Sozialrecht

Keine Erwerbsminderungsrente bei widersprechenden Gutachten

Aktenzeichen  L 19 R 938/12

Datum:
26.7.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 123882
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VI § 43, § 56

 

Leitsatz

1. Zu den Voraussetzungen einer Erwerbsminderungsrente. (Rn. 33 – 41)
2. Für die Prüfung der Voraussetzungen einer quantitativen Minderung der Erwerbsfähigkeit ist allein maßgeblich der Zeitpunkt des letztmöglichen Leistungsfalls. (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die bloße Behauptung eines Sachverständigen genügt für die Annahme einer quantitativen Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht, insbesondere, wenn dieser sich nicht mit anderslautenden Gutachten inhaltlich auseinandersetzt und diese zudem zeitlich vor und nach dem umstrittenen Gutachten erstellt wurden. Eine zwischenzeitliche orthopädische Befundverschlechterung muss dann plausibel erklärt werden. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
4. Eine allein auf Angaben der Klägerin beruhende, nicht objektivierte Diagnose auf psychiatrischem Fachgebiet ist nicht verwertbar. Das gilt insbesondere, wenn auch diesbezüglich ein anderslautendes Gutachten vorliegt. (Rn. 40 – 41) (redaktioneller Leitsatz)
5. Dass die in Tschechien geborene Klägerin aufgrund ihres Gesundheitszustandes eine Teilrente aus Tschechien bezieht, ist für die Prüfung der Voraussetzungen des § 43 SGB VI unerheblich. (Rn. 44) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 16 R 329/10 2012-09-27 Urt SGBAYREUTH SG Bayreuth

Tenor

I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 27.09.2012 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 SGG).
Sie ist jedoch nicht begründet. Das Sozialgericht hat zu Recht mit Gerichtsbescheid vom 27.09.2012 die Klage gegen den Bescheid vom 10.02.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.03.2010 als unbegründet abgewiesen. Ein Nachweis einer zeitlichen Einschränkung des Leistungsvermögens der Klägerin auf unter 6 Stunden täglich bzw. sogar auf unter 3 Stunden täglich bis zum 31.08.2011, dem letztmöglichen denkbaren Leistungsfall, ist von der Klägerin nicht geführt worden. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte den gesundheitlichen Einschränkungen der Klägerin durch Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes Rechnung getragen werden.
Gemäß § 43 Abs. 1 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie
1.teilweise erwerbsgemindert sind,
2.in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Tätigkeit oder Beschäftigung haben und
3.vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Teilweise erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes für mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung haben nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Die notwendigen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nach § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI liegen bei der Klägerin nur bis 31.08.2011 vor. Dies ergibt sich aus dem vorgelegten Versicherungsverlauf der Beklagten, in dem die letzte Pflichtbeitragszeit wegen Arbeitslosengeld II-Bezuges für die Zeit bis 31.03.2006 festgehalten ist. Nachfolgend liegen bei der Klägerin zwar Zeiten der Arbeitslosigkeit ohne Leistungsbezug vor, diese können jedoch nicht als Anrechnungszeiten nach § 58 SGB VI berücksichtigt werden, da sie Lücken enthalten und eine Unterbrechung einer versicherten Beschäftigung im Sinne des § 58 Abs. 2 SGB VI nicht vorlag.
Ausgehend von diesem letztmöglichen Leistungsfall 31.08.2011 steht zur Überzeugung des Senats fest, dass eine quantitative Minderung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin zum damaligen Zeitpunkt nicht nachgewiesen ist. Eine spätere Veränderung der gesundheitlichen Einschränkungen der Klägerin, wie z. B. im letzten Bericht des Medizinischen Versorgungszentrums H. vom 23.03.2017 enthalten, kann deshalb keine Berücksichtigung mehr finden. Die vom Senat beigezogenen ärztlichen Befundberichte haben keine weiteren Erkrankungen der Klägerin aufgezeigt, die bislang im SG-Verfahren nicht hätten berücksichtigt worden sein können.
Das Leistungsvermögen der Klägerin ist im Verwaltungsverfahren von Dr. R. auf orthopädischem Fachgebiet mit Gutachten vom 21.01.2010 beurteilt worden, der die Klägerin auch schon in den vorangegangenen Rentenverfahren untersucht hatte und jeweils zu einem mindestens 6stündigen Leistungsvermögen für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes gelangt war. Im sozialgerichtlichen Verfahren haben sowohl Dr. S. in seinem Gutachten vom 02.03.2010 als auch Dr. A. auf orthopädischem Fachgebiet mit Gutachten vom 09.12.2011 und Frau Dr. M. auf neurologisch/psychiatrischem Fachgebiet mit Gutachten vom 30.05.2012 – jeweils nach persönlicher Untersuchung der Klägerin – ein mindestens 6stündiges Leistungsvermögen der Klägerin für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes gesehen, wenn auch unter Beachtung weiterer qualitativer Leistungseinschränkungen hinsichtlich der Schwere der Tätigkeit, der Vermeidung von Zwangshaltungen und stressbehafteter Tätigkeiten. Demgegenüber ist allein der auf Antrag der Klägerin gehörte Sachverständige Dr. E., der zugleich behandelnder Arzt der Klägerin war, zu einem Leistungsvermögen von unter 6 Stunden, aber mehr als 3 Stunden täglich gelangt. Das Gutachten von Dr. E. datiert vom 31.08.2011, so dass es zeitlich zwischen den Gutachten einzuordnen ist, die von Amts wegen vom Sozialgericht eingeholt worden waren.
Das Sozialgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, dass der Leistungseinschätzung von Dr. E. nicht gefolgt werden kann. Diese Einschätzung des Sozialgerichts ist durchaus zutreffend, nachdem Dr. E. zwar eine Zunahme der Coxarthrose rechts bestätigt hatte, ansonsten aber zu vergleichbaren Diagnosen wie schon die Vorgutachten von Dr. R. und Dr. S. gekommen war. Die Annahme einer quantitativen Leistungsminderung wurde von ihm nicht begründet und auch nicht gegenüber den anderen bereits tätig gewesenen Sachverständigen Dr. R. und Dr. S. abgegrenzt, sondern in den Beweisfragen mit einem knappen „Ja“ beantwortet. Aus seiner sonstigen Begründung geht hervor, dass er die Kombination aus psychischer Einschränkung und orthopädischem Leiden letztlich für die quantitative Leistungsminderung als wesentlich ansieht. Das Sozialgericht hat aber im Anschluss daran das Gutachten von Dr. A. eingeholt, der im Hinblick auf die orthopädischen Leiden nicht nachvollziehbare Bewegungsmaße bei Dr. E. festgestellt und seine erhobenen Bewegungsmaße im Wesentlichen deckungsgleich mit den von Dr. R. im Jahr 2010 erhobenen Befunden beschrieben hat. Sowohl Dr. R. als auch Dr. A. haben Bewegungsmaße dokumentiert, die lediglich qualitative Leistungseinschränkungen begründen, etwa hinsichtlich der Schwere der Arbeitsleistung, des Ausschlusses von Wirbelsäulenzwangshaltungen und Überkopfarbeiten. Eine Erklärung, weshalb die Bewegungsmaße von Dr. R. und Dr. A. praktisch deckungsgleich waren und die von Dr. E. zeitlich dazwischen erhobenen Befunde deutlich schlechter gewesen sein sollten, lässt sich aus den Gutachten nicht entnehmen. Auch das Verhalten der Klägerin in den jeweiligen Untersuchungssituationen lässt keine Rückschlüsse auf eine zumindest zwischenzeitliche Befundverschlechterung zu. Im Gegenteil begründet Dr. E. die quantitative Leistungsminderung bei vergleichbaren Befunden wie in den anderen Gutachten mit dem Zusammenspiel von psychischer und somatischer Erkrankung, ohne dies näher darzulegen.
Hinsichtlich der psychischen Erkrankung ist festzuhalten, dass Dr. E. lediglich feststellte, dass die psychische Belastbarkeit der Klägerin aufgrund der bestehenden Depressionen mit Krankheitsfixation nicht mehr gegeben sei. Er beschreibt aber die Klägerin als freundlich, offene Patientin, die sehr gut mitarbeite. Sie wirke insgesamt etwas ängstlich. Mnestische Störungen konnten nicht gefunden werden, auch kein Anhalt für Konzentrations- oder Merkfähigkeitsstörungen oder formale oder inhaltliche Denkstörungen. Subjektiv – also aus Sicht der Klägerin – wird betont, dass sie unter Angstzuständen leide und Menschen aus dem Weg gehe. Sie fühle sich nutzlos und als Simulantin abgestempelt. Dr. E. konstatiert bei der Klägerin „insgesamt psychisch einen hohen Leidensdruck“. Diese auf subjektiven Angaben der Klägerin beruhende Einschätzung wird von Dr. E. nicht objektiviert, weder durch die Erhebung eines Tagesablaufs der Klägerin oder durch Fremdanamnese noch durch entsprechende Testverfahren und er hinterfragt auch nicht, ob die Klägerin eine leitliniengerechte Therapie ihrer psychischen Erkrankung wahrnimmt oder nicht. Insoweit hat Dr. E. als Chirurg fachfremd geurteilt, er stützt darauf aber wesentlich seine Leistungseinschätzung, dass bei der Klägerin eine quantitative Leistungsminderung auf unter 6 Stunden täglich vorliege.
Dem gegenüber kam Dr. M. als nervenärztliche Sachverständige in ihrem nachfolgenden Gutachten lediglich zu einer ängstlichen Persönlichkeitsstruktur der Klägerin. Die Klägerin leide zusätzlich unter einer leichten Depression, die zwar auch krankheitsbezogen sei, in erster Linie aber durch einen familiären Konflikt bestimmt würde. Bei Dr. M. war sogar eine akute Belastungssituation der Klägerin durch das Verschwinden ihres Ehemanns und dessen Spielschulden sowie dem Verlust des eigenen Hauses dokumentiert. Gleichwohl sah Dr. M. darin nur eine vorübergehende Episode, die bei Bewältigung dieser finanziellen Konfliktsituation durchaus entschärft wäre. Die Persönlichkeitsstörung und die leichte Depression begründen allenfalls qualitative Leistungseinschränkungen hinsichtlich Schicht- und Akkordarbeit sowie für Tätigkeiten mit besonderer nervlicher Belastung. Frau Dr. M. hat im Übrigen darauf hingewiesen, dass die Klägerin sich damals nicht in psychiatrischer Behandlung befunden, sondern lediglich stützende Gespräche bei ihrem behandelnden Psychiater M. in Anspruch genommen habe. Dr. M. beschreibt die Leistungseinschätzung von Dr. E. als nicht nachvollziehbar. Er beschreibe die Klägerin als „etwas ängstlich“ und „fühle sich nutzlos“ bei einem ansonsten unauffälligen psychischen Befund. Es sei deshalb nicht nachvollziehbar, eine quantitative Leistungsminderung aus neurologisch/psychiatrischer Sicht abzuleiten.
Das Sozialgericht hat sich in seinen Entscheidungsgründen sehr ausführlich mit den Gesundheitseinschränkungen der Klägerin auf orthopädischem und nervenärztlichem Fachgebiet auseinandergesetzt. Der Senat sieht insoweit nach § 153 Abs. 2 SGG von einer Begründung seiner Entscheidung ab und verweist in vollem Umfang auf die Entscheidungsgründe des Sozialgerichts in seinem Gerichtsbescheid vom 27.09.2012.
Lediglich ergänzend wird darauf hingewiesen, dass für den Senat entscheidend war, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Erwerbsminderungsrente nur bis 31.08.2011 vorgelegen haben und die Klägerin zeitnah um diesen letzten fiktiven Leistungsfall durch zwei Sachverständige, nämlich Dr. A. auf orthopädischem Fachgebiet und Dr. M. auf nervenärztlichem Fachgebiet, persönlich untersucht wurde. Das Gutachten von Dr. A. stammt vom 09.12.2011, das Gutachten von Dr. M. auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet vom 30.05.2012. Beide sahen ein mindestens sechsstündiges Leistungsvermögen der Klägerin für leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes und erklärten ausdrücklich das Gutachten von Dr. E. als nicht nachvollziehbar. Diese Einschätzung teilt der Senat wie auch bereits das SG. Nachdem auch die beigezogenen Befundberichte keinen Anhalt für weitere – gegebenenfalls bisher übersehene – Erkrankungen oder eine besondere Schwere der gesundheitlichen Einschränkungen bis zum relevanten Stichtag 31.08.2011 geboten hatten, bestand für den Senat keine Veranlassung, ein weiteres Gutachten von Amts wegen einzuholen. Soweit im Berufungsverfahren auch auf bestehende internistische Leiden der Klägerin hingewiesen wurde, waren diese bereits zuvor bekannt und im Übrigen auch nicht maßgebend für die quantitative Leistungseinschätzung. Die klinisch bestätigte Aortenklappeninsuffizienz wird in den Berichten als „irrelevant“ bezeichnet, der Bluthochdruck war medikamentös behandelt und gut eingestellt, so dass allenfalls qualitative Einschränkungen zu beachten wären. Von einer Verschlimmerung der Cox- und Gonarthrosen wurde erst später berichtet.
Auch der Umstand, dass die Klägerin aufgrund ihres Gesundheitszustandes aus Tschechien eine Teilrente bezieht, vermag einen Anspruch der Klägerin auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente nach § 43 SGB VI nicht zu begründen. Über die Rechtmäßigkeit der Rentengewährung nach tschechischem Recht vermag der Senat nicht zu entscheiden. Maßgebend ist vorliegend allein, ob die Klägerin nach § 43 SGB VI Anspruch auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente hat, was eine quantitative Minderung ihrer Erwerbsfähigkeit auf unter 6 Stunden täglich voraussetzt. Dies ist nach der Gutachtenslage nicht der Fall.
Nach alledem war die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 27.09.2012 als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.


Ähnliche Artikel

BAföG – das Bundesausbildungsförderungsgesetz einfach erklärt

Das Bundesausbildungsförderungsgesetz, kurz BAföG, sorgt seit über 50 Jahren für finanzielle Entlastung bei Studium und Ausbildung. Der folgende Artikel erläutert, wer Anspruch auf diese wichtige Förderung hat, wovon ihre Höhe abhängt und welche Besonderheiten es bei Studium und Ausbildung gibt.
Mehr lesen

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben