Sozialrecht

Pflegeversicherung: Zu den Voraussetzungen der Verhinderungspflege

Aktenzeichen  L 4 P 21/19

Datum:
10.6.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 27232
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB XI § 39

 

Leitsatz

1. Ein Anspruch auf Leistungen der Verhinderungspflege setzt Kosten voraus, die gerade deshalb angefallen sind, weil während eines Verhinderungsfalls Ersatzpflege notwendig war. (Rn. 29)
2. Daran fehlt es, wenn eine erwerbsmäßig tätige Pflegeperson nicht nur während einer vorübergehenden Abwesenheit einer/-s pflegenden Angehörigen, sondern dauerhaft tätig ist und hierfür Kosten in gleich bleibender Höhe anfallen. (Rn. 29)
Eine Selbstbindung aufgrund einer früheren Verwaltungspraxis kann nur im Rahmen eines der Verwaltung eingeräumten Beurteilungsspielraums oder Ermessens eintreten. Im Widerspruch zu zwingenden gesetzlichen Vorgaben kann keine Selbstbindung der Verwaltung entstehen; einen aus Art. 3 Abs. 1 GG abzuleitenden Anspruch auf „Gleichbehandlung im Unrecht“ gibt es nicht. (Rn. 36) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 9 P 24/18 2019-03-07 SGWUERZBURG SG Würzburg

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 7. März 2019 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, weil die Beteiligten sich mit Schreiben vom 12.05.2020 und vom 25.05.2020 hiermit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 SGG).
Die Berufung ist zulässig; insbesondere ist sie ohne Zulassung statthaft (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG) und wurde form- und fristgerecht eingelegt (§ 151 SGG).
Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das SG hat die Klage zutreffend abgewiesen. Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG) zulässig, aber nicht begründet.
Streitgegenstand sind die für das Jahr 2017 geltend gemachten Ansprüche auf Leistungen der Verhinderungspflege einschließlich der nicht in Anspruch genommenen Mittel der Kurzzeitpflege, die mit Bescheid vom 19.10.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.01.2018 abgelehnt wurden.
Nicht Streitgegenstand sind dagegen für das Jahr 2018 geltend gemachte entsprechende Leistungen, die mit Bescheid vom 05.09.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.04.2019 abgelehnt wurden. Die Klägerin hat insoweit nach Erlass des Widerspruchsbescheides eine weitere Klage zum SG erhoben; im Hinblick darauf verfolgt sie dieses Rechtsschutzziel im vorliegenden Berufungsverfahren nicht weiter. Sie hat damit das Berufungsverfahren hinsichtlich der für das Jahr 2018 begehrten Leistungen für erledigt erklärt, weil sie diese Ansprüche im noch offenen Klageverfahren beim SG verfolgt.
Für das Jahr 2017 stehen der Klägerin die geltend gemachten Ansprüche nicht zu.
1. Die Voraussetzungen von § 39 Abs. 1 SGB XI liegen nicht vor. Die seit 01.01.2017 unveränderte Vorschrift lautet wie folgt:
„(1) Ist eine Pflegeperson wegen Erholungsurlaubs, Krankheit oder aus anderen Gründen an der Pflege gehindert, übernimmt die Pflegekasse die nachgewiesenen Kosten einer notwendigen Ersatzpflege für längstens sechs Wochen je Kalenderjahr; § 34 Absatz 2 Satz 1 gilt nicht. Voraussetzung ist, dass die Pflegeperson den Pflegebedürftigen vor der erstmaligen Verhinderung mindestens sechs Monate in seiner häuslichen Umgebung gepflegt hat und der Pflegebedürftige zum Zeitpunkt der Verhinderung mindestens in Pflegegrad 2 eingestuft ist. Die Aufwendungen der Pflegekasse können sich im Kalenderjahr auf bis zu 1.612 Euro belaufen, wenn die Ersatzpflege durch andere Pflegepersonen sichergestellt wird als solche, die mit dem Pflegebedürftigen bis zum zweiten Grade verwandt oder verschwägert sind oder die mit ihm in häuslicher Gemeinschaft leben.“
Ein Anspruch der Klägerin scheitert daran, dass „Kosten für eine notwendige Ersatzpflege“ nicht angefallen sind. Es muss sich hierbei um Kosten handeln, die gerade deshalb angefallen sind, weil während eines Verhinderungsfalls Ersatzpflege notwendig war. Eine solche Kausalität kann vorliegend nicht festgestellt werden. Die Pflegekosten, die für die streitgegenständlichen Zeiträume 06.03.2017 bis 19.03.2017, 29.05.2017 bis 11.06.2017 und 15.09.2017 bis 28.09.2017 angefallen sind, wären in derselben Höhe angefallen, wenn der Ehemann der Klägerin in diesen Zeiten nicht abwesend gewesen wäre. Der Zahlbetrag an die Firma, die mit der Vermittlung der polnischen Pflegekräfte beauftragt war, war in den betreffenden Zeiträumen nicht höher als in den anderen Monaten des Jahres 2017. Es wurde durchgehend ein Tagessatz in Höhe von 70,- Euro pro Pflegetag in Rechnung gestellt. Hiervon ist der Senat überzeugt auf Grund der Aussage des Ehemannes der Klägerin im Erörterungstermin vor dem SG am 08.11.2018.
Dies ist auch folgerichtig, denn die polnische Pflegekraft hatte auf Grund der zeitweiligen Abwesenheit des Ehemanns der Klägerin allenfalls in geringfügigem Maße zusätzliche Arbeit, für die sie eine Entlohnung beanspruchen könnte. Die Klägerin hat selbst vorgetragen, ihr Ehemann habe in der Zeit vor und nach seinem Urlaub in größerem Umfang als sonst pflegerische Tätigkeiten übernommen und der polnischen Pflegekraft mehr Freizeit ermöglicht, was diese dann dadurch ausgeglichen habe, dass sie während seines Urlaubs die Pflege allein sichergestellt habe.
Ein Anspruch auf Leistungen der Verhinderungspflege kommt unter diesen Umständen nicht in Betracht.
2. Auch ein Anspruch auf Leistungen aus Mitteln der Kurzzeitpflege (§ 39 Abs. 2 SGB XI) besteht nicht. Die seit 01.01.2017 unveränderte Vorschrift lautet:
(2) Der Leistungsbetrag nach Absatz 1 Satz 3 kann um bis zu 806 Euro aus noch nicht in Anspruch genommenen Mitteln der Kurzzeitpflege nach § 42 Absatz 2 Satz 2 auf insgesamt bis zu 2.418 Euro im Kalenderjahr erhöht werden. Der für die Verhinderungspflege in Anspruch genommene Erhöhungsbetrag wird auf den Leistungsbetrag für eine Kurzzeitpflege nach § 42 Absatz 2 Satz 2 angerechnet.
Es handelt sich also um eine Erhöhung des Leistungsbetrages; dabei wird ein Anspruch nach § 39 Abs. 1 SGB XI dem Grunde nach vorausgesetzt. Da ein solcher gerade fehlt, kommt der akzessorische Anspruch aus § 39 Abs. 2 SGB XI nicht zum Tragen.
3. Die Klägerin kann die streitgegenständlichen Ansprüche nicht auf den Umstand stützen, dass die Beklagte – wie die Klägerin vorträgt – entsprechende Leistungen für das Kalenderjahr 2016 gewährt hat. Insbesondere kann sich die Klägerin nicht auf eine Selbstbindung der Verwaltung berufen.
Eine Selbstbindung aufgrund einer früheren Verwaltungspraxis kann nur im Rahmen eines der Verwaltung eingeräumten Beurteilungsspielraums oder Ermessens eintreten. Im Widerspruch zu zwingenden gesetzlichen Vorgaben kann keine Selbstbindung der Verwaltung entstehen; einen aus Art. 3 Abs. 1 GG abzuleitenden Anspruch auf „Gleichbehandlung im Unrecht“ gibt es nicht (BSG, Urteil vom 19.09.2019, B 12 R 25/18 R, Rn. 28 m.w.N.).
Vorliegend hätte die Beklagte, soweit sie bei gleichgelagertem Sachverhalt Leistungen der streitgegenständlichen Art für das Kalenderjahr 2016 bewilligt hat, gegen zwingende gesetzliche Vorgaben verstoßen (s.o.). Damit scheidet ein Anspruch unter dem Gesichtspunkt der Selbstbindung aus.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe zur Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.


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