Sozialrecht

Leistungsversagung nach § 60 SGB I Versagung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II Rechtsschutzbedürfnis bei rückwirkender Feststellung der Erwerbsfähigkeit Versagung auf Dauer

Aktenzeichen  L 7 AS 460/21

Datum:
19.5.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 11866
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB I § 66 Abs. 1;
SGB II § 44 a Abs. 1 S. 7
SGB II § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2

 

Leitsatz

1. Die rückwirkende Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung durch den Rentenversicherungsträger lässt das Rechtsschutzbedürfnis für eine Anfechtungsklage gegen die Versagung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zumindest hinsichtlich der Versagung von Leistungen bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Rentenversicherungsträgers im Hinblick auf § 44a Abs. 1 S. 2 SGB II idF vom 26.7.2016 unberührt.
2. Die Versagung von Leistungen auf Dauer ist nicht von § 66 Abs. 1 S. 1 SGB I gedeckt (vgl bereits BSG, Urteil vom 5.4.2000 B 5 RJ 38/99 R) und als Ermessensüberschreitung im Rahmen der gerichtlichen Rechtskontrolle zu beanstanden.

Verfahrensgang

S 5 AS 543/19 2021-09-16 Urt SGLANDSHUT SG Landshut

Tenor

I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 16. September 2021 abgeändert und der Bescheid vom 22. Mai 2019 idG des Widerspruchsbescheides vom 18. Juli 2019 aufgehoben.
II. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in der ersten Instanz zur Hälfte und in der Berufungsinstanz ganz.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die zulässige Berufung ist begründet.
1. Streitig ist – aufgrund der Begrenzung des Antrags in der mündlichen Verhandlung – das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 16.9.2021, soweit dort die Klage gegen den Versagungsbescheid vom 22.5.2019 idG des Widerspruchsbescheides vom 18.7.2019 abgewiesen worden ist.
2. Die Berufung ist begründet, da der Versagungsbescheid vom 22.5.2019 idG des Widerspruchsbescheides vom 18.7.2019 rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt. Auf die Berufung des Klägers sind deshalb das Urteil des Sozialgerichts abzuändern und die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen aufzuheben.
a) Die gegen den Bescheid vom 22.5.2019 idG des Widerspruchsbescheides vom 18.7.2019 gerichtete Klage ist als reine Anfechtungsklage statthaft und form- und fristgerecht erhoben worden. Die Klage verfügt auch über das nötige Rechtsschutzbedürfnis, da dem Kläger im streitigen Zeitraum ausschließlich Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zustehen (können).
In dem vom Kläger zuletzt noch streitig gestellten Zeitraum ist (zumindest) nach § 44a Abs. 1 S. 7 SGB II in der Fassung vom 26.7.2016 von dessen Erwerbsfähigkeit auszugehen. Danach erbringen bis zu der Entscheidung über den Widerspruch gegen die Feststellung der Agentur für Arbeit über die Erwerbsfähigkeit des Leistungsberechtigten die Agentur für Arbeit und der kommunale Träger bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende. § 44a Abs. 1 S. 7 SGB II enthält insoweit nicht nur die Anordnung einer vorläufigen Leistung, sondern eine Nahtlosigkeitsregelung nach dem Vorbild des § 125 SGB III (vgl noch zu § 44a Abs. 1 S. 3 SGB II idF des Gesetzes zur Änderung des Betriebsrentengesetzes und anderer Gesetze vom 2.12.2006 BSG, Urteil vom 1.7.2009 – B 4 AS 78/08 R -, Rn 49 bezugnehmend auf BSG, Urteil vom 7.11.2006 – B 7b AS 10/06 R -, 20 ff). Der Leistungsberechtigte ist auf diese Weise nicht nur bei einem bestehenden Streit zwischen den Leistungsträgern bis zu einer Entscheidung über den Widerspruch nach § 44a Abs. 1 S. 2 SGB II, sondern bereits im Vorfeld so zu stellen, als wäre er erwerbsfähig. Nach Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung darf der Beklagte fehlende Erwerbsfähigkeit nicht annehmen, ohne den zuständigen Sozialhilfeträger eingeschaltet zu haben (vgl BSG, aaO). Dies ist hier (zunächst) nicht der Fall gewesen. Ist der Beklagte vorliegend aber zunächst ohne weiteres von der Erwerbsfähigkeit des Klägers ausgegangen (vgl hierzu Blüggel in Eicher/Luik/Harich, SGB II, 5. Aufl 2021, § 44a Rn 69), ist er zu Leistungen nach dem SGB II auch dann verpflichtet, wenn sich nachträglich – wie hier – herausstellen sollte, dass der Leistungsberechtigte nicht erwerbsfähig ist bzw war.
Es kann vorliegend dahinstehen, ob etwas anderes gelten muss, wenn der Grundsicherungsträger rückwirkend Leistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII anerkannt bzw gewährt hätte. Denn dies ist vorliegend nicht der Fall, nachdem der Beigeladene Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung für den streitigen Zeitraum – im Hinblick auf die auch von diesem im Ergebnis angezweifelte Hilfebedürftigkeit, die aber Leistungsvoraussetzung nach § 41 Abs. 1 SGB XII ist – bei objektiver Betrachtung gerade nicht (auch nicht „dem Grunde nach“) anerkannt und nach aktuellem Sachstand auch nicht erbracht hat.
Es kann weiter dahinstehen, ob der Entscheidung der Rentenversicherung im Bescheid vom 6.3.2020 letztlich die Bedeutung zukommt, die ihr die Leistungsträger vorliegend für die Zeit ab 6.3.2020 wohl übereinstimmend beimessen wollen (vgl hierzu Blüggel in Eicher/Luik/Harich, SGB II, 5. Aufl 2021, § 44a Rn 55), da es hierauf aufgrund der Streitgegenstandsbegrenzung durch den Kläger bereits vor dem Sozialgericht nicht ankommt.
Ist für den zuletzt vom Kläger noch streitig gestellten Zeitraum hinsichtlich der Erwerbsfähigkeit eine Leistungsberechtigung nach dem SGB II anzunehmen, besteht (weiterhin) ein berechtigtes Interesse des Klägers an der gerichtlichen Überprüfung des streitigen Versagungsbescheides.
b) Die Anfechtungsklage ist auch begründet.
aa) Der Leistungsträger kann ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen, soweit die Voraussetzungen der Leistung nicht nachgewiesen sind, wenn der, der eine Sozialleistung beantragt, seinen Mitwirkungspflichten nach §§ 60 bis 62, 65 nicht nachkommt und hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert wird (§ 66 Abs. 1 SGB I). Sozialleistungen dürfen wegen fehlender Mitwirkung nur versagt und entzogen werden, nachdem der Leistungsberechtigte auf diese Folgen schriftlich hingewiesen worden ist und seiner Mitwirkungspflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten angemessenen Frist nachgekommen ist (§ 66 Abs. 3 SGB I).
bb) Diese Voraussetzungen sind vorliegend hinsichtlich des Bescheides vom 22.5.2019 idG des Widerspruchsbescheides vom 18.7.2019 nicht erfüllt.
Dabei kann dahinstehen, ob der Kläger seinen Mitwirkungspflichten nachgekommen ist oder ob ein Versagensbescheid darauf gestützt werden kann, dass Angaben einander widersprechen bzw das sich aus den vorliegenden Unterlagen ergebende Bild undurchsichtig bzw nicht nachvollziehbar ist. Es kann auch dahinstehen, ob die Schreiben vom 3.4. und/oder vom 2.5.2019 die an eine Belehrung nach § 66 Abs. 3 SGB I zu stellenden Anforderungen (vgl BSG, Urteil vom 12.10.2018 – B 9 SB 1/17 R -, Rn 27 mwN; Urteil des Senats vom 11.4.2019 – L 7 AS 582/16 -, Rn 59 ff zitiert nach juris) erfüllen.
Die streitige Entscheidung ist rechtswidrig, da der Beklagte mit der unbefristeten vollumfänglichen Versagung das ihm gesetzlich eingeräumte Ermessen überschritten hat.
Nach § 66 Abs. 1 S. 1 SGB I kann die Leistung nur bis zur Nachholung der Mitwirkung versagt werden. Ein solcher Endzeitpunkt ist im angefochtenen Bescheid, auch in der Fassung, die er durch den Widerspruchsbescheid erhalten hat, weder im Tenor noch in den Gründen benannt worden. Die damit angeordnete Versagung „auf Dauer“ ist von § 66 Abs. 1 S. 1 SGB I nicht gedeckt (vgl bereits BSG, Urteil vom 5.4.2000 – B 5 RJ 38/99 R -, Rn 23 zitiert nach juris) und als Ermessensüberschreitung (vgl Keller in Meyer-Ladewig ua, SGG, 13. Aufl 2020, § 54 Rn 27) im Rahmen der gerichtlichen Rechtskontrolle zu beanstanden (vgl Keller, aaO, Rn 28). Die Versagensentscheidung ist insgesamt rechtswidrig und auf die Anfechtungsklage des Klägers aufzuheben.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass der Kläger mit seiner Leistungsklage, die er im Berufungsverfahren nicht mehr weiterverfolgt hat, vor dem Sozialgericht zu Recht unterlegen ist. Eine Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen war im Hinblick auf § 193 Abs. 4 SGG entbehrlich. Gründe für eine Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.


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