Sozialrecht

Nachweis einer unfallbedingten Halswirbelbeschleunigungsverletzung Grad I

Aktenzeichen  125 C 1248/15

Datum:
6.7.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 159396
Gerichtsart:
AG
Gerichtsort:
Aschaffenburg
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
ZPO § 286 Abs. 1, § 287
StVG § 7 Abs. 1, § 17 Abs. 1, Abs. 2, § 18 Abs. 1
BGB §§ 249 ff., § 253
VVG § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1

 

Leitsatz

Allein die Feststellung des medizinischen Sachverständigen, dass ein objektiver Nachweis einer unfallbedingten Halswirbelbeschleunigungsverletzung Grad I nicht möglich ist, führt nicht dazu, dass der Vollbeweis einer derartigen Verletzung iSv § 286 Abs. 1 ZPO durch den Geschädigten nicht erbracht werden kann (unter Hinweis auf BGH BeckRS 2003, 2123). (Rn. 35) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 1.390,16 € sowie weitere 413,54 € zu zahlen, jeweils zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 13.08.2015.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Von den Kosten des Rechtsstreits haben der Kläger 63 % und die Beklagten als Gesamtschuldner 37 % zu tragen.

Gründe

Die zulässige Klage ist teilweise begründet, im Übrigen jedoch nicht begründet.
Dem Kläger stehen Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche gegen die Beklagten aufgrund des streitgegenständlichen Verkehrsunfalls gemäß §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG, § 115 Abs. 1 VVG, §§ 249 ff., 253 BGB zu.
1. Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass der Beklagte zu 1) die Vorfahrt des Klägers verletzt hat. Mithin steht eine grundsätzlich Eintrittspflicht des Beklagten zu 1) gemäß §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1 und 2, 18 Abs. 1 StVG unter Abwägung der Verursachungsbeiträge in voller Höhe fest und mithin auch die Haftung der Beklagten zu 2) als Haftpflichtversicherer gemäß § 115 Abs. 1 VVG.
2. Dementsprechend haften die Beklagten dem Kläger auch für die Kosten der Sachverständigenbegutachtung durch den Sachverständigen … in Höhe von 504,56 €. Dieser Betrag war erforderlich zur Schadensermittlung und -behebung. Es ist nicht ersichtlich, dass dieser Betrag – für den Kläger erkennbar – deutlich überhöht ist; hierzu ist auch nichts dargelegt worden.
Weiter steht dem Kläger – wie allgemein anerkannt ist – eine Schadenspauschale zu, die nach der bei dem hiesigen Gericht üblichen Praxis mit 25,00 € angemessen und zutreffend bemessen ist.
3. Das Gericht ist nach Durchführung der Beweisaufnahme auch hinreichend davon überzeugt, dass der Kläger durch den verfahrensgegenstänalichen Verkehrsunfall einen Personenschaden erlitten hat. Allerdings hat der Kläger nicht den vollen Umfang des von ihm behaupteten Personenschaden darlegen und beweisen können.
Im Einzelnen:
a) Das Gericht ist nach Durchführung der Beweisaufnahme ausreichend gemäß § 286 ZPO davon überzeugt, dass der Kläger aufgrund des Verkehrsunfalls eine Halswirbelsäulenbeschleunigungsverletzung Grad i erlitten hat, mithin die von ihm behaupteten Kopfschmerzen und Schwindel. Nicht hinreichend nachgewiesen ist dagegen für das Gericht, dass der Kläger eine „segmentale Gelenkfunktionsstörung“ sowie ein „HWS-/BWS-/LWS-Syndrom“ erlitten hat.
Das Gericht kommt zu dieser Überzeugung aufgrund des schriftlichen Sachverständigengutachtens des bestellten Sachverständigen Prof. Dr. … und den mündlichen Erläuterungen des weiteren bestellten Sachverständigen ….
Der Sachverständige Prof. Dr. … hat in seinem Gutachten für das Gericht nachvollziehbar zunächst einmal die Klassifizierung von Halswirbelsäulenbeschleunigungsverletzungen in Anlehnung an die Quebec-Task-Force, modifiziert nach Spitzer et al., dargelegt.
Der Sachverständige Prof. Dr. … kommt dann aufgrund der ihm vorgelegten Unterlagen und der durchgeführten Untersuchung zu dem Schluss, dass bei dem Kläger eine Halswirbelbeschleunigungsverletzung nach Grad I vorgelegen habe. Dieser Schweregrad wird beschrieben als „Beschwerden wie Nackenschmerzen und/oder Nackensteife, Schmerzenempfindungen“.
Der Sachverständige Prof. Dr. … stützt sich dabei in seinem schriftlichen Gutachten insbesondere auf den schriftlichen Befund des Dr. … vom 27.03.2015, in dem hauptsächlich subjektive Beschwerden des Klägers erwähnt sind, nämlich Kopfschmerzen sowie paravertebra…e muskuläre Schmerzen im Nackenbereich und leichter Schwindel. Er legt dort weiter dar, es entspräche einer pathophysiologischen gesicherten Erkenntnis, dass eine nicht strukturelle Läsion (Zerrung, Prellung, Stauchung, Erschütterung, etc.) vorübergehende Beschwerden wie z.B. Dehnungsschmerz verursachen und bei gezerrter Muskulatur auch mit schmerzreflektorisch verminderter Beweglichkeit einhergehen könne. In seinem Ergänzungsgutachten vom 27.02.2017 führt der Sachverständige Prof. Dr. … aus, dass es sich um ein subjektives Beschwerdebild handele, dieses jedoch entsprechend dokumentiert sei. Ein objektiver Nachweis mittels MRT oder Röntgenbild sei letztlich diesbezüglich nicht möglich.
In dem Beweistermin vom 29.05.2017 wurde der weitere bestellte Sachverständige …, der bei der Erstellung des Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. … mitgewirkt hat, eingehend ergänzt befragt. Dem Sachverständigen … wurde insbesondere vorgehalten, dass der Sachverständige … in seinem Gutachten bezüglich der biomechanischen Belastungswerte eine Differenzgeschwindigkeit von lediglich 5 km/h festgestellt habe.
Der Sachverständige … verwies insofern auf die Darstellung im schriftlichen Gutachten, das auch eine nicht strukturelle Läsion entsprechende Beschwerden verursachen könne, die dann nach einigen Tagen oder einigen Wochen abklängen. Er legte weiter dar, dass eine Abgrenzung von „ausgedachten“ Beschwerden nicht einfach sei, er jedoch nach seiner Erfahrung davon ausgehe, dass die behaupteten Beschwerden beim Kläger tatsächlich vorlagen. Er erläuterte weiter, dass Schmerzen letztlich nicht messbar und objektivierbar seien; auch Schmerzskalen basierten auf subjektiven Einschätzungen. Er gehe weiter davon aus, dass der Kläger nicht ohne Grund zum Arzt gegangen sei und dort subjektive Beschwerden angegeben habe.
Weiter führte der Sachverständige K. aus, dass nach vorliegenden Studien eine abrupte Geschwindigkeitsänderung mit dem Kfz im angeschnallten Zustand in aller Regel, ganz überwiegend wahrscheinlich, zu einem gewissen Trauma durch Steilstellung der Halswirbelsäule führe, und zwar auch bei niedrigen Geschwindigkeiten. Ob es dadurch zu Beschwerden bei den Betroffenen käme, hinge vom Einzelfall ab. Studien dazu, wie wahrscheinlich es sei, dass es bei einer Differenzgeschwindigkeit unter 10 km/h sei zu Beschwerden käme, lägen nicht vor.
b) Das Gericht hält insgesamt die Darstellungen und Überlegungen der beiden medizinischen Sachverständigen für nachvollziehbar und zutreffend. Letztlich ergibt sich aus den gutachterlichen Erläuterungen, dass ein objektiver Nachweis eine Halswirbelbeschleunigungsverletzung Grad I nach der dargelegten Skala nicht möglich ist. Dies kann jedoch für das Gericht – entgegen der Ansicht der Beklagten – nicht dazu führen, dass der Vollbeweis im Sinne des § 286 ZPO nicht erbracht werden kann. Dies entnimmt das Gericht auch der höchstgerichtlichen Rechtssprechung (vgl. BGH, Urteil vom 28.01.2003 – VI ZR 139/02, NJW 2003, 1116).
Das Gericht hat daher die gutachterlichen Feststellungen sowie alle Umstände des Einzelfalles berücksichtigt und aufgrund dessen die Überzeugung erlangt, dass der darlegten Personenschaden beim Kläger eingetreten ist. Für das Gericht ist insofern insbesondere maßgeblich, dass der Kläger insgesamt vier Mal sich in ärztliche Behandlung begeben hat und zusätzlich sich zwei Mal Krankengymnastik hat verordnen lassen mit jeweils 6 Einheiten, mithin insgesamt 12 Behandlungen, und diese auch wahrgenommen hat.
Das Gericht hält es für höchst unwahrscheinlich, dass der Kläger im Hinblick auf „ausgedachte“ Beschwerden einen derart hohen Aufwand betreiben würde.
Gleichzeitig liegen keine Anhaltspunkte dafür da, dass der Kläger vor dem streitgegenständlichen Unfall bereits akute behandlungsbedürftige Beschwerden hatte. In seiner persönlichen informatorischen Anhörung hat der Kläger dies glaubhaft verneint.
c) Nachvollziehbar hat der Sachverständige Prof. Dr. … seinem schriftlichen Gutachten jedoch dargelegt, dass eine Halswirbelbeschleunigungsverletzung Grad II – das heißt „Grad I plus objektive muskuloskelettale Befunde, wie z.B. Bewegungseinschränkung, Druckschmerzempfindlichkeit oder Blockaden“ und mithin die Diagnose einer „segmentalen Gelenkfunktionsstörung“ sowie „HWS-/BWS-/LWS-Syndrom“ nicht hinreichend nachvollziehbar sei. Der Sachverständige Prof. Dr. … hat erläutert, dass sich aus den ärztlichen Unterlagen die – erforderlichen – objektiven Anhaltspunkte für eine solche Verletzung nicht ergäben. Insbesondere die erforderlichen 3-Schritt-Diagnostik sei nicht durchgeführt worden. Der Sachverständige … hat dies in seiner mündlichen Erläuterung bestätigt. Das Gericht hält diese Darlegungen für insgesamt nachvollziehbar und überzeugend.
d) Vor dem Hintergrund des eingetretenen Personenschadens sind daher die vom Kläger getätigten Aufwendungen für Zuzahlung zu den wahrgenommenen Krankengymnastik-Terminen in Höhe von insgesamt 43,60 € voll erstattungsfähig.
e) Weiter steht dem Kläger dementsprechend auch ein Anspruch auf Provisionsausfall zu.
Der Sachverständige … hat – vom Gericht befragt – angegeben, dass die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit bei einem Personenschaden gemäß Grad I, also gemäß seiner Einstufung, im Einzelnen eine schwierige Frage sei. Es hänge auf jeden Fall von dem Beruf des Betroffenen ab. Bei einer mit vielen Autofahrten verbundenen Tätigkeit halte er es für denkbar, dass es noch Probleme mit Nackensteifigkeit, Kopfschmerzen und Schwindel geben könnte. Auch diese Feststellungen waren für das Gericht nachvollziehbar.
Der Kläger hat – informatorisch angehört – angegeben, er sei als Vertriebsmitarbeiter tätig und mithin viel mit dem Kfz unterwegs. Dies wird bestätigt durch vorgelegte Entgeltnachweise. Daher erscheint es für das Gericht nachvollziehbar, dass der Kläger arbeitsunfähig war und mithin die ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbeschenigungen zugrundezulegen sind.
Diese Bescheinigungen beziehen sich auf den Zeitraum 26.03.2015 bis 17.04.2015, also einen Zeitraum von 22 Tagen, mithin 16 Arbeitstagen.
Der Kläger hat jedoch den von ihm geltend gemachten Provisionsausfallschaden in Höhe von 1.162,56 € nicht hinreichend dargelegt. Das Gericht setzt stattdessen im Wege der richterlichen Schadensfestsetzung gemäß § 287 ZPO ein Betrag von 550,00 € fest:
Festzuhalten ist erst einmal, dass der Kläger zwar ausreichend Nachweise für die an ihn in den elf vorangehenden Monaten ausgezahlte monatliche Provision eingereicht hat. Diesen Zeitraum hält das Gericht auch für ausreichend und aussagekräftig, da Provisionserlöse sich gerichtsbekannt unterschiedlich entwickeln und ein Abstellen auf möglichst aktueller Werte sinnvoll erscheint. Konkret kommt hinzu, dass der Kläger erst seit 01.10.2013 bei seinem damaligen Arbeitgeber beschäftigt war und aus Sicht des Gericht jedenfalls der Zeitraum des ersten halben Jahres nach Arbeitsbeginn für die Provisionserlöse aufgrund der erforderlichen Einarbeitung nicht als aussagekräftig erscheint.
Daher ist nach Auffassung des Gerichts zutreffend auf den belegten Zeitraum abzustellen. Allerdings hat der Kläger in seiner Berechnung für den Monat Oktober 2014 zu Unrecht einen positiven Betrag von 576,78 € eingestellt: tatsächlich war ein Betrag von 59,28 € negativ anzusetzen.
Es ergibt sich mithin eine Gesamtprovision für die genannten 11 Monate von 15.329,04 €. mithin monatlich 1.393,55 €. Bei einem durchschnittlichen Ansatz von 21 Arbeitstagen im Monat ergibt sich damit auf 16 Arbeitstage gerechnet ein Betrag von 1.061,75 €.
Dieser Betrag ist jedoch nach Auffassung des Gerichts jedenfalls nicht voll anzusetzen. Es ist zu berücksichtigen, dass Termine, die zum Abschluss einer Provision führen können, auch verlegt und zu späteren Zeiten komprimiert wahrgenommen werden können. Der Kläger hat auf diesen gerichtlichen Hinweis auch nichts Gegenteiliges dargelegt. Angesichts des jedoch erheblichen Ausfallzeitraums geht das Gericht gleichzeitig davon aus, dass ein erheblicher Anteil von Terminen nicht ohne weiteres umgelegt werden konnte. Insgesamt hält das Gericht im Wege der richterlichen Schadensschätzung daher einen Ansatz von etwa 50 % und mithin einen Betrag von aufgerundet 550,00 € für angemessen.
f) Weiter steht dem Kläger aufgrund der erlittenen Verletzungen gemäß § 253 BGB ein Schmerzensgeld zu.
Das Gericht berücksichtigt hierbei die erfolgte Arbeitsunfähigkeit in einem Zeitraum von 22 Tagen und die Erforderlichkeit von 4 ärztlichen Untersuchungen und 12 Behandlungsterminen mit Krankengymnastik. Das Gericht hält unter Berücksichtigung der nachgewiesenen Verletzungsfolge insgesamt einen Schmerzensgeld von 750,00 € für angemessen.
g) Dem Kläger stehen daher Ansprüche von 1.597,48 € für Reparatur. 504,56 € für die Kosten des Sachverständigen, 25 € Kostenpauschale, 43,60 € Zuzahlung für Heilbehandlung, 550 € für Provisionsausfall und 750 € für Schmerzensgeld, somit insgesamt 3.470,64 € zu. Geleistet darauf wurden 2.080,48 €, so dass insgesamt 1.390,16 € auszuurteilen waren.
4. Der Kläger hat einen Anspruch auf Verzinsung der ausgeurteilten Beträge gemäß §§ 286 Abs. 1, 288, 291 ZPO.
5. Weiter hat der Kläger auch einen Anspruch auf Ersatz vorgerichtlicher Recbtsanwaltskosten.
Aus dem insgesamt dem Kläger zustehenden Schadenersatz inklusive Reparaturkosten und Schmerzensgeld in Höhe von 3.470,64 € ergibt sich unter Ansatz einer 1,3 Gebühr einer Nebenkostenpauschale und der gesetzlichen Umsatzsteuer ein ersatzfähiger Betrag von 413,64 €.
Entgegen der Auffassung des Klägers ist dabei eine 1,3 Gebühr anzusetzen. Nach der Rechtsprechung des BGH (NJW-R 2013, 2020) ist an eine Erhöhung gegenüber der Regelgebühr von 1,3 nur bei Darlegung besonderer Schwierigkeit und besonderem Aufwandes angemessen; hierfür fehlt es am entsprechenden Sachvortrag.


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