Sozialrecht

Minderung der Leistungsvermögens bestimmt die Minderung der Erwerbsfähigkeit

Aktenzeichen  L 19 R 114/16

Datum:
15.11.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 144354
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VI § 11 Abs. 1 Nr. 1

 

Leitsatz

Die Minderung der Erwerbsfähigkeit im Sinne von § 10 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI bestimmt sich nach der Minderung des Leistungsvermögens des Versicherten in seiner nicht nur kurzfristig ausgeübten letzten Tätigkeit. (Rn. 25)

Verfahrensgang

S 12 R 1358/13 2016-01-05 GeB SGNUERNBERG SG Nürnberg

Tenor

I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Nürnberg vom 05.01.2016 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG) ist zulässig, aber nicht begründet. Der Kläger hat weder einen Anspruch auf Gewährung der beantragten Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben, noch darauf, dass die Beklagte über seinen diesbezüglichen Antrag erneut entscheidet.
§ 9 Abs. 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) legt fest, dass es sich bei Leistungen zur Teilhabe, die als Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sowie ergänzende Leistungen erbracht werden, um sog. Ermessensleistungen handelt („können erbracht werden“). Voraussetzung für die Eröffnung des Ermessens ist die Erfüllung der persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen. Als zusätzlicher Maßstab wird in dieser Vorschrift die Zielrichtung von Teilhabeleistungen festgelegt: Sie sollen den Auswirkungen einer Krankheit oder einen körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit entgegenwirken oder sie überwinden und zugleich dadurch Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit oder ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben verhindern oder Versicherte möglichst dauerhaft in das Erwerbsleben wiedereingliedern.
Der Kläger ist Versicherter; er hat auch die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nach § 11 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI d.h. für Teilhabeleistungen erfüllt.
Nach § 10 Abs. 1 SGB VI haben Versicherte die persönlichen Voraussetzungen erfüllt, wenn ihre Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung erheblich gefährdet oder gemindert ist (Nr. 1) und wenn gleichzeitig gemäß Nr. 2 voraussichtlich eine der folgenden Alternativen vorliegt:
– bei erheblicher Gefährdung der Erwerbsfähigkeit eine Minderung der Erwerbsfähigkeit durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben abgewendet werden kann,
– bei geminderter Erwerbsfähigkeit diese durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben wesentlich gebessert oder wiederhergestellt oder hierdurch deren wesentliche Verschlechterung abgewendet werden kann, oder
– bei teilweiser Erwerbsminderung ohne Aussicht auf eine wesentliche Besserung der Erwerbsfähigkeit der Arbeitsplatz durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erhalten werden kann (§ 10 Abs. 1 SGB VI).
In Ermangelung eines vorhandenen Arbeitsplatzes scheidet die dritte Alternative offensichtlich aus.
Zutreffend hat die Klägerseite darauf verwiesen, dass eine Minderung der Erwerbsfähigkeit im Sinne von § 10 SGB VI nicht identisch ist mit der von § 43 SGB VI erfassten vollen oder teilweisen Erwerbsminderung. Auch in der Kommentarliteratur (z.B. Kater in: Kasseler Kommentar, Stand Juni 2015, § 10 SGB VI Rn 6) wird vertreten, dass hier eine niedrigere Schwelle maßgeblich ist. Es können auch schon qualitative Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit ausreichen, wenn sie nicht nur unwesentlich sind und die Berufsausübung behindern. Unter der hier genannten erheblichen Gefährdung der Erwerbsfähigkeit wird verstanden, dass in einer Zeit von bis zu drei Jahren absehbar eine Erwerbsminderung eintreten würde, wenn keine Gegenmaßnahmen erfolgen (vgl. Kater a.a.O. Rn. 7).
Anknüpfungspunkt ist regelmäßig die vor der Erkrankung und Antragstellung ausgeübte berufliche Tätigkeit. Der Kläger war zuletzt versicherungspflichtig als Saisonkraft in einer Straßenmeisterei beschäftigt. Der Senat konnte sich nicht davon überzeugen, dass der Kläger, der keine hierfür zielgerichtete Ausbildung durchlaufen hatte, tatsächlich Tätigkeiten eines Straßenwärters auf der Ebene des Facharbeiters verrichtet hat. Hinzu kommt, dass es sich um von vornherein befristete Beschäftigungen gehandelt hat, so dass ein dauerhafter Wechsel in diese Berufstätigkeit nicht angenommen werden konnte.
Die höchste Ausbildungsqualifikation innerhalb seines beruflichen Werdegangs hat der Kläger mit dem Erwerb des Meistertitels im Gartenbau erreicht gehabt. Auf dieser Qualifikationsebene war er aber tatsächlich nur extrem kurz berufstätig gewesen, so dass von einer Prägung der beruflichen Tätigkeit durch dieses Berufsbild keine Rede sein kann, wie schon das Sozialgericht ausführlich dargelegt hat. Auch ist es nicht so, dass die gesundheitlichen Einschränkungen des Klägers erst während der Ausübung dieses Berufes eingetreten wären, sondern sie hatten zum Zeitpunkt des Erwerbs des Meistertitels bereits in wesentlichem Umfang bestanden.
Die Tätigkeit als Facharbeiter im Garten- und Landschaftsbau hat der Kläger erlernt gehabt und im Anschluss auch ausgeübt gehabt. Allerdings erscheint dem Senat die Darstellung des Klägers, dass er in seinem gesamten Berufsleben weit überwiegend diese Facharbeitertätigkeit ausgeübt habe, überzogen. So enthält die vom Kläger gefertigte Aufstellung einerseits Unstimmigkeiten, worauf die Beklagte zu Recht hingewiesen hat.
Vor allem aber wird eine ganze Reihe von Tätigkeiten in jüngerer Zeit, die der Kläger diesem Berufsbild zurechnen will, weder von den Inhalten, noch vom erkennbaren Anforderungsprofil diesem Anspruch gerecht.
Dies kann zur Überzeugung des Senats letztlich aber dahingestellt bleiben, weil der Kläger schon 1993 den Beruf des Facharbeiters im Garten- und Landschaftsbau aus gesundheitlichen Gründen hatte aufgeben müssen und eine später dennoch unternommene Ausübung immer nur in Teilbereichen erfolgen konnte, mit erheblichen Arbeitsunfähigkeitszeiten verbunden war und letztlich auf Kosten der Restgesundheit erfolgt ist. Zwar war für die seinerzeit bewilligte Umschulung offensichtlich die Arbeitsmarktlage ein zentrales Kriterium gewesen, doch sind eben auch gesundheitliche Einschränkungen belegt, die sich dann als Vermittlungshemmnisse ausgewirkt haben dürften. Dem steht die Ablehnung des Vorliegens einer Berufskrankheit nicht entgegen, da dort ja wesentliches Merkmal die Kausalität der Verursachung der gesundheitlichen Einschränkungen durch die Berufstätigkeit gewesen ist. Mit der seinerzeit erfolgten Umschulung ist eine Berufung auf den zuvor ausgeübten und später nur noch teilweise und auf Kosten der Restgesundheit ausgeübten Beruf eines Facharbeiters im Garten- und Landschaftsbau ausgeschlossen.
Auch der Umschulungsberuf des Bürokaufmanns hat zur Überzeugung des Senats das Berufsleben des Klägers nicht geprägt. Entgegen Äußerungen, die von der Beklagtenseite und den von ihr beauftragten Ärzten getätigt wurden, hat es nach den vorliegenden Unterlagen keine längere und prägende Berufstätigkeit des Klägers in diesem Bereich gegeben. Im Übrigen wird zu Recht darauf hingewiesen, dass diese Tätigkeit mit dem aktuellen sozialmedizinischen Leistungsbild des Klägers vereinbar wäre. Auch bei den beruflichen Kenntnissen kann wohl noch von ausreichender Aktualität ausgegangen werden, da zwar die Umschulung selbst schon fast 25 Jahre zurückliegt, aber der Kläger vor einigen Jahren noch einmal nachqualifiziert worden ist, um für die aktuellen beruflichen Anforderungen an einen Bürokaufmann gerüstet zu sein. Unklar ist, ob die gegenteilige Äußerung der Dr. T. in Kenntnis dieser Nachqualifizierung abgegeben wurde oder nicht.
Das Sozialgericht hat aus Sicht des Senats zutreffend ausgeführt, dass der berufliche Werdegang des Klägers – wenn man von dem wie bereits dargestellt von vornherein ausgeschlossenen Beruf des Facharbeiters im Garten- und Landschaftsbau absieht – kein prägendes Berufsbild aufweist und die Beklagte die Notwendigkeit von Teilhabeleistungen für den Kläger somit zutreffend daran messen konnte, ob der Einsatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gefährdet oder bereits gemindert ist. Dies ist nach den vorliegenden Unterlagen zu Recht verneint worden, weshalb es an den erforderlichen persönlichen Voraussetzungen für die beantragte Teilhabeleistung mangelt.
Die Beklagte hatte als erstangegangener Leistungsträger, der den Antrag nicht weitergeleitet hatte, im Rahmen des § 14 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) den Rehabilitationsbedarf für die beantragten Teilhabeleistungen umfassend zu prüfen gehabt. Als weitere materielle Rechtsgrundlage könnten bei dem arbeitslosen Kläger grundsätzlich über § 16 Abs. 1 Satz 2 SGB II Vorschriften des Dritten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB III) – etwa §§ 81 oder 88 SGB III – in Betracht kommen. Die Beklagte hat sich dazu in ihren Bescheiden zwar nicht geäußert gehabt. Doch war der Kläger in der Zeit bis zur letzten Verwaltungsentscheidung noch nicht längere Zeit arbeitslos gewesen, so dass es an der Grundlage für einen derartigen Anspruch fehlte. Dies ist zwar zwischenzeitlich anders; gleichwohl lässt sich der Bedarf von Teilhabeleistungen im Gefolge der Arbeitslosigkeit auch aktuell nicht bestätigen. Das Jobcenter geht nämlich von gesundheitlichen Vermittlungshemmnissen im Beruf des Gärtnermeisters aus, die vorrangig zu beachten seien, während sich im vorliegenden Verfahren gezeigt hat, dass dies den falschen Maßstab darstellt. Vermittlungsbemühungen in den Bürobereich oder auf den allgemeinen Arbeitsmarkt sind bisher anscheinend noch nicht verstärkt unternommen worden, worauf die vorgelegten Eingliederungsvereinbarungen hindeuten.
Auf die Ausübung von Ermessen kam es in Anbetracht der fehlenden persönlichen Voraussetzungen beim Kläger nicht an. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch noch darauf, dass der Kläger formal zwar allgemein die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe beantragt hat, im Erörterungstermin aber klar zum Ausdruck gebracht hat, dass sein Interesse einzig auf eine Umschulungsmaßnahme zum Techniker abzielt, wobei die entsprechende Maßnahme aus Sicht des Klägers wegen des zeitlichen Abstands zu den früher schon einmal besuchten Ausbildungsabschnitten noch einmal vollständig durchlaufen werden müsste. Ohne dass es für die vorliegende Entscheidung rechtliche Bedeutung hätte, mag bezweifelt werden, ob in Anbetracht der Dauer der angestrebten Maßnahme und dem Alter des Klägers bei Abschluss der Maßnahme von einer positiven Prognose der Eingliederung des Klägers – quasi auf der Stufe eines Berufsanfängers – ausgegangen werden könnte.
Nach alledem war die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Nürnberg vom 05.01.2016 als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.


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