne schulische Perspektive bis zu einer Entscheidung des Jugendamts vertretbar. Vielmehr verlangte die aktuelle Situation ein umgehendes Tätigwerden.
Darüber hinaus hatte die Klägerin aufgrund ihrer Erkrankung bereits ein Schuljahr verloren und stellte insbesondere der Schulbesuch einen Schwerpunkt der bei der Klägerin bestehenden Problematik dar. Ihr war es daher auch nicht zumutbar, zum Beginn des neuen Schuljahres weiterhin keine Schule zu besuchen bzw. auf einen späteren Schuleintritt im laufenden Schuljahr – mit hierdurch deutlich erhöhten Schwierigkeiten der Eingewöhnung – verwiesen zu werden.
Der Klage war daher vollumfänglich stattzugeben.
Allerdings weist das Gericht ergänzend darauf hin, dass auch für selbstbeschaffte Maßnahme im Fall der Verpflichtung des Jugendamtes zur Kostenübernahme nach § 36a Abs. 3 SGB VIII, wie vorliegend, eine Kostenbeitragspflicht nach §§ 91 ff. SGB VIII gegeben sein kann (vgl. VG Oldenburg, B.v. 28.3.2011 – 13 B 3145/10 – juris; LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Andreas Pattar, 7. Aufl. 2018, SGB VIII § 36a Rn. 23; Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, SGB VIII § 92 Rn. 24, beck-online).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 188 Satz 2 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung – ZPO.


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