Sozialrecht

Leistungen der Sozialen Entschädigung bei gesundheitlicher Schädigung nach dem StrRehaG

Aktenzeichen  L 15 VH 1/15

Datum:
12.2.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 28815
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
StrRehaG § 21, § 26 Abs. 3
BVG § 30 Abs. 1
VersMedV § 2
SGB X § 44
SGG § 109

 

Leitsatz

1. Wenn die Behörde in ihrem Überprüfungsbescheid in die Sachprüfung eingestiegen ist, ist die vollständige Überprüfung des Ausgangsbescheids auch im gerichtlichen Verfahren eröffnet (Fortführung der st. Rspr. des Senats, vgl. Urteile v. 27.03.2015 – L 15 VK 12/13 – sowie 26.09.2017 – L 15 VS 14/14). (Rn. 46)
2. Es ist nicht grundsätzlich ausgeschlossen, dass leichtere Gesundheitsstörungen mit nur einem GdB/GdS von 20 bei der Bildung des Gesamt-GdB/GdS erhöhend zu berücksichtigen sein können, wenn sie sich auf eine andere Beeinträchtigung besonders nachhaltig, verstärkend auswirken und so zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung führen. (Rn. 69)
3. An die Abgrenzung des schädigungsbedingten Anteils an den Gesundheitsstörungen des Betroffenen dürfen keine überhöhten Anforderungen gestellt werden. Dass dem vom Gesetzgeber gewollten System der Kausalitätsbeurteilungen auch gewisse geringe Unschärfen innewohnen, ist hinzunehmen. (Rn. 59)
4. Zur Ablehnung eines Antrags nach § 109 SGG. (Rn. 77 – 81)

Verfahrensgang

S 30 VH 1/13 2015-05-07 SGMUENCHEN SG München

Tenor

I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 7. Mai 2015 aufgehoben und der Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 9. Januar 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11. September 2013 verurteilt, den Bescheid vom 6. Februar 2008 in der Fassung des Bescheids vom 3. März 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. März 2009 sowie den Bescheid vom 21. März 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. Juni 2012 abzuändern und als weitere Schädigungsfolge relative Harninkontinenz im Sinne der Verschlimmerung anzuerkennen.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
II. Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in Höhe von 1/8 zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Der Senat konnte mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden, § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 SGG.
Die zulässige Berufung ist teilweise begründet, überwiegend jedoch unbegründet.
Die Berufung ist nur insoweit begründet, als eine relative Harninkontinenz im Sinne der Verschlimmerung als Schädigungsfolge anzuerkennen ist. Im Übrigen bleibt die Berufung ohne Erfolg. Der Kläger hat, wie das SG zu Recht entschieden hat, keinen Anspruch auf Gewährung einer Versorgungsrente unter Zugrundelegung eines GdS von insgesamt 70. Ein höherer Gesamt-GdS als 50 (ohne Berücksichtigung der besonderen beruflichen Betroffenheit gem. § 30 Abs. 2 BVG) ist nicht anzuerkennen.
1. Relative Harninkontinenz als Schädigungsfolge
Weil der Beklagte in seinem Überprüfungsbescheid vom 09.01.2013 in die Sachprüfung eingestiegen ist, ist die vollständige Überprüfung auch im gerichtlichen Verfahren eröffnet (siehe die Urteile des Senats vom 27.03.2015 – L 15 VK 12/13 – sowie vom 26.09.2017 – L 15 VS 14/14). Auf die Rechtsprechung des Senats (Urteil vom 26.01.2016 – L 15 VG 29/13), wonach der Vortrag neuer wissenschaftlicher Lehrmeinungen im allgemeinen keinen Vortrag neuer entscheidungserheblicher Tatsachen im Sinne von § 44 Abs. 1 Satz 1, 2. Altern. SGB X darstellt, kommt es somit vorliegend nicht an. Das Berufungsgericht hat zu prüfen, ob die geltend gemachte Gesundheitsstörung auf die Haft zurückzuführen ist und ob hierdurch (siehe hierzu im Folgenden) und aufgrund der weiteren vorgetragenen, streitgegenständlichen Aspekte (siehe hierzu 2.) ein höherer Gesamt-GdS als (medizinisch) 50 anzuerkennen ist.
Der Kläger hat Anspruch auf die Feststellung der relativen Harninkontinenz als Schädigungsfolge der Freiheitsentziehung vom 12.10.1983 bis 09.08.1984 gem. § 21 Abs. 1 Satz 1 StrRehaG i.V.m. § 30 Abs. 1 BVG.
a. Dem steht nicht entgegen, dass vorliegend eine Rehabilitierungsentscheidung vom 19.03.1992 des Bezirksgerichts Potsdam nach dem RehabG vorliegt. Denn Personen, die vor dem Inkrafttreten des StrRehaG nach dem genannten Gesetz der DDR, das nach dem Beitritt fortgalt, rehabilitiert worden sind, werden nach § 26 Abs. 3 StrRehaG gleichgestellt (vgl. hierzu z.B. Rademacker, in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Aufl. 2012, StrRehaG, § 21, Rn. 3).
b. Die Beteiligten gehen zu Recht davon aus, dass hier das StrRehaG anwendbar ist. Ein Fall der Nachrangigkeit gem. § 21 Abs. 1 Satz 2 StrRehaG liegt nicht vor. Wie der Beklagte zutreffend darauf hingewiesen hat, handelt es sich im Fall des Klägers um eine erstmalige Antragstellung im Jahr 2005, so dass bereits nach dem Wortlaut der genannten Norm Nachrangigkeit ausscheidet.
c. Für die Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge und damit die Berücksichtigung im Rahmen eines Versorgungsanspruchs nach § 1 Abs. 1 BVG ist gemäß § 21 Abs. 5 Satz 1 StrRehaG ein wahrscheinlicher Zusammenhang der Freiheitsentziehung als schädigender Vorgang und der geltend gemachten Gesundheitsstörung erforderlich.
Entsprechend den vorgenannten Bestimmungen setzt die Anerkennung von Schädigungsfolgen eine dreigliedrige Kausalkette voraus (vgl. BSG, Urteil vom 25.03.2004 – B 9 VS 1/02 R): Eine Freiheitsentziehung (1. Glied) muss zu einer primären Schädigung (2. Glied) geführt haben, die wiederum die geltend gemachten Schädigungsfolgen (3. Glied) bedingt.
Die drei Glieder der Kausalkette müssen im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen sein (vgl. BSG, Urteil vom 15.12.1999 – B 9 VS 2/98 R). Dies bedeutet, dass kein vernünftiger Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteile vom 28.06.2000 – B 9 VG 3/99 R, und vom 17.04.2013 – B 9 V 1/12 R). Demgegenüber reicht es für den zweifachen ursächlichen Zusammenhang der drei Glieder aus, wenn dieser jeweils mit hinreichender Wahrscheinlichkeit gegeben ist. Die Beweisanforderung der hinreichenden Wahrscheinlichkeit gilt sowohl für den Bereich der haftungsbegründenden Kausalität (vgl. BSG, Urteil vom 15.12.1999 – B 9 VS 2/98 R – in Aufgabe der früheren Rechtsprechung, z.B. BSG, Urteil vom 24.09.1992 – 9a RV 31/90, die für den Bereich der haftungsbegründenden Kausalität noch den Vollbeweis vorausgesetzt hat -; vgl. auch BSG, Urteile vom 17.04.2013 – z.B. B 9 V 1/12 R) als auch den der haftungsausfüllenden Kausalität. Dies entspricht den Beweisanforderungen auch in anderen Bereichen der sozialen Entschädigung oder Sozialversicherung, insbesondere der wesensverwandten gesetzlichen Unfallversicherung.
Die Beurteilung des Zusammenhangs folgt, wie ansonsten im Versorgungsrecht auch, der Theorie der wesentlichen Bedingung (ständige Rspr. des BSG, vgl. z.B. Urteile vom 23.11.1977 – 9 RV 12/77, vom 08.05.1981 – 9 RV 24/80, vom 20.07.2005 – B 9a V 1/05 R, und vom 18.05.2006 – B 9a V 6/05 R). Diese beruht auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie: Danach ist jedes Ereignis Ursache eines Erfolges, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio-sine-qua-non). Als rechtserheblich werden allerdings nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben.
Eine potentielle Ursache begründet dann einen wahrscheinlichen Zusammenhang, wenn ihr nach sachgerechter Abwägung aller wesentlichen Umstände gegenüber jeder anderen Möglichkeit ein deutliches Übergewicht zukommt (vgl. BSG, Urteil vom 22.09.1977 – 10 RV 15/77). Oft wird diese Wahrscheinlichkeit auch als hinreichende Wahrscheinlichkeit bezeichnet, wobei das Wort „hinreichend“ nur der Verdeutlichung dient (vgl. Keller, a.a.O., § 128, Rn. 3c). Nicht ausreichend ist dagegen eine bloße – abstrakte oder konkrete – Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs (vgl. BSG, Urteil vom 26.11.1968 – 9 RV 610/66). Haben mehrere Ursachen zu einem Schaden beigetragen, ist eine vom Schutzbereich des BVG umfasste Ursache dann rechtlich wesentlich, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges – verglichen mit den mehreren übrigen Umständen – annähernd gleichwertig ist. Das ist dann der Fall, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges allein mindestens so viel Gewicht hat wie die übrigen Umstände zusammen (vgl. BSG, Urteil vom 16.12.2014 – B 9 V 6/13 R). Im Einzelnen bedarf es dazu der wertenden Abwägung der in Betracht kommenden Bedingungen. Im Einzelfall muss die Entscheidung darüber, welche Bedingungen im Rechtssinne als Ursache oder Mitursache zu gelten haben und welche nicht, aus der Auffassung des praktischen Lebens abgeleitet werden (vgl. BSG, a.a.O.).
In diesem Sinn ist der Verschlimmerungsanteil der Harninkontinenz, der die Verstärkung der organisch bedingten Harninkontinenz und nicht das vermehrte Auftreten der Beschwerden ab 2012 betrifft, mit Wahrscheinlichkeit auf die Haftumstände in der DDR zurückzuführen. Dies folgt aus dem Ergebnis der Beweisaufnahme, insbesondere aus dem insoweit überzeugenden Sachverständigengutachten der Fachärztin C., das hier auch in Übereinstimmung mit den Feststellungen des Sachverständigen Dr. K. steht. Der Senat macht sich nach eigener Prüfung diese sachverständigen Feststellungen der genannten Gutachter zu eigen.
Daraus ergibt sich u.a., dass nur der Verschlimmerungsanteil zu berücksichtigen ist. Entsprechend der zutreffenden Annahme der Fachärztin C. (und den insoweit plausiblen Darlegungen des Beklagten) ist der überwiegende Anteil der relativen Harninkontinenz, wie ohne Weiteres aus den medizinischen Befundunterlagen folgt, organisch bedingt.
Im Übrigen sieht der Senat das Vorliegen einer relativen Harninkontinenz als nachgewiesen an, auch wenn dem Beklagten zuzugeben ist, dass die Annahme einer solchen zunächst im Wesentlichen auf den Angaben des Klägers basiert hat. Eine Entscheidung kann sich jedoch grundsätzlich in freier Beweiswürdigung jedenfalls dann allein auf den Beteiligtenvortrag stützen, wenn dieser glaubhaft ist – wobei „glaubhaft“ hier nicht im Sinn einer Herabsetzung des Überzeugungsmaßes verstanden werden darf -, der Lebenserfahrung entspricht und nicht zu anderen festgestellten Tatsachen im Widerspruch steht (vgl. Keller, in: Mayer-Ladewig/ders./Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 128, Rn. 4; Gutzler, in: SGb 2/2009, S. 73 , jeweils m.w.N.; z.B. Urteil des Senats v. 21.04.2015 – L 15 VG 24/09). Der Senat geht mit der Sachverständigen C. unter anderem mit Blick auf die Tatsache, dass die Kleidung des Klägers zum Untersuchungszeitpunkt eingenässt gewesen ist, davon aus, dass der erforderliche (siehe oben) Vollbeweis erbracht ist.
Freilich ist sich der Senat auch mit Blick auf die Einwendungen des Beklagten gegen die Anerkennung der Kausalität bezüglich eines psychiatrisch bedingten Anteils durchaus bewusst, dass die Zunahme der Symptomatik im zeitlichen Verlauf, wie hier vom Kläger ab dem Jahr 2012 geschildert, ein wesentliches Indiz gegen einen kausalen Zusammenhang mit traumatischen Ereignissen darstellen kann. Auch sind unzweifelhaft nicht nur auch organische Ursachen gegeben, sondern stehen sogar im Mittelpunkt der Blasenproblematik des Klägers, wie sich aus der Auswertung des gesamten, umfangreichen Aktenmaterials ergibt. Der Senat kann aber mit der Sachverständigen C. eine überwiegende Wahrscheinlichkeit bzgl. des Verschlimmerungsanteils des Einnässens (i.S.v. § 21 Abs. 5 StrRehaG), der sich aus der körperlich auswirkenden Stressreaktion aufgrund der haftbedingten psychischen Störungen ergibt, im vorliegenden Fall mittragen, weil die Darlegungen der gerichtsbekannten und gerade für die Begutachtung von Traumafolgestörungen im Sozialen Entschädigungsrecht erfahrenen Sachverständigen plausibel sind. Diese hat nachvollziehbar darauf hingewiesen, dass sich der Verschlimmerungsanteil der Harninkontinenz – und nur hierum geht es – auch mit großem zeitlichen Abstand zu den Haftereignissen verändern kann, unabhängig vom Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses. Es erscheint gut nachvollziehbar, dass sich die Harninkontinenz im Zusammenhang mit der psychischen Symptomatik, deren wellenförmiger Verlauf plausibel ist, auch verändern kann; so fällt eine Verschlimmerung beim Kläger insbesondere bei typischen posttraumatischen Symptomen wie Alpträumen und Angstzuständen, die zu einer Erhöhung des Erregungsniveaus und zu einer Stressantwort führen, auf. Dabei ist u.a. auch zu beachten, dass es vorliegend nur um einen geringeren Anteil an der Gesamtproblematik der Harninkontinenz geht, der schädigungsbedingt ist (wenngleich es sich bei dieser Gesundheitsstörung – wie sich nachvollziehbar aus dem überzeugenden Gutachten der Fachärztin C. ergibt – nicht nur um eine völlig untergeordnete Funktionsbeeinträchtigung bzw. eine geringfügige Abweichung vom „normalen“ Gesundheitszustand handelt, die gar nicht als eigenständige Behinderung aufzuführen wäre). Es erscheint bereits nach den Erfahrungen des täglichen Lebens nachvollziehbar, dass es bei der stressbedingten Harninkontinenz durchaus zu einem wechselnden Verlauf kommen kann. Dabei ist mit Blick auf die geschilderten Beschwerden und deren durchschnittliches Ausmaß gem. VG Teil A, Nr. 2 f) nicht von einer nur vorübergehenden Gesundheitsstörung auszugehen.
Der Senat kann im Übrigen die Auffassung des Beklagten und des SG nicht teilen, die Abgrenzung eines schädigungsbedingten Anteils an der Harninkontinenz sei nicht möglich und erscheine „eher spekulativ“. Denn eine solche Problematik begegnet auf dem Gebiet des sozialen Entschädigungsrechts bei zahllosen vergleichbaren Fallgestaltungen und stellt Verwaltung und Rechtsprechung zum Beispiel gerade bei allen erforderlichen Abgrenzungen hinsichtlich verschiedener Mitverursachungsbeiträge und Vorschäden vor nicht unerhebliche, jedoch auch nicht unbekannte Herausforderungen. Dass dem vom Gesetzgeber gewollten System der Kausalitätsbeurteilungen auch gewisse geringe Unschärfen innewohnen, ist dabei hinzunehmen und korreliert ferner auch mit der Problematik grundsätzlicher Unsicherheiten medizinischer Einschätzungen und Beurteilungen. So stellen medizinische Erfahrungssätze „Generalisierungen dar, die auf einer begründeten Anzahl von Beobachtungen (Erfahrungsbasis) beruhen und deren Geltungsbereich über diese Erfahrungsbasis – hinausgeht“ (Kater, Das ärztliche Gutachten im sozialgerichtlichen Verfahren, 2. Aufl. 2011, S. 49); solche Erfahrungssätze sind – abhängig von ihrer Erfahrungsbasis nur als „mehr oder minder gesichert zu bezeichnen“ (a.a.O.). Wie der Senat bereits mehrfach darauf hingewiesen hat (z.B. Urteil vom 10.04.2018 – L 15 BL 4/16), müssen sich daher auch Verwaltung und Rechtsprechung mit der Sicherheit begnügen, die die medizinische Wissenschaft bieten kann (vgl. Kater, a.a.O., S. 51, m.w.N.). Dass ausreichende Sicherheit in diesem Sinne im vorliegenden Fall bei der Bestimmung des stressbedingten Anteils an der relativen Harninkontinenz nicht erreichbar wäre, kann der Senat nicht erkennen; insbesondere wurden hinsichtlich dieser Problematik vom Beklagten (und vom SG) keine substantiierten Zweifel an den Feststellungen der Sachverständigen C. vorgetragen.
Die genannte Schädigungsfolge (VG Teil B, Nr. 12.2.4) ist somit – im Sinne der Verschlimmerung – anzuerkennen; sie geht insbesondere nicht vollständig in der psychiatrischen Schädigungsfolge auf (siehe VG Teil A, Nr. 2 e) Satz 2). Der insoweit ursprünglich unrichtige Bescheid ist daher zu korrigieren (§ 44 SGB X).
2. Gesamt-GdS
Auf der Grundlage der festgestellten Schädigungsfolgen unter Einschluss der relativen Harninkontinenz (s. 1.) kommt im Fall des Klägers jedoch keine höhere Bewertung des (medizinischen) Gesamt-GdS als mit 50 und daher auch keine höhere Versorgungsrente in Betracht. Die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen des Beklagten sind daher, wie das SG zutreffend festgestellt hat, insoweit rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten.
Nach § 30 Abs. 1 BVG richtet sich die Beurteilung des GdS nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in allen Lebensbereichen. Nach § 2 VersMedV sind auch die für die Beurteilung des Schweregrades nach § 30 Abs. 1 BVG maßgebenden Grundsätze in den VG festgelegt. Bei Berücksichtigung der dort (Teil A, Nr. 3) aufgezeigten Vorgaben ist die vom Beklagten vorgenommene und vom SG bestätigte Einschätzung des (medizinischen) GdS mit 50 nicht zu niedrig.
Bei mehreren Beeinträchtigungen eines Betroffenen wird der GdS bzw. der Grad der Behinderung (GdB) als Ergebnis einer Gesamtwürdigung der Beeinträchtigungen und ihrer Auswirkungen unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt (hierzu z.B. Goebel, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 3. Aufl. 2018, § 152 SGB IX, Rn. 41 f., m.w.N.). Dabei darf der Gesamt-GdS nicht durch eine Addition der einzelnen GdS oder anderweitige mathematische Formeln ermittelt werden (VG Teil A, Nr. 3 a), weil es sich bei diesen für die Feststellung des Gesamt-GdS lediglich um Messgrößen handelt, die der Vorbereitung der Gesamtbewertung dienen und diese nachvollziehbar und überprüfbar machen. Es ist eine Gesamtbetrachtung aller Einzelbehinderungen unter Berücksichtigung sämtlicher individueller Gegebenheiten vorzunehmen, bei der auch allgemeine Erfahrungssätze berücksichtigt werden können. Nach Feststellung der einzelnen Beeinträchtigungen und deren Bewertung mit je einem Einzel-GdS ist für die Gesamtbeurteilung in der Regel von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdS auszugehen (VG Teil A, Nr. 3 c) und unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen ein (Gesamt-) GdS zu bilden. Nach VG Teil A, Nr. 3 d ist dabei insbesondere zu prüfen, inwieweit sich die einzelnen Beeinträchtigungen verstärken, überschneiden oder unabhängig nebeneinander bestehen. Außerdem sind bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen im konkreten Fall mit denjenigen zu vergleichen, für die in der GdB/GdS-Tabelle der VG feste Grade angegeben sind.
a. Ausgangspunkt für die Bildung des Gesamt-GdS bilden vorliegend somit die mit dem höchsten Einzel-GdS von 50 bewerteten Störungen auf psychiatrischem Fachgebiet.
Beim Kläger liegt, wie die Sachverständige C. überzeugend festgestellt hat, eine PTBS inkl. der darin enthaltenen phobischen Symptomen (mit Panikattacken und Zwangssymptomen), eine chronifizierte psychosomatische Störung mit Medikamentenabhängigkeit und eine rezidivierende depressive Störung sowie eine (in geringem Umfang – Verschlimmerungsanteil) stressbedingte relative Harninkontinenz vor. Hierfür ist ein Einzel-GdS von 50 entsprechend den insoweit plausiblen Darlegungen der Sachverständigen C. nicht zu knapp bemessen. Insbesondere folgt der Senat, wie im Übrigen auch der ärztliche Dienst des Beklagten, der Sachverständigen, da eine schwere psychische Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsstörungen (VG Teil B, Nr. 3.7) gegeben ist. Der Senat macht sich auch insoweit die sachverständigen Feststellungen der Gutachterin nach eigener Prüfung zu eigen. Die Einschätzung der Sachverständigen steht in Übereinstimmung auch mit den weiteren Befundunterlagen, unter anderem mit der Stellungnahme des Psychiaters Dr. V. vom 17.10.2018.
b. Zu berücksichtigen ist weiter ein Einzel-GdS von 20 für den HNOärztlichen Bereich. Wie sich insbesondere aus dem fundierten und plausiblen Sachverständigengutachten von Prof. Dr. S. ergibt, ist hier ein Einzel-GdS von 20 durchaus zutreffend, was der Beklagte durch Dr. N. ebenfalls zu Recht angenommen hat.
Aus dem Sachverständigengutachten von Prof. Dr. S. und den zahlreichen vorliegenden HNOfachärztlichen Befunden folgt jedoch, dass es sich insoweit nur um einen „schwachen“ GdS von 20 handelt. Wie Prof. Dr. S. nämlich selbst darlegt, bestehen die Beschwerden des Klägers nur fluktuierend. Nicht auszuschließen ist zudem, wie aus dem Gutachten deutlich wird, dass der Kläger – zumindest teilweise – durch die Art, sich die Nase zu putzen, Beschwerden provoziert. Vor allem aber kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass das (ebenfalls fluktuierende) Nasenbluten nicht als schädigungsbedingt betrachtet werden kann, wie sich aus den Unterlagen ohne Weiteres ergibt. Dieses hat bereits vor der Haft bestanden (s. im Einzelnen oben). Der Senat stellt also keineswegs in Abrede, dass der Kläger an Nasenbluten leidet. Dies ergibt sich bereits aus den ausdrücklichen Feststellungen im Gutachten von Prof. Dr. S.. Die Kausalität des schädigenden Ereignisses nach den o.g. Maßgaben ist jedoch nicht hinreichend wahrscheinlich.
Der Senat folgt der Sachverständigen C. nicht, sofern diese vor allem unter Berücksichtigung der HNO-Problematik einen (medizinischen) Gesamt-GdS von 60 annimmt.
Wie das BSG ausdrücklich entschieden hat (vgl. z.B. Urteil vom 17.04.2013 – B 9 SB 69/12 B), erhöhen Einzel-GdB/GdS-Werte von 20 den Gesamt-GdB nicht aus Rechtsgründen stets um wenigstens 10 Punkte. Der GdB/GdS ist vielmehr im Rahmen der tatrichterlichen Einschätzung aufgrund einer gebotenen Gesamtbetrachtung aller Einzelbehinderungen zu ermitteln (s.o.). Es ist nicht grundsätzlich ausgeschlossen, dass leichtere Gesundheitsstörungen mit nur einem GdB/GdS von 20 bei der Bildung des Gesamt-GdB/GdS erhöhend zu berücksichtigen sein können, wenn sie sich auf eine andere Beeinträchtigung besonders nachhaltig, verstärkend auswirken und so zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung führen (vgl. z.B. Goebel, a.a.O., m.w.N.). Grundsätzlich ist im Einzelfall kritisch zu prüfen, ob die Einzel-GdB/GdS tatsächlich ausgefüllt sind und welche gegenseitige Beeinflussung vorliegt.
Ein solcher besonderer Fall, der zu einer Erhöhung führen würde, ist vorliegend aber gerade nicht gegeben. Insoweit sind die Darlegungen der Sachverständigen C. nicht schlüssig. Dies folgt nicht bereits daraus, dass die Sachverständige hier fachfremd argumentieren würde (ob einem Gutachter die Fähigkeit zur Beurteilung spezifischer Krankheiten fehlt, kann nicht schon allein damit begründet werden, dass er die entsprechende Facharztbezeichung nicht führt, vgl. den Beschluss des Senats vom 08.08.2011 – L 15 SB 107/11 B PKH), wovon der Beklagte ausgeht, sondern daraus, dass nicht beachtet worden ist, dass, auch wenn der Kläger durch die HNO-Problematik insgesamt durchaus erheblich beeinträchtigt ist, aus den o.g. Gründen nur ein „schwacher“ GdS von 20 gegeben ist, dieser also gerade nicht ausgefüllt ist, und dass Überschneidungen mit den Schädigungsfolgen auf psychiatrischem Fachgebiet vorliegen.
c. Durch den schädigungsbedingten Verschlimmerungsanteil der Harninkontinenz ergibt sich keine Erhöhung des (medizinischen) Gesamt-GdS auf 60.
Dies folgt aus dem Gutachten der Sachverständigen C.. Die Sachverständige hat zwar einen Verschlimmerungsanteil der stressbedingten Harninkontinenz anerkannt, ist jedoch nicht ausdrücklich zu einem höheren GdS (als 50) auf dem psychiatrischen Bereich gekommen und hat die Erhöhung des Gesamt-GdS letztlich alleine mit der stärkeren Berücksichtigung des Einzel-GdS (von 20) auf HNOärztlichem Gebiet begründet.
Vorliegend ist – bei großzügiger Sicht der Dinge – insgesamt, also auch unter Berücksichtigung des nicht schädigungsbedingten, „organisch bedingten“ Anteils, für den maßgeblichen Zeitpunkt allenfalls eine relative Harninkontinenz des Grades II gegeben (vgl. VG Teil B, Ziffer 12.2.4), da ein Einnässen tagsüber nach dem Vortrag des Klägers im Wesentlichen erst ab 2012 aufgetreten ist. Da aber nur der geringere Verschlimmerungsanteil zugrunde zu legen ist, ist aus Sicht des Senats wie oben dargestellt (1.) zwar gerade noch vertretbar, dass ein knapper GdS von 10 erreicht wird. Dieser kann jedoch in keinem Fall erhöhend wirken. Selbst ein Einzel-GdS von 20 für die relative Harninkontinenz, der nicht in Betracht kommt, wäre bereits wegen der Überschneidung der Beeinträchtigung mit dem psychiatrischen Bereich nicht geeignet, eine Erhöhung des Gesamt-GdS zu bewirken. Vor allem ist hier zu beachten, dass das Rückzugsverhalten, sofern es überhaupt auf der Problematik des Einnässens beruht, jedenfalls wesentlich auf die nicht schädigungsbedingte, weil deutlich überwiegende Harninkontinenz zurückzuführen ist.
Schließlich ist die (zusätzliche, d.h. im zeitlichen Verlauf geschilderte) Verschlimmerung der Harninkontinenz, die von der Sachverständigen für die Zeit ab 2012 festgestellt worden ist, nicht zu berücksichtigen. Soweit der Senat oben (s. 1.) von einer Verschlimmerung der Harninkontinenz ausgeht, bezieht sich dies – wie bereits deutlich gemacht – nicht auf den zeitlichen Verlauf, sondern auf die Verstärkung der grundsätzlich organisch bedingten Problematik (s. VG Teil C, Nr. 7). Vorliegend geht es nämlich um eine Korrektur der o.g. Bescheide im Wege von § 44 SGB X. Die Verschlimmerung ab 2012 hätte sich jedoch erst im Nachhinein, sofern sie überhaupt nachgewiesen wäre – was offenbleiben kann -, eingestellt. Die genannten Verwaltungsentscheidungen waren also zunächst jedenfalls insoweit nicht unzutreffend; vielmehr könnte ein Fall von § 48 SGB X gegeben sein. Dementsprechend ist wie erwähnt auch ein Neufeststellungsantrag des Klägers anhängig, der derzeit ruht.
Eine Erhöhung des GdS kommt somit nicht in Betracht.
Für weitere Ermittlungen (§ 106 SGG) bestand keine Veranlassung und erst recht keine verfahrensrechtliche Pflicht. Insbesondere war kein urologisches Sachverständigengutachten einzuholen. Dies hat die Klägerseite selbst als nicht zweckmäßig bezeichnet (s.o.). Zudem ist es aus Sicht des Senats nicht machbar (vgl. oben), einen konkreten GdS-Wert bezüglich der Verschlimmerung der Harninkontinenz mit größerer Sicherheit darzustellen („herauszurechnen“) als bereits erfolgt. Es ist in keiner Weise erkennbar, dass ein urologischer Sachverständiger hierzu geeignetere Instrumente haben könnte. Schließlich handelt es sich bei der Problematik des psychiatrisch bedingten Verschlimmerungsanteils eben gerade um eine im Wesentlichen psychiatrische und nicht um eine urologische; hierzu hat denn auch die Sachverständige C. Stellung genommen.
Der erstmals am 28.01.2019 gestellte Antrag gemäß § 109 SGG wurde zu spät eingebracht und ist daher zurückzuweisen.
Gemäß § 109 Abs. 1 SGG ist im sozialgerichtlichen Verfahren auf Antrag des Klägers ein bestimmter Arzt gutachtlich zu hören. Die Anhörung kann von der Einzahlung eines Kostenvorschusses abhängig gemacht werden (§ 109 Abs. 1 Satz 2 SGG). Abgelehnt werden kann die Anhörung gem. § 109 Abs. 2 SGG, wenn der Antrag entweder in Verschleppungsabsicht oder aus grober Nachlässigkeit zu spät vorgebracht worden ist und sich bei einer Zulassung des Beweisantrags die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde. Die Voraussetzungen sind regelmäßig dann gegeben, wenn der Kläger den Antrag auf gutachtliche Anhörung eines bestimmten Arztes nach § 109 SGG nicht in angemessener Frist stellt, obwohl er erkennt oder erkennen muss, dass die von Amts wegen durchzuführende Beweisaufnahme beendet ist (vgl. bereits BSG vom 24.03.1961 – 10 RV 303/5).
So liegt es hier. Im Erörterungstermin am 15.01.2019 hat der Berichterstatter des Senats darauf hingewiesen und sind die Beteiligten davon ausgegangen, dass die Beweisaufnahme von Amts wegen abgeschlossen war und dass auch ein Gutachten nach § 109 SGG nicht mehr im Raum stand. Demzufolge haben die Beteiligten auch ihr Einverständnis mit einer schriftlichen Entscheidung des Berufungsverfahrens gem. § 124 Abs. 2 SGG erteilt. Die Klägerseite hätte mit der Antragstellung keinesfalls noch bis 28.01.2019 warten dürfen.
Auch durch den Hinweis des Gerichts vom 21.01.2019 ergibt sich keine andere Bewertung. Denn dieser hat inhaltlich keine neue Situation geschaffen, sondern – ohne rechtlich zwingend geboten zu sein – lediglich zwei im Verfahren bereits bekannte Einzelaspekte hervorgehoben. Der Antrag vom 28.01.2019 hat sich aber, anders als die ausdrückliche Erklärung der Klägerseite vermuten lässt, gerade nicht auf diese Aspekte bezogen. Dies wird daran deutlich, dass die Einholung des Gutachtens durch eine für die Kausalitätsfrage des Nasenblutens (als besondere fachspezifische Problematik) nicht kompetente psychiatrische Sachverständige beantragt worden ist und dass die Bevollmächtigte der Einschätzung des Gerichts zur § 44 SGB X-Problematik ausdrücklich gefolgt ist. Mit dem Antrag gem. § 109 SGG ist es der Klägerseite vielmehr darum gegangen, die tatsächlichen Prüfungen und die rechtliche Diskussion zur Bewertung der psychiatrischen Gesundheitsstörungen wieder zu eröffnen, die aber spätestens am 15.01.2019 längst abgeschlossen waren.
Da die Zulassung des Antrags einer Entscheidung am 12.02.2019 entgegengestanden wäre und daher das Verfahren (um Monate) verzögert hätte, war der Antrag zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).


Ähnliche Artikel

BAföG – das Bundesausbildungsförderungsgesetz einfach erklärt

Das Bundesausbildungsförderungsgesetz, kurz BAföG, sorgt seit über 50 Jahren für finanzielle Entlastung bei Studium und Ausbildung. Der folgende Artikel erläutert, wer Anspruch auf diese wichtige Förderung hat, wovon ihre Höhe abhängt und welche Besonderheiten es bei Studium und Ausbildung gibt.
Mehr lesen

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben