Sozialrecht

Nachhilfekosten und Pauschalbetrag für Vollzeit-Pflegekinder

Aktenzeichen  Au 3 K 20.834

Datum:
12.1.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 1792
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VIII § 39

 

Leitsatz

Für Pflegekinder in Vollzeitpflege außerhalb des Elternhauses deckt der monatliche Pauschalbetrag auch Nachhilfekosten von 15€/Monat als Bildungsbedarf ab. (Rn. 29 – 30) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.    Die Klage wird abgewiesen.
II.    Die Kosten des Verfahrens haben die Kläger gesamtschuldnerisch zu tragen.
III.    Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV.    Die Berufung wird zugelassen.

Gründe

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Die Kläger haben keinen Anspruch auf die Übernahme der Nachhilfekosten für ihr Pflegekind H. für den Zeitraum von September 2018 bis einschließlich Januar 2020 durch den Beklagten (§ 113 Abs. 5 VwGO).
I.
Die Klage ist zulässig. Die Kläger machen geltend, einen Anspruch auf Übernahme der Nachhilfekosten als Leistungen zum Unterhalt im Sinne des § 39 SGB VIII zu haben. Zur Geltendmachung eines solchen Anspruchs sind sie als Pflegeeltern, die auch Personensorgeberechtigte sind, selbst befugt.
II.
Die Klage ist unbegründet. Der geltend gemachte Anspruch ergibt sich aus § 39 SGB VIII nicht.
1. Wird – wie vorliegend für das Pflegekind der Kläger – Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII gewährt, so ist vom Träger der Jugendhilfe gemäß § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII auch der notwendige Unterhalt des Kindes oder Jugendlichen außerhalb des Elternhauses sicherzustellen. Er umfasst nach § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII die Kosten für den Sachaufwand sowie für die Pflege und Erziehung des Kindes oder Jugendlichen. Die Vorschrift des § 39 SGB VIII unterscheidet dabei zwischen laufenden Leistungen im Sinne des § 39 Abs. 2 i.V.m. Abs. 4 SGB VIII und einmaligen Beihilfen oder Zuschüssen nach § 39 Abs. 3 SGB VIII. Nach § 39 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII soll der gesamte regelmäßig wiederkehrende Bedarf durch laufende Leistungen gedeckt werden. Die Regelmäßigkeit ist dann gegeben, wenn der Bedarf periodisch auftritt, wobei er nicht etwa in jedem Monat auftreten muss (Tammen in Münder/Meysen/Trenczek, SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 39 Rn. 9). Nach § 39 Abs. 4 Satz 1 und 3 SGB VIII sollen die laufenden Leistungen auf der Grundlage der tatsächlichen Kosten in einem monatlichen Pauschalbetrag gewährt werden, soweit nicht nach der Besonderheit des Einzelfalls abweichende Leistungen geboten sind. Da alle regelmäßig wiederkehrenden Bedarfstatbestände durch laufende Leistungen abgedeckt werden, sind einmalige Leistungen im Sinne des § 39 Abs. 3 SGB VIII die Ausnahme (Schmid-Obkirchner in Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl. 2015, § 39 Rn. 25). Einmalige Leistungen beziehen sich nämlich auf nicht wiederkehrende Bedarfstatbestände. In Zweifelsfällen ist davon auszugehen, dass der entsprechende Bedarf zu den laufenden Leistungen zählt (Tammen in Münder/Meysen/Trenczek, SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 39 Rn. 15).
Die Kläger erhielten im streitgegenständlichen Zeitraum Pflegegeld als laufende Leistung in Form einer Pauschale in Höhe von zunächst 1.048,- EUR bzw. seit dem 1. Juli 2019 in Höhe von 1.348,- EUR. Ein darüber hinausgehender Anspruch auf Erstattung der Nachhilfekosten für das Fach Englisch im streitgegenständlichen Zeitraum ergibt sich weder aus § 39 Abs. 3 SGB VIII (2.) noch im Rahmen einer vom monatlichen Pauschalbetrag abweichenden Leistung im Sinne des § 39 Abs. 4 Satz 3 Halbs. 2 SGB VIII (3.).
2. Ein Anspruch auf Erstattung der Nachhilfekosten für das Fach Englisch ergibt sich nicht aus § 39 Abs. 3 SGB VIII.
Die Vorschrift stellt die Gewährung einmaliger Beihilfen oder Zuschüsse in das Ermessen des Jugendhilfeträgers. Diese einmaligen Leistungen decken Bedarfstatbestände ab, die nur einmal entstehen. (Stähr in Hauck/Noftz, SGB VIII, Stand 9/19, § 39 Rn. 18). Dieses Verständnis wird von den in der Vorschrift beispielhaft genannten Zwecken der einmaligen Beihilfen und Zuschüsse bestätigt, die sämtlich einmalige Sonderbedarfe benennen. Bei dem geltend gemachten Nachhilfeunterricht für fast eineinhalb Jahre handelt es sich offensichtlich nicht um einen einmaligen Bedarfstatbestand, sondern vielmehr um einen, der kontinuierlich in dem geltend gemachten Zeitraum Kosten für die wiederholt anfallenden Nachhilfestunden verursacht hat. Ob dies bei punktuell in Anspruch genommener Nachhilfe zum Bestehen einer einzelnen Prüfung möglicherweise anders zu sehen wäre, kann hier offen bleiben, da die in Anspruch genommene Nachhilfe nach dem eigenen Vortrag der Kläger gerade nicht solcher Art war, sondern vielmehr auf die langfristige Stabilisierung des Leistungsniveaus des Pflegekinds im Fach Englisch abzielte.
Soweit in der Literatur und Rechtsprechung Kosten für Nachhilfeunterricht teilweise den einmaligen Beihilfen und Zuschüssen im Sinne des § 39 Abs. 3 SGB VIII zugeordnet werden (Stähr in Hauck/Noftz, SGB VIII, Stand 9/19, § 39 Rn. 18; Fischer in Schellhorn/Fischer/Mann SGB VIII, 3. Auflage 2007, Rn. 8; nicht ganz eindeutig OVG Lüneburg, U.v. 28.7.1993 – 4 L 4683/92 – juris Rn. 32, 34), schließt sich die Kammer dem ausdrücklich nicht an. Insofern folgt die Kammer nicht der zugrundeliegenden Prämisse, zu den einmaligen Leistungen zählten auch Bedarfstatbestände, die im Vorhinein in ihrem Umfang nicht berechenbar sind. Denn einem solchen Verständnis steht schon der eindeutige Wortlaut des § 39 Abs. 3 SGB VIII entgegen, wonach diese Vorschrift nur einmalige Beihilfen oder Zuschüsse umfasst, was aber hier gerade nicht der Fall ist. Die Kosten für Nachhilfeunterricht sind auch nicht etwa deshalb aus systematischen Gründen den einmaligen Leistungen nach § 39 Abs. 3 SGB VIII zuzuordnen, weil sie nicht oder jedenfalls nicht in jedem Fall als durch den Pauschalbetrag nach § 39 Abs. 4 Satz 3 SGB VIII abgegolten angesehen werden könnten, (so OVG Lüneburg, U.v. 28.7.1993 – 4 L 4683/92 – juris Rn. 32; VG Göttingen, U.v. 24.2.2005 – 2 A 424/03 – juris Rn. 25). Denn wie sich aus § 39 Abs. 4 Satz 3 Halbs. 2 SGB VIII ausdrücklich ergibt, können auch im Rahmen der laufenden Leistungen nach den Besonderheiten des Einzelfalls von der Gewährung eines Pauschalbetrags abweichende Leistungen möglich und geboten sein. Handelt es sich bei den anfallenden Kosten für Nachhilfeunterricht daher wie im vorliegenden Fall nicht um einmalige, sondern regelmäßig wiederkehrende Bedarfstatbestände, kommt deren Erstattung daher nicht nach § 39 Abs. 3 SGB VIII in Betracht. Vielmehr ist in diesen Fällen zu prüfen, ob die hierfür anfallenden Kosten durch den monatlichen Pauschalbetrag bereits abgegolten sind, oder ob es sich um solche Bedarfe handelt, die wegen der Besonderheit des Einzelfalls zusätzlich zum monatlichen Pauschalbetrag zu gewähren sind.
3. Die Kläger haben keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten des Nachhilfeunterrichts für ihr Pflegekind im Fach Englisch im Rahmen einer vom monatlichen Pauschalbetrag abweichenden Leistung nach § 39 Abs. 4 Satz 3 Halbs. 2 SGB VIII.
Die nach § 39 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII zu gewährenden laufenden Leistungen sollen den gesamten regelmäßig wiederkehrenden Bedarf des Pflegekindes abdecken. Hierzu zählt grundsätzlich auch Bildungsbedarf (Tammen in Münder/Meysen/ Trenczek, SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 39 Rn. 10). Soweit davon ausgegangen wird, dass Nachhilfeunterricht deshalb nicht den regelmäßig wiederkehrenden Bedarfen zugeordnet werden könne, weil er nur in besonderen Einzelfällen notwendig sei und daher nicht bei vielen Hilfeempfängern gleichermaßen bestehe (so wohl OVG Lüneburg, U.v. 28.7.1993 – 4 L 4683/92 – juris Rn. 32), folgt die Kammer dem nicht. Dieser Aspekt betrifft nicht die Anwendbarkeit von § 39 Abs. 2 und 4 SGB VIII, sondern lediglich diejenige von § 39 Abs. 4 Satz 3 Halbs. 2 SGB VIII. Es geht hierbei um die Frage, ob die Aufwendungen für Nachhilfeunterricht bereits durch den monatlichen Pauschalbetrag, durch den die laufenden Leistungen gewährt werden, abgegolten sind oder ob es sich insoweit um eine neben dem Pauschalbetrag zu gewährende Leistung handelt. Nach der Regelung des § 39 Abs. 4 Satz 3 SGB VIII stellt der monatliche Pauschalbetrag den Regelfall dar. Davon abweichende – ergänzende – Leistungen sind demgegenüber nach dem ausdrücklichen Wortlaut nur in besonderen Einzelfällen geboten. Nachhilfeunterricht wird jedoch von vielen Schülern in Anspruch genommen, so dass er im Allgemeinen nicht unter § 39 Abs. 4 Satz 3 Halbs. 2 SGB VIII subsumiert werden kann. Eine Besonderheit des Einzelfalls in diesem Sinne kann sich allerdings in quantitativer und/oder qualitativer Hinsicht aus den Umständen des Falls ergeben.
Hier liegen solche besonderen Umstände weder in quantitativer noch qualitativer Hinsicht vor. Denn zum einen stellen die tatsächlich angefallenen Kosten von monatlich durchschnittlich ca. 15 EUR keinen Betrag dar, von dem anzunehmen wäre, dass er nicht schon mit der Pauschale in Höhe von zunächst 1.048 EUR bzw. später 1.348 EUR abgeholten sein soll. Es handelt sich lediglich um einen kleinen Bruchteil der pauschal gewährten Leistung, sodass davon auszugehen ist, dass dieser Betrag auch unter Berücksichtigung der übrigen anfallenden Kosten gut aus der Pauschale zu bestreiten ist (zu ähnlich geringfügigen Beträgen für Vereinsmitgliedschaften VG Göttingen, U.v. 24.2.2005 – 2 A 424/03 – juris Rn. 25). Aber auch in qualitativer Hinsicht bestehen keine Besonderheiten, die für die Übernahme der Nachhilfekosten neben dem Pauschalbetrag sprechen könnten. Entscheidend für das Vorliegen einer Besonderheit im Einzelfall ist, ob der spezifische Bedarf des Kindes oder Jugendlichen erhöht ist (Tammen in Münder/Meysen/Trenczek, SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 39 Rn. 20). Dies ist im Hinblick auf Nachhilfeunterricht dann anzunehmen, wenn der Nachhilfeunterricht im Einzelfall erforderlich ist, weil das schulische Weiterkommen – d.h. entweder das Erreichen des Klassenziels oder eines möglichen höherwertigen Schulabschlusses – ohne diese Hilfe ernsthaft gefährdet wäre (OVG Lüneburg, U.v. 28.7.1993 – 4 L 4683/92 – juris Rn. 27). Diese Voraussetzungen lagen im Fall des Pflegekindes der Kläger nicht vor. Nach den vorgelegten Zeugnissen war im streitgegenständlichen Zeitraum die Versetzung der Schülerin nicht wegen ihrer Leistungen im Fach Englisch gefährdet. Vielmehr erzielte sie während der gesamten Zeit im Fach Englisch befriedigende (Note 3) Leistungen (vgl. Jahreszeugnis 2018, Zwischenbericht 2019, Jahreszeugnis 2019, Zwischenbericht 2020). Eine Gefährdung der Versetzung zeigt auch die Stellungnahme der Lehrerinnen des Pflegekindes vom 15. November 2019 nicht. Dass diese ohne Vorliegen einer Versetzungsgefährdung eine kontinuierliche Unterstützung befürworten, genügt nicht, um einen Anspruch auf Übernahme der Nachhilfekosten zu begründen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den vorgelegten ärztlichen Äußerungen, insbesondere der fachärztlich-psychologischen Stellungnahme vom 10. April 2019 mit der Diagnose einer Lese- und Rechtschreibstörung (Legasthenie). Denn darin werden lediglich verschiedene schulische Maßnahmen, insbesondere Notenschutz und Nachteilsausgleich empfohlen, die dem Pflegekind seitens der Schule auch gewährt wurden.
III.
Der Ausspruch über die Kosten ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 VwGO i.V. m. §§ 708 ff. ZPO.
IV.
Die Berufung war zuzulassen, da die Rechtsache im Hinblick auf die Klärung der Frage, ob Nachhilfekosten den einmaligen Beihilfen und Zuschüssen im Sinne des § 39 Abs. 3 SGB VIII zuzuordnen sind oder ob ihre Gewährung allenfalls im Rahmen von § 39 Abs. 4 Satz 3 Halbs. 2 SGB VIII in Frage kommt, grundsätzliche Bedeutung aufweist.


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