Sozialrecht

Leistungen, Einkommen, Bewilligung, Krankengeld, Anordnungsgrund, Nachzahlung, Bescheid, Grundsicherung, Antragstellung, Anordnungsanspruch, Leistungsanspruch, Zahlung, Widerspruch, Antragsteller, Sicherung des Lebensunterhalts, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, Sicherung des Lebensunterhaltes

Aktenzeichen  S 11 AS 528/21 ER

Datum:
17.1.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 4791
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Landshut
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit vom 30.12.2021 bis 30.04.2022 (für Dezember 2021 anteilig) dem Grunde nach Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) ohne Berücksichtigung von Einkommen zu gewähren. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
II. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

I.
Zwischen den Beteiligten die Anrechnung von Krankengeld auf Leistungen nach dem SGB II umstritten.
Der 1982 geborene Antragsteller wohnt mietfrei im Haus der Mutter. Er beantragte am 25.10.2021 beim Antragsgegner Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II.
Für die Zeit vom 01.05.2021 bis 08.10.2021 bezog der Antragsteller Krankengeld. Der Tagessatz betrug 59,30 EUR. Am 06.10.2021 flossen dem Antragsteller Krankengeld in Höhe von 2253,40 EUR für die den Zeitraum vom 24.08.2021 bis zum 01.10.2021 sowie am 11.10.2021 das letzte Krankengeld für die Zeit vom 02.10.2021 bis 08.10.2021 zu.
Mit Bescheid vom 24.11.2021 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes für die Zeit vom 01.10.2021 bis 30.09.2022, wobei er im Oktober 2021 Krankengeld in Höhe von 474,70 EUR anrechnete. Die Zahlung vom 06.10.2021 in Höhe von 2.253,40 EUR teilte der Antragsgegner nach Abzug eines Tagessatzes in Höhe von 59,30 EUR auf sechs Monate auf (= 365,68 EUR/Monat, bereinigt 293,61 EUR/Monat) und rechnete diesen Betrag mtl. für den Zeitraum November 2021 bis April 2022 an. Folglich wurden für die Monate November 2021 bis April 2022 Leistungen in Höhe von mtl. 152,39 EUR pro Monat gewährt.
Mit Änderungsbescheid vom 27.11.2021 wurde für die Zeit ab Januar 2022 der Regelbedarf angepasst. Dem Antragsteller wurden dadurch (unter anderem) für den Zeitraum Januar bis April 2022 Leistungen in Höhe von mtl. 155,39 EUR gewährt.
Gegen die Bescheide vom 24.11.2021 und 27.11.2021 ließ der Antragsteller durch seine Prozessbevollmächtigte mit Schreiben vom 22.12.2021 Widerspruch erheben. Die Zahlung des Krankengeldes vom 06.10.2021 sei kein Einkommen, sondern stelle Vermögen dar. Zudem sei allenfalls die Nachzahlung betreffend den Monat August als einmalige Einnahme im Sinne des § 11 Abs. 3 SGB II zu werten und auf sechs Monate zu verteilen.
Mit Schreiben vom 30.12.2021, das am selben Tag bei Gericht einging, hat sich der Antragsteller, vertreten durch seine Prozessbevollmächtigte, an das Sozialgericht Landshut gewandt. Die Zahlung vom 06.10.2021 sei bereits verbraucht. Durch die laufende Minderung seines Auszahlungsanspruchs drohten dem Antragsteller existenzielle Nachteile, welche er aus eigener Kraft nicht abwenden könne. Er könne sein Existenzminimum nicht anderweitig bestreiten. Die Zahlung vom 06.10.2021 stelle Vermögen, nicht Einkommen dar und sei daher nicht auf die laufenden Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II anzurechnen. Ob etwas als Vermögen oder Einkommen zu werten sei, beurteile sich danach, was bereits bei Antragstellung an wirtschaftlichem Wert vorhanden war und was erst nach Antragstellung zufließt. Die Antragstellung sei vorliegend am 25.10.2021 erfolgt, sodass die Zahlung am 06.10.2021 als Vermögen zu werten ist. Zudem sei zu berücksichtigen, dass der Anspruch des Antragstellers auf Auszahlung des Krankengeldes bereits vor dem 01.10.2021 bestanden habe und damit diese Forderung des Antragstellers seinem Vermögen zuzurechnen wäre. Allenfalls handele es sich bei Krankengeld um laufendes Einkommen im Sinne des § 11 Abs. 2 SGB II, welches nach § 11 Abs. 2 Satz 1 SGB II im Monat des Zuflusses in voller Höhe zu berücksichtigen ist. Nachzahlungen im Sinne des § 11 Abs. 3 Satz 2 SGB II seien grundsätzlich Einnahmen, die nicht zum Zeitpunkt der Fälligkeit, sondern zu einem späteren Zeitpunkt gezahlt werden. Der Anspruch auf Krankengeld entstünden nach § 46 Abs. Satz 1 Nr. 2 SGB V – abgesehen von Krankenhaus- oder stationären Rehabilitationsbehandlungen – am Tag nach der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit. Weil Krankengeld gemäß § 47 Abs. 1 Satz 6 SGB V für Kalendertage zu zahlen ist und Sozialleistungen gemäß § 41 SGB I bei Fehlen abweichender Sonderregelungen mit ihrem Entstehen fällig werden, würden Krankengeldansprüche nach festgestellter Arbeitsunfähigkeit mit jedem Tag der Arbeitsunfähigkeit für diesen fällig. Tatsächlich werde das Krankengeld von den Krankenkassen aus Gründen der Praktikabilität aber nicht tageweise, sondern für größere Zeiträume, meistens rückwirkend, teils auch als Vorausleistung gezahlt. Ferner könne eine Auszahlung des Krankengeldes nach § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V nur erfolgen, wenn der Versicherte die vom Arzt ausgefüllte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bei seiner Krankenkasse vorlege. Daher komme es in der Realität zu einem Auseinanderfallen der gesetzgeberischen Konstellation der tageweisen Krankengeldgewährung und der tatsächlichen Verhältnisse mit der Zahlung von Krankengeld jeweils für Abschnitte von mehreren Wochen, so dass für den Begriff der Nachzahlung im Sinne des § 11 Abs. 3 Satz 2 SGB II im Fall des Krankengeldes nicht auf den Zeitpunkt der Fälligkeit im Sinne des § 41 SGB I abgestellt werden könne. Bis auf die Leistungen des Antragsgegners in Höhe von 152,39 EUR bzw. 155,39 EUR verfüge er über keinerlei finanzielle Mittel und sei somit auf die ungekürzten Leistungen nach dem SGB II zur Existenzsicherung angewiesen. Rücklagen finanzieller Art bestünden nicht.
Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
den Antragsgegner im Wege der einzelnen Anordnung vorläufig zu verpflichten, dem Antragsteller bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II in Höhe des vollen Regelbedarfs ohne die Anrechnung von Krankengeld zu gewähren.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Die Krankengeldnachzahlung sei rechtmäßig angerechnet worden.
Das Bundessozialgericht vertrete bei der Abgrenzung von Vermögen und Einkommen die sog. Zuflusstheorie, danach sei alles, was vor der Antragstellung zufließt Vermögen und alles was später oder während des Leistungszeitraumes zufließe, Einkommen.
Maßgeblich sei dafür nicht der Tag der Antragstellung, sondern nach § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB II der erste des jeweiligen Monats. Wenn einem Antrag auf Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II Rückwirkung zukomme, sei für die Abgrenzung zwischen Einkommen und Vermögen nicht der Zeitpunkt der Antragstellung, sondern der Beginn des Leistungszeitraums maßgeblich. Deshalb seien Zuflüsse von Geld oder Geldeswert, die zwar vor Antragstellung, aber innerhalb des von der gesetzlichen Rückwirkung des Antrags erfolgten Zeitraums erfolgen, als Einkommen i.S.v. § 11 SGB II und nicht als Vermögen i.S.v. § 12 SGB II zu beurteilen. Dem stehe auch nicht gegenüber, dass der Anspruch auf Auszahlung des Krankengeldes bereits vor dem 01. Oktober 2021 bestanden habe. Vielmehr sei nach § 11 SGB II im Falle der Erfüllung einer (Geld-)Forderung grundsätzlich nicht das Schicksal der Forderung von Bedeutung, sondern das Gesetz stelle insofern allein auf die Erzielung von Einnahmen in Geld oder Geldeswert als Einkommen (Zufluss) ab. Bei der Krankengeldzahlung in Höhe von 2.194,10 EUR (2.253,40 EUR – 59,30 EUR) handele es sich um eine einmalige Einnahme i.S.d. § 11 Abs. 3 Satz 1 SGB II, die nach den Regeln des § 11 Abs. 3 Satz 4 SGB II auf sechs Monate aufzuteilen sei. Der Gesetzgeber habe sich mit dem 9. SGB II Änderungsgesetz bewusst gegen die Bewertung des Krankengeldes als laufende Einnahme entschieden. Wie bereits vom Antragsteller festgestellt, würden Krankengeldansprüche mit jedem Tag der Arbeitsunfähigkeit mit diesen fällig. Danach handele es sich regelmäßig um eine Nachzahlung nach § 11 Abs. 3 Satz 2 SGB II.
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts wegen der Einzelheiten auf die Akte des Antragsgegners und die Akte des Sozialgerichts verwiesen.
II.
Der zulässige Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist überwiegend begründet.
Gegenstand des Rechtsstreits ist die vorläufige Gewährung von Leistungen nach dem SGB II ohne Berücksichtigung des Krankengeldes ab dem Folgemonat des Zuflusses.
Der Antragsteller strebt eine Erweiterung seiner Rechtspositionen an; daher ist eine einstweilige Anordnung in Form einer Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft. Einstweilige Anordnungen nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG sind zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Eine solche Anordnung setzt sowohl einen Anordnungsanspruch (das materielle Recht, für das einstweiliger Rechtsschutz geltend gemacht wird) als auch einen Anordnungsgrund (Eilbedürftigkeit im Sinne der Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung, weil ein Abwarten auf eine Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht zumutbar ist) voraus. Sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund müssen glaubhaft sein (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2, § 294 Zivilprozessordnung (ZPO)).
Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage im vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vorgegebenen Umfang (BVerfG vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05) das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu.
Soweit existenzsichernde Leistungen infrage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall ist ggf. auch anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Antragstellers zu entscheiden (BVerfG vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05; BVerfG vom 15.01.2007, 1 BvR 2971/06). Eine Orientierung an den Erfolgsaussichten ist nur möglich, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist, denn soweit schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht beseitigt werden können, darf die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern sie muss abschließend geprüft werden (BVerfG vom 12.05.2005, aaO).
Nach der hier möglichen summarischen Prüfung des Anspruchs des Antragstellers kann mit hinreichender Wahrscheinlichkeit gesagt werden, dass er einen höheren Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II hat.
Hilfebedürftig ist nach § 7 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 9 Abs. 1 SGB II, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem nicht durch Aufnahme einer zumutbaren Arbeit oder aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen erhält.
Es ist nicht zu erkennen, dass der Antragsteller weiteres Einkommen oder eine Rücklage hätte.
Die Zahlung vom 06.10.2021 in Höhe von 2.253,40 EUR ist zumindest zu einem Anteil von mehreren Wochen als laufendes Einkommen anzusehen.
Die Kammer schließt sich aus derzeitiger Sicht der Rechtsprechung des SG Frankfurts (Oder), Urteil vom 27. November 2019 – S 39 AS 1759/18 – insoweit an, dass im Rahmen des Krankengelds Zahlungen zumindest für die letzten Wochen nicht als Nachzahlungen zu bewerten sind. Die nachträgliche Bewilligung für die letzten Wochen ist im Rahmen des Krankengeldes verfahrenstypisch. Zum typischen Verfahrensablauf im Rahmen des Krankengeldes verweis die Kammer auf die zutreffenden Ausführungen des Antragstellers zur Bewilligung von Krankengeld. Zumindest soweit die Zahlung die letzten Wochen vor dem Zufluss betrifft, geschah dies im typischen Verfahrensablauf im Rahmen der Krankengeldgewährung. Dieser Anteil der Zahlung stellt eine laufende Leistung dar.
Hier bedeutet dies, dass auf den Bedarf des Antragstellers durch den Zufluss am 11.10.2021 iHv 415,10 EUR und zumindest der gleiche Betrag aus der Zahlung vom 06.10.2021 als laufendes Einkommen anzurechnen ist.
Soweit Teile der 2.253,40 EUR als Nachzahlung anzusehen sind, sind sie dennoch nur im Zuflussmonat anzurechnen. Eine Verteilung des Einkommens auf sechs Monate gemäß § 11 Abs. 3 S. 4 SGB II scheidet bereits deswegen aus, weil der Leistungsanspruch nicht durch die Berücksichtigung der Einmalzahlung entfällt. Bereits unter Berücksichtigung der bereinigten laufenden Einnahmen iHv zumindest 830,20 EUR scheidet eine Hilfebedürftigkeit des Antragstellers im Oktober 2021 aus. Das Einkommen übersteigt den Bedarf des Antragstellers im Oktober deutlich. Der Leistungsanspruch entfällt daher nicht durch die einmalige Einnahme (vgl. Dietrich Hengelhaupt in: Hauck/Noftz SGB II, 11. Ergänzungslieferung 2021, § 11 zu berücksichtigendes Einkommen, Rn. 467). Nachdem der Bedarf des Antragstellers durch laufendes Einkommen deutlich überschritten wird, kann dahinstehen, wie hoch der Anteil der Nachzahlung ist.
Auch der Sinn des § 11 Abs. 3 S. 4 SGB II gebietet keine Verteilung der einmaligen Einnahme. Schließlich dient die Verteilung einer einmaligen Einnahme, die den Leistungsanspruch wenigstens für einen Monat entfallen lassen würden, der Vermeidung praktischer und sozialversicherungsrechtlicher Probleme für die Leistungsberechtigten, die mit dem kurzzeitigen Wegfall des Leistungsanspruchs verbunden wären (SG Landshut, Urteil vom 27. Juli 2017 – S 11 AS 170/16 -, Rn. 50 – 53). Dieser Zweck kann nicht erreicht werden, wenn der Anspruch ohnedies bereits durch laufendes Einkommen entfällt.
Da es sich bei den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende um Leistungen zur Existenzsicherung handelt, ist der Antragsgegner vorläufig zu verpflichten, dem Antragsteller höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu gewähren. Den Antragstellern ist nunmehr kein längeres Zuwarten zumutbar.
Bei Nichtgewährung von einstweiligem Rechtsschutz im tenorierten Umfang droht dem Antragsteller eine Beeinträchtigung seines grundrechtlich geschützten Existenzminimums, das nachträglich nicht mehr ausgeglichen werden kann.
Ergeht eine Anordnung und die Hauptsache hat keinen Erfolg, laufen Antragsteller Gefahr, dem Antragsgegner die vorläufige Leistung ganz oder teilweise zurückzahlen zu müssen. Diese Folge ist gegenüber den für Antragsteller drohenden Nachteilen geringer zu achten. Die Gesamtabwägung ergibt, dass die ohne Eilrechtsschutz drohenden Rechtsverletzungen und sonstigen für die Antragsteller sprechenden Belange die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes dem Grunde nach gebieten.
Der Antragsgegner war daher vorläufig zu verpflichten, dem Antragsteller für die Zeit ab Antragstellung im einstweiligen Rechtsschutz bis April 2022 höhere Leistungen zu gewähren.
Dauer und Höhe der zuzusprechenden Leistungen liegen gemäß § 86b Abs. 1 Satz 4 SGG i.V.m. § 938 Abs. 1 ZPO im Ermessen des Gerichts.
Das Gericht spricht vorläufige Leistungen dem Grunde nach zu, weil auch in der Hauptsache ein Grundurteil möglich wäre. Gemäß § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG kann, wenn eine Leistung in Geld begehrt wird, auf die ein Rechtsanspruch besteht (§ 54 Abs. 4 SGG), auch zur Leistung dem Grunde nach verurteilt werden, wenn feststeht, dass ein Anspruch auf eine Geldleistung vorhanden oder zumindest wahrscheinlich ist (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 16.10.2007, B 8/9b SO 2/06 R; Urteil vom 21.12.2009, B 14 AS 61/08 R). Von diesem eingeräumten Ermessen macht die Kammer in entsprechender Anwendung vorliegend Gebrauch, weil ein Anspruch auf eine Geldleistung – Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts – vorhanden ist, die übrigen Anspruchsvoraussetzungen zwischen den Beteiligten grundsätzlich unstrittig sind. Der Antragsgegner ist somit in der Lage, den jeweils personenbezogenen aktuellen Bedarf zu prüfen.
Soweit der Antragsteller sinngemäß Grundsicherungsleistungen auch für die Zeit vor Antragstellung bei Gericht im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes begehrt, ist der Eilantrag unbegründet. Es fehlt insoweit ein Anordnungsgrund im Sinne einer Eilbedürftigkeit. Der Antragsteller begehrt Leistungen für die Zeit vor Stellung des Eilantrags am 30.12.2021, damit Leistungen für die Vergangenheit. Einstweiliger Rechtsschutz dient dem Ziel, gegenwärtige oder unmittelbar bevorstehende Notlagen zu beheben bzw. zu verhindern. Einstweiliger Rechtsschutz ermöglicht es nach ständiger Rechtsprechung dagegen grundsätzlich nicht, Leistungen für die Vergangenheit zu erhalten (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 14. November 2016 – L 7 AS 683/16 B ER -). Es ist den Antragsteller zuzumuten, für diesen Zeitraum den Ausgang des Widerspruchs- und Klageverfahrens in der Hauptsache abzuwarten. Insoweit bleibt der Antrag erfolglos und war abzulehnen.
Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die im einstweiligen Rechtsschutz erlangten Leistungen nur vorläufig zugesprochen sind. Wenn im nachfolgenden Hauptsacheverfahren festgestellt wird, dass der Leistungsanspruch doch nicht besteht, dann sind die im einstweiligen Rechtsschutz erlangten Leistungen zu erstatten.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. Sie berücksichtigt, dass der Antragsteller überwiegend obsiegt. Zudem wird in der Kostenentscheidung auch berücksichtigt, dass der Antragsteller in jedem Fall einen Anspruch auf ein Darlehen wegen des Verbrauchs der vermeintlichen Nachzahlung hat (vgl. § 24 Abs. 4 Satz 2 SGB II). Es ist nicht ersichtlich, dass Rücklagen bestünden. Das Ermessen wäre daher auf Null reduziert.


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